Der Krieg in Syrien ist aus den internationalen Nachrichten und von den Prioritätenlisten der Außenpolitiker verschwunden, seit die Kämpfe abgeflaut sind und die Corona-Pandemie die Aufmerksamkeit beherrscht. Doch die Stille könnte sich als Ruhe vor dem Sturm entpuppen. Die Kriegsparteien befinden sich in einer angespannten Pattsituation, die dem Land ein gewisses Maß an Ruhe gebracht hat. Aber die Kämpfe könnten schnell wieder aufflammen und für Instabilität über Syriens Grenzen hinaus sorgen.
Ein wichtiger Wendepunkt war im vergangenen Jahr der am 5. März verkündete russisch-türkische Waffenstillstand, der die jahrelangen Angriffe des syrischen Regimes auf die Provinz Idlib im Nordwesten des Landes stoppte. Damit endeten die Kämpfe an der letzten aktiven Front fast vollständig. Anschließend baute die Türkei ihre Militärpräsenz in Idlib aus, vor allem um eine neue Flüchtlingswelle aus Syrien zu stoppen. Die militärische Abschreckung sicherte auch die Waffenruhe. So hat sich das Gebiet als letztes in die Regionen im Land eingereiht, in denen De-facto-Waffenstillstände herrschen.
Allerdings ist die Gefahr neuer Auseinandersetzungen groß. Der Status quo ist labil, und Waffenruhen werden täglich gebrochen. Der Waffenstillstand in Idlib beispielsweise lässt zentrale Meinungsverschiedenheiten über die Zukunft dieser Region und der Rebellen ungelöst, darunter auch die des in Idlib vorherrschenden extremistisch-islamistischen Bündnisses Hai‘at Tahrir asch-Scham (HTS). Diese frühere mit al-Qaida verbundene Gruppe wird von den Vereinten Nationen sanktioniert und von Russland und anderen Staaten als Terrororganisation betrachtet.
Das Abkommen zwischen Russland und der Türkei vom März vergangenen Jahres fordert beide Seiten auf, „alle vom UN-Sicherheitsrat als terroristisch eingestuften Gruppen in Syrien zu zerschlagen“. Moskau, das die Kontrolle des syrischen Regimes über die Provinz Idlib wiederherstellen will, hat seine Unterstützung der Angriffe bis zum Waffenstillstand damit gerechtfertigt, dass die Vereinten Nationen HTS als Terrorgruppe eingestuft hätten, und angedeutet, das Arrangement der Waffenruhe sei nur vorübergehend.
Die Türkei ist vehement dagegen, dass die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) die Region regieren, jene Miliz, die die von den USA unterstützten Demokratischen Kräfte Syriens (DKS) im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) anführt. Ankara betrachtet die YPG als syrischen Ausläufer ihres Todfeindes, der Kurdischen Arbeiterpartei PKK, und ist zunehmend verbittert über die anhaltende Unterstützung der Gruppe durch die USA. Diese haben zwar die Ankündigung der Regierung Trump, die US-Truppen aus Syrien abzuziehen, nicht wahr gemacht. Aber das wird vielleicht nicht genügen, um Ankara von einer neuen Offensive gegen die YPG abzuhalten.
In Wahrheit gibt es in dem Konflikt keine Sieger
Angesichts dieses Patts fragen sich viele, ob der syrische Präsident Baschar al-Assad den Krieg gewonnen hat. Tatsächlich hat Assad den Krieg überlebt und ist weiter an der Macht, während die syrischen Rebellen auf kleine Gebiete im Norden des Landes zurückgedrängt sind. Aber in Wahrheit gibt es in dem Konflikt keine Sieger. Syrien ist zerrissen: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung wurde vertrieben, ohne die Aussicht auf Rückkehr in absehbarer Zukunft. Die UN haben vor fünf Jahren aufgehört, die Opfer zu zählen, als schon mehr als 400.000 Tote vermeldet wurden. Die humanitäre Lage ist zudem katastrophal: Geschätzt elf Millionen Menschen im Land sind auf Hilfe angewiesen; das UN-Welternährungsprogramm hat bereits im vergangenen Jahr vor einer drohenden Hungersnot gewarnt.
Die Regierung kontrolliert rund 70 Prozent des Landes, darunter die größeren Städte, und wird von Russland und dem Iran unterstützt. Aber sie hat die Kontrolle über weite Teile des Nordens mit dem Großteil der Naturressourcen des Landes verloren. In der westlichen Welt geächtet, hat sie auch im Nahen Osten wenige Freunde und muss im Zentrum des Landes weiter einen gefährlichen Aufstand des IS bekämpfen.
Autorin
Dareen Khalifa
arbeitet bei der Denkfabrik International Crisis Group zu Fragen der Sicherheit, Politik und Regierungsführung in Syrien.Assads Ziel, ganz Syrien zurückzuerobern, wirkt derzeit wenig realistisch. Das Land ist in vier verschiedene Einflusszonen unterteilt, die jeweils von einer ausländischen Macht unterstützt oder geschützt werden. Russland und der Iran stehen hinter Assad, während US-amerikanische und türkische Truppen Positionen in verschiedenen Teilen des Nordens halten. Hier hat es Assad mit starken ausländischen Gegnern zu tun, die offenbar zumindest bisher jeden weiteren militärischen Vorstoß verhindern wollen.
Unterdessen haben zehn Jahre Krieg und westliche Sanktionen die Einnahmen der syrischen Regierung stark vermindert und die Wirtschaft zerstört. In den Jahren 2012 bis 2014 hat das Regime den Zugang zu den meisten Bodenschätzen und landwirtschaftlichen Ressourcen des Landes verloren – insbesondere Öl, Gas und Weizen, die im Nordosten produziert werden, der derzeit von den DKS kontrolliert wird.
Ganze Städte dem Erdboden gleichgemacht
Zudem hat der Krieg ein Drittel der Infrastruktur des Landes zerstört oder beschädigt. Um von der Opposition gehaltene Gebiete zu unterdrücken, haben das Regime und seine russischen Alliierten ganze Städte dem Erdboden gleichgemacht. Auch in dem von den USA gestützten internationalen Kampf gegen den IS wurden Städte und Dörfer zerstört, unter anderem die Stadt Rakka. Ende 2017 wurden die Gesamtkosten für einen Wiederaufbau bereits auf 250 Milliarden US-Dollar geschätzt. Dabei sind nur wenige Länder bereit oder in der Lage, bedeutende Summen in den Wiederaufbau zu investieren. Die europäischen Regierungen wollen ihn nur unter der Bedingung eines echten politischen Wandels unterstützen.
Das Ziel der Regierung Assad ist weiter, die Kontrolle über ganz Syrien zurückzuerlangen. Aber ohne ausreichende militärische Unterstützung ist sie gezwungen, sich mit weniger zu begnügen. Daher zapft sie verstärkt die rasant schrumpfenden Ressourcen an, auf die sie noch Zugriff hat: Sie erpresst Geld von Geschäftsleuten, monopolisiert Transaktionen in US-Dollar, eignet sich Land an und bietet die legale Möglichkeit an, sich vom Militärdienst freizukaufen.
Unterdessen verfolgen die regionalen und internationalen Spieler in Syrien alle ihre eigenen Ziele und Interessen. Für Moskau bleibt Syrien einer der wenigen globalen Schauplätze, an dem die westlichen Staaten aktiv Russlands Kooperation suchen. Der Konflikt ist zentral für das Streben Moskaus nach einer multipolaren geopolitischen Ordnung, in der es eine entscheidende Rolle spielen kann. Dabei hat Russland seine kurzfristigen politischen und militärischen Ziele in Syrien bereits erreicht – etwa den Zusammenbruch eines wichtigen regionalen Partners zu verhindern.
Für den Iran, einen von Assads Hauptunterstützern, ist Syrien ein zentrales Element seiner regionalen Strategie. Es dient als Landbrücke zu seinem wichtigsten nichtstaatlichen Verbündeten, der Hisbollah im Nachbarstaat Libanon, und als potenzielle Startrampe für Raketen gegen Israel, was Iran als Abschreckung versteht.
Der Einfluss der USA ist in manchen Regionen zu klein
Indem die USA in Syrien bleiben, nehmen sie diesen drei Gegnern erhebliche strategische Vorteile. Zudem kann Washington so seine lokalen Verbündeten schützen und die Reste des IS im Nordosten Syriens bekämpfen. Die Amerikaner sind zwar bei weitem nicht der wichtigste Spieler in Syrien. Aber sie behalten einen gewissen Einfluss mit ihrer Militärpräsenz, mit der Fähigkeit, zusätzliche Sanktionen zu verhängen oder bestehende aufzuheben, und mit der De-facto-Kontrolle über denkbare Hilfen zum Wiederaufbau, die sie zusammen mit den Europäern ausüben. Zwar ist der Einfluss der USA zu klein, um einen Führungswechsel in Damaskus oder eine bedeutende Veränderung des Machtgleichgewichts zu erreichen. Aber im Nordosten Syriens haben die USA verhindert, dass die Konfliktparteien – das Regime, das russische Militär, die pro-iranischen Milizen, die DKS und die Türkei – nach Belieben schalten und walten und aufeinander losgehen. Und sie haben die Rückkehr des IS verhindert.
Unterdessen betrachtet die Türkei die Lage im Nordosten und Nordwesten Syriens als klare Gefahr ihrer Sicherheit. Bereits jetzt leben fast vier Millionen syrische Flüchtlinge in dem Nachbarland im Norden, wo die Ressentiments gegen sie in der türki schen Bevölkerung wachsen. Daher zeigt sich Ankara weiter entschlossen, neue Vorstöße der syrischen Regierung nach Idlib zu verhindern, um einen neuen Flüchtlingsstrom in die Türkei zu vermeiden. Im Nordosten betrachtet Ankara die YPG, das Rückgrat der DKS, als integralen Teil der PKK, die seit 1984 einen Aufstand im Südosten der Türkei anführt; in dem Konflikt sind über 40.000 Menschen getötet worden.
Und dann ist da noch Israel, das Hunderte Luftangriffe auf Ziele in Syrien geflogen hat. Ihr Ziel ist zu verhindern, dass Teheran Syrien als Transitland und Produktionsstätte für hochmoderne Waffen nutzt, etwa für Lenkraketen, die für die islamistische Hisbollah im Libanon bestimmt sind. Solange Israel diese Bedrohung sieht, wird es weiter angreifen.
Sanktionen treffen die normale Bevölkerung
Eine der vielen polarisierenden Fragen im Syrienkrieg ist, ob die vom Westen verhängten Sanktionen wirken. Sie sollten das Regime zu einer Verhaltensänderung zwingen und insbesondere Angriffe auf Zivilisten stoppen. Bislang haben sie das nicht erreicht. Weitere Sanktionen sind daher nicht vielversprechend.
Einige Beobachter sehen in vermehrten regierungskritischen Demonstrationen in den von Assad kontrollierten Gebieten einen Hinweis, dass die Wirtschaftskrise seine Herrschaft destabilisieren könnte. Das ist jedoch unwahrscheinlich. Sanktionen können zwar einen wirtschaftlichen Zusammenbruch beschleunigen und so die Unzufriedenheit in der Bevölkerung verstärken. Aber die Machtdynamik im Land erlaubt derzeit keinen Volksaufstand oder eine Rebellion, die das Regime ernstlich bedrohen würde.
Die westlichen Staaten bestehen darauf, das Regime müsse sein Verhalten gegenüber der Bevölkerung ändern, bevor die Sanktionen aufgehoben werden können. Doch ihre Forderung nach einem Rücktritt Assads haben sie schon vor Jahren aufgegeben. Für eine mögliche Aufhebung von Sanktionen verweisen westliche Staaten immer noch auf Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrates aus dem Jahr 2015, die „ein inklusives Regierungsorgan für den Übergang mit vollen Exekutivbefugnissen“ fordert. Allerdings halten nur wenige einen Regimewechsel für realistisch und auch russische Offizielle zitieren oft die Resolution.
Sanktionen und andere Maßnahmen, die repressive Herrscher bestrafen sollen, treffen in der Regel einfache Leute am härtesten.
Die westlichen Staaten sollten präziser formulieren, welche Verhaltensänderung sie von Damaskus erwarten, wie sie diese bewerten wollen und mit welchen Gegenleistungen sie sie belohnen würden. Darüber hinaus gilt es zu verhindern, dass sich die Lebensbedingungen in Syrien und in den Nachbarländern weiter verschlechtern. Die westlichen Regierungen sollten daher in Betracht ziehen, die Hilfe für die leidende Bevölkerung zu erhöhen und zudem transparente humanitäre Ausnahmen von den Wirtschafts- und Finanzsanktionen zulassen.
Wie könnte angesichts der düsteren Lage eine politische Lösung aussehen? Schritte wie die Gespräche unter UN-Schirmherrschaft zwischen Regierung und Opposition im syrischen Verfassungskomitee in Genf haben kaum Ergebnisse gebracht und werden in der nahen Zukunft auch nicht mehr erreichen. Russland und die westlichen Länder haben unterschiedliche Ansätze zum weiteren Vorgehen. Für Moskau ist die Einrichtung des Komitees bereits ein deutliches Entgegenkommen seitens Damaskus, das belohnt werden sollte, etwa mit mehr Unterstützung für die von der Regierung kontrollierten Gebiete, mehr westlicher Wiederaufbauhilfe oder dem Aufheben von Sanktionen. Dagegen sehen die UN, die USA und andere westliche Staaten die Arbeit des Komitees lediglich als Türöffner, um die anderen Punkte der Sicherheitsratsresolution 2254 für einen politischen Übergang freizumachen, darunter eine landesweite Waffenruhe.
Solange der politische Stillstand anhält und eine umfassende Einigung außer Reichweite bleibt, scheint es das Beste zu sein, die bestehenden Waffenruhen und den Status quo zu festigen. So könnte immerhin das Leid der Bevölkerung gemildert werden. Und mit der Zeit könnte das den Weg zu gehaltvolleren politischen Gesprächen über Syriens Zukunft ebnen.
Aus dem Englischen von Carola Torti.
Neuen Kommentar hinzufügen