Die schweizerische Entwicklungshilfe hatte ihren Ursprung in Bolivien in den 1960er Jahren. Bis heute ist Lateinamerika eine Schwerpunktregion der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA). Nicht mehr lange. Die seit Januar laufende „Strategie für die Internationale Zusammenarbeit 2021–2024“ sieht eine Fokussierung der Schwerpunktländer und -regionen vor. Bis zum Jahr 2024 endet die bilaterale Zusammenarbeit in Lateinamerika.
Außenminister Ignazio Cassis löste mit der Ankündigung dieses Ausstiegs bereits 2018 Entrüstung aus. Eine Koalition von 23 Schweizer Entwicklungshilfe- und Menschenrechtsorganisationen kritisierten damals den Schritt in einem offenen Brief. Die Region sei von zunehmender sozialer und wirtschaftlicher Ungleichheit betroffen, die Regierung solle deshalb auf den Ausstieg verzichten. In Medieninterviews und Stellungnahmen folgten NGOs, darunter auch Partner der DEZA, sowie Politikerinnen und Politiker diesem Aufruf.
Doch als ein Jahr später der Bundesrat die neue Strategie für die Internationale Zusammenarbeit in die Vernehmlassung schickte, äußerten sich von den 115 NGOs, Vereinen und Stiftungen, die Stellung nahmen, 40 Prozent gar nicht zu Lateinamerika. Nur 15 Prozent sprachen sich gegen den Ausstieg aus. Auch bei den Kantonen, die Stellung nahmen, waren die Reaktionen gemischt.
Corona könnte Lateinamerika um zehn Jahre zurückwerfen
Der Ausstieg der bilateralen Zusammenarbeit ist damit seit der Verabschiedung der Strategie im Herbst 2020 beschlossene Sache. Die Hilfsorganisation Vivamos Mejor, seit 40 Jahren in Lateinamerika tätig, bedauert das. Die Organisation hat den offenen Brief mitunterzeichnet und sich in der Vernehmlassung für einen Verbleib eingesetzt. Die Corona-Pandemie habe die strukturellen Probleme und die enorme soziale Ungleichheit in der Region aufgezeigt, sagt Geschäftsleiterin Sabine Maier. Sie zitiert eine Studie der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik: Die Region werde aufgrund der Auswirkungen der Pandemie um zehn Jahre zurückgeworfen. Maier: „Wir sind nach wie vor der Meinung, dass das bilaterale Engagement der DEZA dort Sinn machen würde.“
Anders sieht es die Organisation Swisscontact, die sich vor allem in der Entwicklung eines nachhaltigen und sozialen Privatsektors im globalen Süden engagiert. Florian Meister, interimistischer Leiter Lateinamerika und Karibik, verweist auf den gesetzlichen Auftrag der DEZA, sich auf die ärmsten Länder zu fokussieren. „Dazu gehören in Lateinamerika nunmehr nur wenige Länder,“ sagt Meister. Außerdem beende die Schweiz lediglich die bilaterale Zusammenarbeit. Sie werde weiterhin in Lateinamerika präsent sein, mit der humanitären Hilfe und den Globalprogrammen der DEZA, mit der multilateralen Zusammenarbeit sowie mit dem Bereich Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung des Staatssekretariats für Wirtschaft, das heute in Peru und Kolumbien tätig ist.
Zieht der DEZA-Ausstieg einen Dominoeffekt nach sich?
Gemessen am Finanzierungsvolumen ist Swisscontact die wichtigste Partnerorganisation der DEZA. Mit dem Ausstieg verliert Swisscontact gut die Hälfte des bisherigen Projektvolumens in Lateinamerika. Die Organisation wolle auch nach 2024 die Arbeit in Lateinamerika aufrechterhalten, sagt Meister. Dazu will Swisscontact neue öffentliche und private Geber für Projekte in Lateinamerika gewinnen. Die Organisation erarbeitet gegenwärtig Strategien für die Zeit nach dem Ausstieg der DEZA.
Vivamos Mejor ist noch nicht direkt vom Ausstieg betroffen. Seit Jahresbeginn erhält die Organisation, die ausschließlich in Lateinamerika tätig ist, als Teil des Bündnisses Alliance for Sustainable Food Systems and Empowered Communities mit Fastenopfer und Swissaid Programmbeiträge von insgesamt zwei Million Franken für die nächsten zwei Jahre.
Auch Vivamos Mejor will sich nach 2024 weiter in Lateinamerika engagieren. Geschäftsleiterin Sabine Maier vertraut darauf, Geld für Projekte in dieser Region mobilisieren zu können. Sie befürchtet aber, dass der DEZA-Ausstieg einen „Dominoeffekt“ haben könnte. Denn auch Kantone und Gemeinden stützen sich bei der Verteilung ihrer Gelder für Entwicklungsprojekte auf die Liste der DEZA-Einsatzländer. „Das heißt, dass wir bei diesen künftig ebenfalls keine Gelder mehr für Lateinamerika beantragen können. Das macht uns Bauchschmerzen“, sagt Maier.
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