In vielen Ländern Lateinamerikas haben Pfingstkirchen und evangelikale Bewegungen seit Jahren großen Zulauf. Was macht sie so attraktiv?
Gibt es große Unterschiede zwischen evangelikalen Kirchen?
Ja, die Bewegung ist sehr heterogen. Man muss unterscheiden zwischen traditionellen Pfingstbewegungen, die Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden sind, und den jüngeren neopentekostalen und charismatischen Bewegungen. Die traditionellen Pfingstkirchen haben teilweise Positionen, die etwa von der katholischen Befreiungstheologie gar nicht so weit entfernt sind.
Aus welchen Schichten rekrutieren die Kirchen ihre Mitglieder?
Aus allen. Die arme Bevölkerung hofft auf die Verbesserung ihrer Lebenssituation; die Menschen finden in den Kirchen eine Gemeinschaft. Vor allem die neopentekostalen Kirchen haben sowohl in den Favelas an den Rändern der lateinamerikanischen Metropolen kleine Hütten als Gotteshäuser als auch riesige Tempel in den Vierteln der wohlhabenderen Schichten. Dort passen ihre religiösen und gesellschaftspolitischen Einstellungen vor allem zu den politischen Interessen rechtskonservativer Gruppen. Ein Beispiel ist die Einstellung vieler evangelikaler Kirchen gegen Genderpolitik, die für linke progressive Politik steht. Die Kirchen sind ein gutes Instrument, um solche Positionen zu verbreiten.
Das Wachstum evangelikaler Kirchen in Lateinamerika geht vor allem zulasten der katholischen Kirche, die viele Mitglieder verloren hat. Welche Versäumnisse auf deren Seite haben dazu beigetragen?
Das hat mit Entwicklungen seit den 1980er Jahren zu tun. Davor gab es seit Ende der 1960er Jahre die Entstehung der Befreiungstheologie, es gab den Aufbruch des Zweiten Vatikanischen Konzils, es gab die Bischofskonferenz 1968 in Medellín – alle diese Ereignisse standen für eine Kirche, die sich den Nöten und Fragen der Menschen angenommen hat. In den kirchlichen Basisgemeinden wurde versucht, Glauben, Leben und politisches Engagement zusammenzubringen. Seit den 1980er Jahren wurden diese Aufbrüche von einem Teil der katholischen Kirchenhierarchie systematisch bekämpft. Dafür stehen etwa Papst Johannes Paul II und Papst Benedikt XVI, die stark gegen diese Bewegungen vorgegangen sind. Das hat dazu geführt, dass immer mehr Menschen ihre Anliegen in der katholischen Kirche nicht mehr berücksichtigt gefunden haben und sich dann den Pfingstkirchen zugewandt haben.
Was sollte die katholische Kirche tun, um den Trend zu stoppen?
Seit Papst Franziskus wird versucht, eine den Armen zugewandte Kirche wieder zu stärken. Es gab die Amazonas-Synode im Oktober 2019, auf der Franziskus sehr deutlich gemacht hat, dass sich die Kirche den ökologischen und sozialen Fragen der Zeit stellen und gesellschaftspolitische Verantwortung wahrnehmen muss. In Lateinamerika ist ein synodaler Prozess im Gange: Im November soll die erste gesamtkirchliche Versammlung stattfinden, bei der sich nicht nur die Bischöfe Lateinamerikas treffen, sondern die Basis eingebunden ist. Da sind zum Beispiel Frauen und Indigene aktiv beteiligt. An die Amazonas-Synode anknüpfend soll der lateinamerikanischen Kirche ein amazonisches Gesicht gegeben werden. Sie soll eine Kirche werden, die wirklich auf der Lebensrealität der Menschen gründet.
Wie wirkt sich das Wachstum evangelikaler Kirchen auf die kirchliche Entwicklungszusammenarbeit in Lateinamerika aus?
Wir arbeiten ja mit einer politischen Perspektive und müssen uns deshalb vor Ort mit Tendenzen auseinandersetzen, die von evangelikalen Kirchen verstärkt werden, etwa die Ablehnung von Geschlechtergerechtigkeit und die Zunahme von Gewalt gegen Frauen und nicht heterosexuelle Menschen. Solche Einstellungen, die es auch in der katholischen Kirche gibt, betreffen natürlich unsere Arbeit. Es gibt aber auch evangelikale und charismatische Kirchen, die unsere Anliegen teilen. Da sind wir offen für mögliche Kooperationen.
Das Gespräch führte Tillmann Elliesen.
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