Gespräche mit Journalisten führen nahöstliche Kirchenführer in der Regel in diplomatisch abgeklärtem Tonfall. Doch der ändert sich schlagartig, sobald die Frage nach evangelikalen Christen in ihrem Bezirk gestellt wird. Je nach Situation und Vertraulichkeit reichen die Reaktionen von sichtbarem Unmut bis zu unflätigen Ausdrücken. Hört eine größere Öffentlichkeit zu, ist die Antwort meist eisiges Schweigen, als sei die Frage nie gestellt worden, als gäbe es das Thema und damit evangelikale Christen gar nicht. Es dürfte der heimliche Traum vieler nahöstlicher Patriarchen, Bischöfe, Priester und Pfarrer sein, die evangelikale Bewegung hätte es nie gegeben, vor allem nicht in ihrer Heimat.
Nun gibt es im Nahen Osten aber wie überall auf der Welt evangelikale Gemeinden – und auch hier haben sie Zulauf. Der ist nicht so stark wie in Südamerika oder Afrika, von Megakirchen kann also keine Rede sein. In die evangelikalen Gemeinden, die sich in den letzten Jahrzehnten zwischen Euphrat und Atlantik gebildet haben, gehen vielleicht hundert, manchmal auch mehrere Hundert Menschen zum Gottesdienst. Offizielle Zahlen gibt es nicht, weil Religionszugehörigkeit ein Politikum ist.
Doch auch die kleine Zahl evangelikaler Christen reicht, um die gesamte nahöstliche Ökumene in Unruhe zu versetzen. Der große Vorwurf der traditionellen an die evangelikalen Kirchen lautet „sheep steeling“, also das gezielte Abwerben von Mitgliedern der eigenen Kirche. In einer Zeit, in der die Kirchen im Nahen Osten sowieso erheblich unter Druck stehen, wollen sie ihre Reihen nicht auch noch von Wilderern im Namen Jesu ausgelichtet sehen. Kriege und Krisen haben in den letzten Jahren bereits Hunderttausende Christen zur Flucht gezwungen. Von den 1,5 Millionen Christen, die vor dem Einmarsch der Amerikaner und dem Fall Saddam Husseins 2003 im Irak gelebt haben, sind heute noch schätzungsweise 250.000 übrig. Und in Syrien, wo vor dem Krieg die Christen etwa zehn Prozent der Bevölkerung ausmachten, stellen sie heute allenfalls noch fünf Prozent. Die Kirchen im Nahen Osten fühlen sich in ihrer Existenz bedroht.
Evangelikalen ist der christliche Missionsauftrag wichtiger als ihre Sicherheit
Zumal es einen Punkt gibt, an dem die evangelikalen Kirchen den Christen insgesamt richtig gefährlich werden können. Und zwar, wenn es um die Missionierung unter Muslimen geht. Unter den angestammten Kirchen gibt es seit den 1970er Jahren eine Vereinbarung, dass keiner unter Muslimen aktiv für die Taufe wirbt. Sollte sich dennoch ein Muslim von der Lebensweise der Christen und ihrem Glauben angezogen fühlen, wie es in den letzten Jahren vermehrt der Fall war, so wird damit sehr diskret umgegangen. Getauft wird im Geheimen, gerade auch zum Schutze des Konversionswilligen. Denn im Islam ist die Abkehr vom Islam nicht vorgesehen. Wer dennoch konvertiert, muss vor allem in Afghanistan, Iran, Pakistan, Saudi-Arabien oder Katar mit schlimmen Konsequenzen, nicht selten sogar mit dem Tod rechnen. Und wer unter Muslimen missioniert, muss ebenfalls schlimme Folgen fürchten: Sie können von Drohungen über Kirchenschändung bis hin zum Mord an Christen reichen.
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Die evangelikalen Gemeinden sind den Kirchen auch noch in anderer Hinsicht ein Dorn im Auge. Diese Gemeinden haben vor allem deswegen Zulauf aus anderen Kirchen, weil die Menschen bei ihnen etwas finden, was sie in ihren Heimatkirchen vermissen: offene Strukturen, flache Hierarchien, lockere Formen und fröhliche Lieder. Hinzu kommt eine am Alltag der Menschen orientierte Auslegung der Bibel und das ungebrochene Selbstbewusstsein, als Erweckte auf dem einzig richtigen Weg zu sein. Das ist in einem muslimischen Umfeld, das zum Großteil davon überzeugt ist, dass der Islam die einzige Lösung ist, ein wichtiger Punkt.
Anerkannte Kirchen regeln auch die familienrechtlichen Angelegenheiten
So überzeugt die evangelikalen Christen von ihrer Interpretation des Glaubens aber sein mögen: Von den einheimischen Kirchen werden sie als Häretiker angesehen, als keine „echten“ Christen, als Scharlatane, die es sich zu einfach machen. Über 2000 Jahre haben die orientalischen und orthodoxen Kirchen die christliche Präsenz in der Ursprungsregion des christlichen Glaubens aufrechterhalten, um die 1500 Jahre gegen den Konversionsdruck einer muslimischen Herrscherelite und gegenüber der muslimischen Mehrheitsgesellschaft. Die Stärke dafür zogen sie unter anderem aus einer Tradition, die bis in die Anfänge des Christentums zurückreicht. Diese Einbindung in eine große Geschichte macht Wesen und Identität der orientalischen, orthodoxen und katholischen Kirchen im Nahen Osten aus. Und dann kommen nun evangelikale Prediger, werfen alle liturgischen Zwänge über Bord und wollen ihnen unter den Gläubigen den Rang ablaufen!
Doch so einfach ist es auch nicht. Denn Kirchen sind im Nahen Osten nicht nur Institutionen, die sich um das Seelenheil ihrer Mitglieder kümmern und Gottesdienst feiern. Sie registrieren und regeln auch alle familienrechtlichen Angelegenheiten wie Ehe, Scheidung, Tod und Erbschaft. Diese kirchliche Familiengerichtsbarkeit ist ein Überbleibsel aus der Zeit des Osmanischen Reiches, das in allen seinen Provinzen diese Fragen jeder Religionsgemeinschaft selbst überließ. So gilt bis heute: Wer heiraten will, kann dies nur vor einem Imam oder einem Priester tun. Sie registrieren die Ehe offiziell in ihren jeweiligen Büchern. Die staatlichen Behörden erkennen dies an und kümmern sich nicht weiter darum. Eine zivile Eheschließung auf dem Standesamt gibt es bis heute im ganzen Nahen Osten nicht.
Auch scheiden lassen kann sich bis heute nur, wessen Religion dies überhaupt vorsieht. Für Muslime ist das kein Problem, für orientalische, orthodoxe und katholische Christen aber sehr wohl. Dass dies für manchen Christen schon ein Grund war, zum Islam zu konvertieren, ist ein offenes Geheimnis. Kommt es zu Erbstreitereien in der Familie, so übernimmt der Imam, Priester oder Pfarrer die Rolle des Familienrichters und entscheidet auf der Grundlage der eigenen Religion, wer was bekommt. Ihr Urteil ist bindend. Sollte sich eine Seite nicht daran halten, wird die staatliche Gewalt eingeschaltet, die dann das Urteil durchsetzt.
Evangelikale Kirchen können keine Heiratsurkunden ausstellen
Diese Befugnisse haben allerdings nur offiziell vom Staat anerkannte Kirchen. Und das sind in der Regel nur die, welche es bereits zu osmanischer Zeit gab, also bis 1922. Evangelikale Kirchen, die erst Ende des 20. Jahrhunderts oder noch später entstanden sind, werden höchstens als NGOs oder kulturelle Einrichtungen registriert. Heiratsurkunden können sie beispielsweise nicht ausstellen. Das ist für ihre Mitglieder ein großes Problem. Denn selbst wenn sich zwei aus der gleichen evangelikalen Gemeinde von ihrem Pastor trauen lassen, ist diese Eheschließung staatlich nicht anerkannt. Als Ehepartner gelten sie erst, wenn sie den Segen des Geistlichen einer registrierten Kirche bekommen haben.
Das Privileg der kirchlichen Familiengerichtsbarkeit, das nur die angestammten Kirchen haben, ist sicher ein Grund, warum die evangelikalen Kirchen im Nahen Osten nicht stärker wachsen. Wer kehrt seiner Mutterkirche schon gerne den Rücken, wenn er danach offiziell nicht mehr heiraten kann und keinen Ort hat, wo er einst begraben wird? Denn auch die Friedhöfe sind im Nahen Osten konfessionell. Jede Religionsgemeinschaft hat ihren eigenen, und dorthin kommen in der Regel nur die Toten aus den eigenen Reihen.
So darf es nicht verwundern, dass die wenigsten, die in einen evangelikalen Gottesdienst gehen, auch wirklich Mitglied in dieser Kirche sind. Die meisten bleiben weiterhin offiziell koptisch-orthodox, syrisch-orthodox, griechisch-orthodox, armenisch-orthodox, melkitisch, chaldäisch, maronitisch oder assyrisch. Vermutlich würden sich die Mitgliederzahlen schnell zu Gunsten der Evangelikalen ändern, würden die Kirchen offiziell vom Staat anerkannt.
Nicht gleichgestellt
Solange die evangelikalen Kirchen den anderen nicht gleichgestellt sind, können sie auch keinen Grundbesitz erwerben, auf dem sie eine Kirche bauen können. Ihre Gottesdienste müssen sie in privaten Gebäuden abhalten. Sie können kein Konto auf ihren eigenen Namen eröffnen, dürfen keine eigene religiöse Literatur produzieren und auch keine sozialen oder Bildungseinrichtungen wie Schulen, Kindergärten oder Krankenhäuser gründen.
Im Irak fordert die General Society for Iraqi National Evangelical Churches (GSINEC), der die baptistische Kirche, die pentekostale Kirche, die Allianzkirche, die Kirche des Nazareners, die Assemblies of God und die Armenisch-Evangelische Kirche angehören, seit 2003 die staatliche Anerkennung. Keine Regierung in den letzten 18 Jahren hat sich darum gekümmert, wohl auch, weil es keinen offiziellen Kanal zwischen der Regierung und den evangelikalen Kirchen gibt. Einen Antrag auf offizielle Anerkennung der Evangelikalen müsste der sogenannte „Diwan der Christen, Jesiden und Sabäer-Mandäer“ stellen. Er ist, neben dem Diwan für die Sunniten und dem für die Schiiten, die politische Kammer, mit denen die Regierung über Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften verhandelt. Ohne die Fürsprache der bereits im Diwan vertretenen Kirchen werden die Evangelikalen im Irak deswegen nicht weiterkommen. Und die stellen sich taub. Das Faustpfand der Familiengerichtsbarkeit werden sie gegenüber der Konkurrenz nicht so einfach aus der Hand geben.
Selbst die Presbyterianer, die einzige offiziell anerkannte evangelische Kirche im Irak, deren Anfänge am Euphrat auf das frühe 19. Jahrhundert zurückgehen, hält es nicht für nötig, sich für die evangelikalen Glaubensgeschwister einzusetzen. Sie könnten sich ja ihnen anschließen, heißt es lapidar, was für die Evangelikalen aber einer Selbstaufgabe gleichkäme.
Auch der Heilige Vater hatte kein offenes Ohr
Die Evangelikalen im Irak setzen deswegen auf die weltweite Gemeinschaft evangelikaler Kirchen. So stellte die Evangelikale Weltallianz beim UN-Menschenrechtsausschuss im April 2020 einen Antrag mit der Bitte, sich doch bei der irakischen Regierung für eine Anerkennung der Evangelikalen als registrierte Kirchen einzusetzen. Als Begründung wird die Religionsfreiheit angeführt, welche in der irakischen Verfassung garantiert wird. Doch auf diesem Weg hat sich bisher nichts getan.
Anfang des Jahres hat die GSINEC einen weiteren Anlauf genommen und sich an den Papst in Rom gewandt. Der Heilige Vater hatte angekündigt, im März unter dem Motto „Ihr seid alle Brüder“ in den Irak zu kommen. Eine Steilvorlage für die GSINEC, die kurzerhand einen Brief nach Rom schickte, in dem sie den Papst bat, sich in dieser Sache doch bitte bei den chaldäischen Geschwistern für die Evangelikalen einzusetzen. Die chaldäisch-katholische Kirche ist im Irak die einflussreichste Kirche. Offensichtlich hatte Franziskus bei seinem Besuch aber eher die Geschwisterlichkeit zwischen Christen und Muslimen im Hinterkopf und weniger die innerkirchliche Einheit. Entsprechend lautete die Antwort aus Rom, der Heilige Vater habe viel zu tun und könne den Brief der GSINEC erst nach seiner Reise in den Irak lesen.
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