Nur wenige Landkarten in Guatemala verzeichnen die „Zona Reina“. Die Region liegt tief versteckt in den Bergen des Departements Quiché, dem Rückzugsgebiet der Maya-Indigenen. Sie ist so abgelegen, dass man selbst im Jahr 2021 für die 350 Kilometer Fahrt von der Hauptstadt mindestens acht Stunden braucht – über schlammige, manchmal nur einspurige Bergpisten. Hierher haben sich einst die Maya zurückgezogen, auf der Flucht vor Unterwerfung und Versklavung durch die spanischen Kolonialherren. Hier hatten die Indigenen ihre Ruhe, bis 1960 der Bürgerkrieg ausbrach und sie in Generalverdacht kamen, linke Guerilleros zu unterstützen. Und bis der Bergnebelwald interessant wurde für Bodenspekulation, Staudammbau und Export-Monokulturen. Was in der Folge in den 1980er Jahren in Quiché stattfand, gilt heute als Genozid. Doch davon spricht die politische und wirtschaftliche Elite nicht gerne. Anders in Quiché. Dort ist die Vergangenheit Teil der Gegenwart.
Cirilo Akabal ist 71, Maya-Heiler und eine Art wandelndes Geschichtsbuch der Zona Reina. Ein kleiner, drahtiger Mann mit wettergegerbtem Gesicht und einem nachdenklichen, durchdringenden Blick. Er ist einer der Ältesten im Dorf und ein Überlebender der Politik der verbrannten Erde. Wenn er vom Krieg erzählt, wählt er poetische Bilder, etwa das vom Nebel, der in den Bergen seinen schützenden Schirm über die Vertriebenen legte, damit die Armee sie nicht entdeckte. Er erzählt, wie Soldaten in die Dörfer kamen und die Menschen in Gemeinschaftshäusern zusammentrieben, die sie anschließend in Brand setzten. Er erzählt von denen, die wie seine Familie in die Berge flohen und dort oft jahrelang versteckt im Unterholz lebten. Nachts war es stockdunkel und eiskalt, doch Feuer anzünden war streng verboten, denn es hätte die Flüchtenden verraten. Er erzählt von den Säuglingen, die von ihren Müttern versehentlich erstickt wurden, wenn diese ihnen den Mund zuhielten, damit die Soldaten nicht ihr Weinen hörten. Und von den Kindern, denen ihre Väter beibrachten, wie man im Stockdunkeln durch den Wald läuft, ohne zu stolpern oder Lärm zu machen. „Wir lehren das bis heute“, sagt Akabal.
Heute erzählt er davon vor allem den Jugendlichen. Er tut es auf „Ixil“ und „Kiche“, den indigenen Sprachen, damit die jungen Indigenen ihre Wurzeln nicht vergessen. Sie sollen sich nicht einlullen lassen von den Sonntagsreden der Politiker vom materiellen Fortschritt oder von den von Firmen angeworbenen evangelikalen Predigern, die die Mayakultur als Teufelswerk verdammen und die Dorfgemeinschaft sabotieren, indem sie ihnen einbläuten, sie seien rückständig und müssten den Weißen nacheifern und ihre Kultur vergessen, wenn sie vorankommen wollten.
Jugendliche sollen die Hintergründe des Genozids begreifen
Seit 1996 ist der Bürgerkrieg in Guatemala zu Ende, und es gibt immer weniger Zeitzeugen wie Akabal. Das ist ein Drama in einem Land, in dem der Staat und die herrschende, hellhäutige Elite es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Vergangenheit zu verdrängen und zu verfälschen. Die Sicherheitskräfte hätten damals nur ihre Pflicht getan und das Land vor dem Kommunismus bewahrt – solche Sätze sind aus dem Mund der Politiker noch immer zu hören.
„Es tobt ein Kampf um unser kollektives Gedächtnis“, sagt Edda Gaviola, die Programmkoordinatorin für Erinnerungsarbeit im Zentrum für Menschenrechtsbeistand (CALDH). Es sind kleine Organisationen wie diese, die die Geschichte lebendig halten. Sie engagieren sich dafür, dass auch die städtische, nicht-indigene Jugend mit der Vergangenheit konfrontiert wird und die Hintergründe des Genozids begreift. Kernstück und Kronjuwel ihrer Arbeit ist das interaktive Bürgerkriegsmuseum. Kein Schild weist darauf hin, nur an die Wand gepappte Zettel mit verblassten Schwarz-Weiß-Fotos von Verschwundenen. „Die Regierung sieht uns als Feind“, erläutert Gaviola. Morddrohungen gegen Menschenrechtler sind an der Tagesordnung, kritische Journalisten und Aktivisten werden unter fadenscheinigen Vorwänden festgenommen oder diffamiert, Militär und Polizei sind allgegenwärtig. Im Land herrscht ein bleiernes Klima der Einschüchterung.
Jeder, der vom Elitenkonsens abweicht und etwa das herrschende, auf Ausbeutung der Natur gründende Wirtschaftsmodell kritisiert, ist gefährdet. Eineinhalb Blocks vom Museum entfernt liegt beispielsweise ein bekanntes liberales Künstlercafé, das sich während der Pandemie in eine Armenküche verwandelte. Die Polizei versuchte mehrfach, das Café zu räumen, was engagierte Nachbarn verhindern konnten. Im Januar 2021 wurde es dann nachts von Unbekannten in Brand gesteckt.
Autorin
Sandra Weiss
ist Politologin und freie Journalistin in Mexiko-Stadt. Sie berichtet für deutschsprachige Zeitungen und Rundfunksender aus Lateinamerika.Das interaktive Museum richtet sich vor allem an Jugendliche der Mittel- und Oberstufe. Gleich am Eingang läuft man unter herabhängenden Säbeln hindurch – die Bedrohung wird so physisch spürbar. In einem Saal ist eine koloniale Hacienda mit indigenen Zwangsarbeitern nachgebildet, in einem anderen hört man Auszüge aus Protokollen von Bürgerkriegsopfern. Dann betritt man die Nachbildung einer typischen indigenen Küche nach einer Polizeirazzia – das Geschirr liegt in Scherben, Blutspuren sind auf dem Boden, die Silhouetten einer Familie sind an die Wand gestrichelt. „In diesem Museum bekommen wir Weißen aus der Stadt unsere Privilegien vorgeführt“, sagt Karolin Loch. „Und wir fragen uns, was wir aus ihnen machen.“ Besuche finden nur geführt statt, am Schluss wird über das Gesehene reflektiert, und die Besucher können Kommentare an die Wand schreiben. „Eine halbe Wahrheit ist eine komplette Lüge“, hat einer vermerkt. Darunter hat ein Schüler geschrieben: „Wir sind der Wandel.“ 50.000 Menschen haben das Museum seit seiner Eröffnung 2013 besucht.
Ein Erzbischof wurde wegen des Wahrheitsberichts ermordet
Rund 100 junge Museumsführer wurden bislang ausgebildet. Sie verdienen sich mit ihrer Arbeit nicht nur ein Taschengeld, sondern dienen vor allem auch als Multiplikatoren in ihren Schulen, Familien und Gemeinden. Aktuell hat sich Gaviola das Ziel gesetzt, das Museum aus der Hauptstadt herauszutragen aufs Land, wo die Unterdrückung am schlimmsten war. Dafür wurde die Ausstellung digitalisiert, so dass sie seit April 2021 nun auch im Internet virtuell besucht werden kann.
Wenige Blocks vom Museum entfernt liegt das international bekannteste Menschenrechtszentrum Guatemalas, das Büro für Menschenrechte der Erzdiözese Guatemala (ODHAG). Gewidmet ist es Bischof Juan Gerardi, der 1998, zwei Jahre nach Ende des Bürgerkriegs, den Wahrheitsbericht über die Gräueltaten veröffentlichte. „Nie wieder“ heißt das Dokument, für dessen Erstellung der Bischof verantwortlich war. Sein Team hat in akribischer Kleinstarbeit die Aussagen der Opfer zusammengetragen und die Massaker des Bürgerkriegs rekonstruiert. Das Ergebnis zeichnet ein düsteres Bild vom Rassismus und der Blutrünstigkeit der Militärdiktaturen, aber auch von der Komplizenschaft der wirtschaftlichen und politischen Elite des Landes.
Zwei Tage nach der offiziellen Vorstellung des Berichts wurde Gerardi ermordet, unter Beihilfe eines Priesters. Das zeigt, wie gespalten auch die Kirche mit der Vergangenheit umgeht. Unlängst beanspruchte der Erzbischof den obersten Stock des Gebäudes, das zur Kathedrale gehört, für seine Verwaltung. Seither müssen sich die Mitarbeiter von ODHAG auf engem Raum im Erdgeschoss drängen.
Bei ODHAG lagern einige der wichtigsten Dokumente des Bürgerkriegs – die Protokolle der Zeugenaussagen, die dem Wahrheitsbericht zugrunde liegen. Inzwischen sind sie digitalisiert und in mehreren Kopien an anderen, sicheren Orten gelagert.
ODHAG will „das ganze Bild vermitteln“
Öffentlich zugänglich sind sie aus Gründen des Datenschutzes und der Sicherheit nicht – zu groß ist die Gefahr von Repressalien nach Ansicht von Carlos Alarcón, dem Direktor für Friedensarbeit bei ODHAG. Historiker, Zeitzeugen und ihre Angehörigen sowie Menschenrechtsanwälte bekommen aber nach vorheriger Anmeldung und Prüfung ihres Anliegens Zugang zu den Dokumenten. Sie sind das Pendant zum Polizeiarchiv, das in der Nationalbibliothek lagert. Beide Archive zusammenzuführen, ist derzeit noch undenkbar. „In der Nationalbibliothek würden sie sicher verschwinden“, sagt Alarcón.
Lange war ODHAG die wichtigste Anlaufstelle für die Opfer, die dort juristischen und psychologischen Beistand erhielten. Seine Anwälte entwarfen auf Grundlage der Dokumente in den Archiven Strategien, um die Bürgerkriegsverbrechen gerichtlich zu ahnden. Jahrelang kämpften sie gegen die Windmühlen einer von der Elite kontrollierten Justiz. Bis Justizreformen, angeregt von der UN-Kommission gegen Korruption und Straffreiheit (CICIG), ein Fenster für die Gerechtigkeit öffneten. So wurde im Mai 2013 Exdiktator Efraín Ríos Montt wegen Völkermordes an den Ixil während der Jahre 1982 und 1983 verurteilt. Das Urteil ging in die Geschichte ein – auch wenn die Regierung später die CICIG aus dem Land warf, die Reformen rückgängig machte und der Unternehmerverband das Urteil vom Verfassungsgericht annullieren ließ.
Politische und juristische Rückschläge haben dazu beigetragen, dass ODHAG inzwischen seinen Fokus auf die Jugendarbeit legt. „Das Bildungssystem ist unter Kontrolle der Eliten. Dort wird den Kindern eingebläut, dass die Streitkräfte die Guten sind“, sagt Alarcón. „Wir müssen der Jugend das ganze Bild vermitteln und ihr kritisches Bewusstsein schärfen. Nur so können wir die Gewaltspirale durchbrechen.“
Dafür hat ODHAG Partnerschaften mit örtlichen Jugendorganisationen geschlossen, etwa mit Kají Batz’ aus Sololá am Atitlán-See. In dieser Region leben viele Indigene. In Workshops von Kají Batz’ stellen Jugendliche alltägliche Gewaltsituationen nach, erzählen von ihren Erfahrungen und Gefühlen und reflektieren anschließend unter Anleitung einer Fachkraft darüber. Sie knüpfen Freundschaften und solidarische Netzwerke. Seit zwei Jahren unterstützt Sebastian May vom Zivilen Friedensdienst Kají Batz’ bei der Jugendarbeit in Sololá. „Die Jugendlichen sind sehr aufgeschlossen, weil sie bei uns eine ganz andere Vision und Welt kennenlernen“, sagt er.
Einer, mit dem er vor Ort zusammenarbeitet, ist der Maler Israel Tío. Der 26-Jährige arbeitet mit Kindern und Jugendlichen, bietet ihnen Malkurse an oder drehte während der Pandemie Kurzvideos mit und über Kinder, die, statt zur Schule zu gehen, arbeiten mussten. Das Projekt wurde von Kají Batz’mit Schnittsoftware, Workshops zur Videoproduktion und mit Telefonguthaben unterstützt, so dass die Jugendlichen Internetzugang hatten. Die Clips waren auf sozialen Netzwerken ein Renner. „Es ist für Jugendliche so wichtig, sich künstlerisch auszudrücken“, sagt Tío. „Sie beginnen, Dinge zu hinterfragen, und stärken ihr Selbstwertgefühl.“
So wachsen Bürger heran, nicht nur Untertanen. „Aber in der Schule gibt es nicht mal Kunstunterricht“, klagt Tío. Gibt man der Jugend aber Raum, sprudeln die Ideen. Wie bei Workshop-Teilnehmer Juanito Velasco, einem jungen Ixil: „Ich träume von einem Museum über die Geschichte der Ixil im Quiché“, sagt er. „Ich möchte demnächst zusammen mit anderen Jugendlichen unsere Alten interviewen über ihre Bürgerkriegserfahrungen, und das filmen, damit diese Stimmen nicht verloren gehen.“
Die digitale Ausstellung des Bürgerkriegsmuseums des Zentrums für Menschenrechtsbeistand in Guatemala-Stadt kann hier besucht werden.
Neuen Kommentar hinzufügen