Die gängige Erzählung zu Migration und Entwicklung enthält einen gefährlichen Widerspruch: Obwohl sich die Mobilität von Arbeitskräften als einer der wirksamsten Hebel für Entwicklungsfortschritte erwiesen hat, sehen viele in der Entwicklungspolitik Tätige Migration als Problem an, das gelöst werden muss. Das beruht auf einem Mythos über Migrationsursachen: Mobilität wird lediglich als Flucht vor Armut und vor dem Mangel an Möglichkeiten wahrgenommen – nicht als eine Strategie gegen genau diese Probleme. Migranten sind demnach Opfer, die vor ihren eigenen Entscheidungen geschützt werden müssen, und Entwicklungszusammenarbeit gilt als passendes Mittel dafür.
Der politische Vorteil dieser Sichtweise liegt auf der Hand: Leute, die sich der politischen Mitte zuordnen – von Sozialdemokraten über Liberale bis hin zu den gemäßigten Rechten –, können sich in diese Argumentation flüchten, um die Besessenheit von undurchlässigen Grenzen zu beschönigen, obwohl genau dieses Modell oft die Grundsätze freiheitlicher Demokratien verletzt. Der Vorschlag der EU-Kommission für einen neuen Pakt für Migration und Asyl ist eines der jüngsten beunruhigenden Beispiele.
Es geht hier nicht bloß um Rhetorik. In der Entwicklungszusammenarbeit hat diese Herangehensweise direkte Kosten: Für Programme mit dem Ziel, Menschen dabei zu helfen, nicht auswandern zu müssen, wird enorm viel Geld verschwendet. Das bekannteste Beispiel dafür ist wohl der EU-Nothilfe-Treuhandfonds für Afrika, der auf dem Gipfeltreffen in Valetta im November 2015 beschlossen wurde – auf dem Höhepunkt der Krise, in der Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und anderen Regionen in Europa Aufnahme suchten. Weil die EU es nicht schaffte, einen für alle ihre Mitglieder geltenden Mechanismus der Solidarität einzuführen, und den Schutz der Außengrenzen verstärkte, lenkten ihre politischen Führer die Aufmerksamkeit auf ein Programm, das angelegt war, als sollte es das Gesetz der Schwerkraft außer Kraft setzen.
Hinderliche Fixierung auf „Migrationsursachen“
Doch der größte Nachteil dieses irreführenden Ansatzes ist, dass damit eine Gelegenheit verpasst wird. Die Fixierung auf „Migrationsursachen“ verhindert, dass sich entwicklungspolitische Institutionen um ein offeneres, geordnetes und sicheres Modell für Migration bemühen. Ein solches Modell würde Armut und globale Ungleichheiten so stark reduzieren helfen wie vermutlich kaum eine andere entwicklungspolitische Initiative. Mit Blick auf die Armutsbekämpfung ist die gängige Haltung zu Migration also nicht nur unmoralisch, sondern zugleich kontraproduktiv.
Autor
Gonzalo Fanjul
ist Mitgründer und Forschungsleiter der „Fundación porCausa“. Diese spanische Gruppe von Fachleuten und Journalisten setzt sich für eine andere Haltung zu Migration ein.Wir müssen anders über Migration sprechen. Wir sind verpflichtet, das Reformpotenzial unserer Basis zu aktivieren. Und wichtiger noch, wir haben die Chance, einen viel größeren Teil der Öffentlichkeit für unser Anliegen zu gewinnen: die Menschen, die zwar nicht zu unseren eigentlichen Fürsprechern gehören, aber dennoch gegen eine isolationistische und einwanderungsfeindliche Politik sind. Ein Teil dieser heterogenen Gruppe, von der die Möglichkeit zu Reformen letztendlich abhängt, könnte die Verringerung von Armut und Ungleichheit als zusätzliche Gründe akzeptieren, den heutigen Umgang mit Migration zu überdenken.
Den Umgang mit internationaler Migration reformieren
Ich gehöre der Organisation Por Causa an, einer spanischen Stiftung, die seit Jahren zusammen mit anderen dafür kämpft, öffentliche Debatten zu Migration zu verbessern. Wir sind dabei zu einigen interessanten Schlussfolgerungen gelangt. Die wichtigste ist, dass diese Diskussion eher mithilfe von Emotionen und dem Verweis auf Werte als mit Daten und rationalen Argumenten gewonnen werden kann. Untersuchungen etwa des britischen Overseas Development Institute zeigen: Gebraucht werden Konzepte, welche die Logik von Unterscheidungen wie „wir gegenüber den anderen“ infrage stellen. Wir alle sind Migranten oder könnten es sein. Unser Wohlstand, an dem wir teilhaben, gründet sich auf der Arbeit derer, die ausgewandert sind. Wir alle verdienen eine Chance im Leben, auch wenn sie außerhalb der Grenzen unseres Herkunftslandes liegt.
Auf tragische, aber wirksame Weise hat Covid-19 eine Chance eröffnet, den Umgang mit internationaler Migration zu reformieren. Der entscheidende Antrieb für diese Reform ist weder Solidarität noch Leid, sondern gemeinsame Interessen und die Erkenntnis, dass unsere Gesellschaften ohne Migranten nicht lebensfähig sind. Während der Pandemie haben sich Arbeitskräfte aus fremden Ländern mit unterschiedlichen Qualifikationen als unentbehrlich erwiesen – die Bandbreite reicht von Fachkräften im Gesundheitswesen über Lieferdienste, die Waren nach Hause bringen, bis zu Erntehelfern für Obst und Gemüse. Mit dieser Begründung hat sich die Stiftung, für die ich tätig bin, vor kurzem in einer Kampagne dafür eingesetzt, fast einer Million illegal Beschäftigter in Spanien einen legalen Status zu geben.
Wenn in der Entwicklungszusammenarbeit Tätige sich den Versuchen anschließen könnten, den gescheiterten Ansatz zum Umgang mit Migration zu verändern, dann würde eine entscheidende Botschaft in die Gesellschaft gesendet: Zu Hause das Richtige zu tun – nämlich mehr, nicht weniger sichere Migration zu ermöglichen – ist auch ein Weg, die Lage der Menschen in den Herkunftsländern und ihre Chancen zu verbessern. Wir müssen das Reformpotenzial unserer entwicklungspolitischen Gemeinschaft aktivieren und uns auf die Leitlinien des Globalen Pakts für sichere, geordnete und reguläre Migration von Ende 2018 besinnen: Programme für eine sichere und flexible Migration fördern, so dass sie möglichst große entwicklungspolitische Wirkung entfalten kann. Und wir sollten das Potenzial der Zusammenarbeit nutzen, um politische Innovationen einzuführen getreu der Strategie eines Bergsteigers: prüfen, sichern und weitergehen.
Aus dem Englischen von Christine Lauer.
Neuen Kommentar hinzufügen