Lucano, der bis 2018 Bürgermeister in Riace war, hatte in dem von Landflucht betroffenen kalabrischen Dorf mit 1800 Einwohnern 450 Migranten willkommen geheißen, um die Wirtschaft anzukurbeln. Er wurde daraufhin weltberühmt, aus allen Erdteilen reisten Kommunalpolitiker an, um sich das „Modell Riace“ zur Wiederbelebung dünn besiedelter Dörfer und zur Unterbringung von Asylbewerbern anzusehen. Lucano wurde gefeiert, ausgezeichnet, geehrt und mit italienischen und EU-Geldern unterstützt. Dank seines Engagements wurden verlassene Häuser restauriert und Handwerksbetriebe wiedereröffnet, was Touristen anlockte. Ganz konfliktfrei ging das alles nie vonstatten, aber Riace galt dennoch als das Vorzeigemodell für gelungene Integration. Und nun soll Lucano sitzen – wegen „Beihilfe zu illegaler Migration“. Dieser Urteilsspruch macht fassungslos.
Menschenfeindliche Haltungen auch in Westeuropa
Es überrascht nicht, dass rechtsnationalistische Politiker Lucano hinter Gitter sehen wollen und in den vergangenen Jahren gegen ihn hetzten. Dass allerdings Richter eines westeuropäischen Landes, dessen demokratische Stabilität nicht angezweifelt wird, ein solches Urteil fällen, ist erschreckend. Denn es offenbart, wie viel Interpretationsspielraum die geltenden Gesetze bieten – und wie diese politisch genutzt werden können. Es zeigt, wie sich auch in Westeuropa über die Jahre eine menschenfeindliche Haltung eingeschlichen hat, die jeden Akt von Nächstenliebe ad absurdum führt, wenn es um Migranten geht. Und es macht deutlich, dass Demokratie und Rechtsstaat und mit ihnen die Menschenrechte nicht bloß bei „den Anderen“ verdammt zerbrechlich sind. Wir sitzen der Illusion auf, dass der Rechtsstaat nur bei unseren östlichen Nachbarn Polen und Ungarn in Gefahr ist. Aber doch nicht bei uns! Die Verurteilung Domenico Lucanos schmerzt auch deshalb so sehr, weil sie uns diese Illusion raubt.
Lucano ist kein Heiliger – aber ein Mensch mit moralischem Kompass
Lucano ist verurteilt worden, weil er sich für seine Sache über Verfahrens- und Verwaltungsvorschriften hinweggesetzt haben soll. Er mag sich in Grauzonen bewegt haben – etwa wenn er, so der Vorwurf, Scheinehen organisiert hat, um Frauen, deren Asylantrag abgelehnt wurde, den Aufenthalt in Italien zu ermöglichen. Das Gericht warf ihm außerdem vor, dass er die Abfallentsorgung in Riace nicht öffentlich ausgeschrieben und stattdessen an Genossenschaften für Migranten vergeben hat. Sicher, der Zweck heiligt nicht alle Mittel. Aber das Urteil ist völlig überzogen und einer offenen und liberalen Gesellschaft unwürdig. Oder wollen wir wirklich in einer Gesellschaft leben, die bürokratisch-politische Vorgaben über pragmatisch-zupackende Empathie stellt?
Denn es geht hier um grundlegende Werte, ob man sie nun christlich oder europäisch oder universell nennt. Lucano zeigte Größe, indem er die Schwächsten aufnahm. Er verhielt sich zutiefst menschlich, indem er denen half, die Hilfe bitter nötig hatten und ihnen die Chance auf ein neues Leben bot. Kurzum: Er folgte (s)einem moralischen Kompass.
Seenotretter müssen sich vor Gericht verantworten
Der 63-jährige Italiener ist nicht der Einzige, der diesem moralischen Kompass folgt: Von Spanien, Italien, Griechenland und Malta aus fahren Europäerinnen und Europäer aufs Meer, um in Seenot geratene Migranten zu retten, die die europäischen Staaten lieber ertrinken lassen. Und genau wie Lucano werden auch sie dafür bestraft, dass sie Menschenleben retten – obwohl das der Menschenverstand gebietet und zudem das internationale Seerecht dazu verpflichtet. Im März mussten sich im sizilianischen Trapani 21 See¬notretter wegen „Beihilfe zur illegalen Einwanderung“ vor Gericht verantworten – keine Schleuserbanden, sondern Aktivisten von „Ärzte ohne Grenzen“, „Jugend rettet“ und „Save the children“. Wie verrückt, ja wie pervers ist es eigentlich, dass sich Lebensretter vor Gericht verantworten müssen?
Domenico Lucano sagte beim Verlassen des Gerichts: «Innerlich bin ich gerade gestorben.» Er habe sein Leben den Schwächsten gewidmet, dem Kampf für Solidarität und gegen die Mafia. «Und jetzt verurteilt man mich, als wäre ich ein Mafioso.» Sowohl im Falle der zivilen Seenotretter als auch in der Causa Lucano geht es um mehr als um die Rechte von Flüchtlingen oder um das Schicksal Einzelner: Es geht um Menschenrechte. Darum, ob Europa weiter sein wird, was es nach außen behauptet zu sein: Ein Raum „der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ – oder eine Gemeinschaft, in der nach Mafia-Manier das Recht des Stärkeren zählt.
Elisa Rheinheimer ist Online-Redakteurin bei welt-sichten, freie Journalistin und Pressereferentin bei der Organisation Pro Asyl.
Neuen Kommentar hinzufügen