Schwächt die laufende UN-Reform das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen? Nein, sagt UNDP-Chef Achim Steiner, im Gegenteil. Von den UN-Mitgliedern erwartet Steiner mehr finanzielles Engagement, und die Zusammenarbeit der Vereinten Nationen mit der Privatwirtschaft hält er für unverzichtbar.
Herr Steiner, wird die Corona-Krise die multilaterale Zusammenarbeit eher schwächen oder stärken?
Nach den ersten sechs Monaten der Pandemie hätte ich gesagt, sie wird geschwächt. Länder haben sich sehr stark auf sich selbst konzentriert, multilaterale Institutionen standen unter Druck und wurden stark kritisiert. Jetzt im Frühsommer 2021 würde ich sagen, sie wird gestärkt aus der Pandemie hervorgehen. Zum einen ist heute wohl klar, dass international kooperiert werden muss, um das Virus zu kontrollieren. Zum anderen zwingen die sozioökonomischen Folgen der Pandemie vor allem in ärmeren Ländern zum gemeinsamen Handeln.
Wie hat sich die Pandemie auf die Arbeit des UNDP ausgewirkt?
Am Anfang mussten wir schnell entscheiden, ob unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Ländern weiterarbeiten können. Wir mussten die erforderliche digitale Infrastruktur aufbauen und zum Teil auch Mitarbeiter evakuieren. Der UN-Generalsekretär hat uns dann aufgefordert, in 120 Ländern die sozioökonomischen Risiken infolge der Pandemie zu analysieren und Strategien zu entwickeln. Uns ist schnell klar geworden, dass nicht nur kurzfristiges Krisenmanagement gefragt war, sondern auch die Rückkehr zur Normalität vorzubereiten.
Sind die Vereinten Nationen gut aufgestellt, mit dieser Krise und kommenden Krisen umzugehen? Kritiker sagen, die UN-Entwicklungszusammenarbeit sei ineffizient.
Wenn wir als Vereinte Nationen handeln wollen, müssen wir 193 Mitgliedstaaten davon überzeugen. Das wirkt sich manchmal auf die Effizienz aus. Die Weltgesundheitsorganisation wurde zu Beginn der Pandemie heftig kritisiert. Aber ich denke, mittlerweile ist klar, dass kein Land von sich behaupten kann, es habe in der Corona-Krise alles richtig gemacht. Andererseits: Als die WHO und Partnerorganisationen im vergangenen Jahr die COVAX-Plattform aufgestellt haben, um bereit zu sein, wenn Impfstoffe vorliegen, da ist seitens der Staaten sehr wenig passiert. Die Weltgemeinschaft hat damals die Möglichkeit verpasst, die WHO so zu unterstützen, dass wir heute nicht in der Situation wären, in der sehr viele Entwicklungsländer fast keinen Impfstoff zur Verfügung haben.
Vor vier Jahren hat UN-Generalsekretär António Guterres eine Reform des UN-Entwicklungssystems gestartet. Wie ist der Stand und was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Punkte?
Ziel der Reform ist, dass die UN-Institutionen auf Länderebene besser zusammenarbeiten. Deshalb wurde in jedem Land der Posten eines eigenständigen, direkt dem Generalsekretär unterstellten Resident Coordinator geschaffen, der die Arbeit koordiniert. Gleichzeitig wurden neue Planungsinstrumente als Grundlage für die gemeinsame Arbeit geschaffen, etwa das Common Country Assessment oder das Sustainable Development Cooperation Framework. Das hat sich in der Corona-Krise dann als sehr erfolgreich erwiesen. Wir haben als Vereinte Nationen in allen Ländern, in denen wir tätig sind, auf drei Feldern koordiniert reagiert: Gesundheit, humanitäre Hilfe und sozioökonomische Folgen der Pandemie.
Diese Reform ist nicht die erste. Skeptiker sagen, auch dieser Versuch wird die Vereinten Nationen nicht viel effizienter machen.
Den Skeptikern antworte ich: Ja, wir alle können uns eine grundlegende Reform der Vereinten Nationen vorstellen. Aber das hat mit der Realität nichts zu tun. Reformen in einem bestehenden System, das 193 Staaten gemeinsam verwalten, sind nur unter ganz außergewöhnlichen Bedingungen möglich. Die Gründung der Vereinten Nationen nach 1945 war so ein Moment. Gegenwärtig wird sich das System noch nicht grundlegend neu ausrichten lassen. Trotzdem sind Reformen wichtig und möglich. Und um noch einmal auf den Vorwurf der Ineffizienz zurückzukommen: Die Staaten geben dem UN-Generalsekretär ein jährliches Budget, das dem der Feuerwehr von New York City entspricht. Ist das angemessen angesichts der Aufgaben, die den Vereinten Nationen immer wieder übertragen werden? In den vergangenen Jahren ist die sogenannte Kernfinanzierung für die einzelnen Organisationen der Vereinten Nationen immer weiter zurückgegangen; die Staaten finanzieren zunehmend einzelne Projekte. Da stößt man schnell an Grenzen.
Zur Reform gehört der sogenannte Funding Compact – ein Vertrag, in dem die Staaten sich zu einer verlässlicheren Finanzierung verpflichten. Wie ist der Stand hier?
Es gibt Fortschritte, aber um ehrlich zu sein: Sie sind begrenzt. Deutschland hat diese Verpflichtung sehr ernst genommen und sich als wertvoller Partner erwiesen, nicht nur für das UNDP. Auf der anderen Seite erleben wir, wie ein Land wie Großbritannien seine Entwicklungsfinanzierung drastisch kürzt und seine Beiträge zu einigen UN-Organisationen um 60 Prozent verringert. Aber der Funding Compact deutet in die richtige Richtung. Vor allem muss in der Öffentlichkeit in unseren Ländern das Bewusstsein dafür gestärkt werden, was die Investitionen in die Vereinten Nationen bringen. In der öffentlichen Diskussion tauchen die Vereinten Nationen meistens nur dann auf, wenn es irgendwo eine Krise oder bei den UN einen Skandal gibt. Viel zu selten gelangt an die Öffentlichkeit, was die Vereinten Nationen jeden Tag auch im Namen deutscher Steuerzahler leisten, etwa dass hundert Millionen Menschen in akuter Notlage heute etwas zu essen haben, weil das Welternährungsprogramm oder der UNHCR vor Ort sind.
Wie verändert sich die Rolle des UNDP als Folge der Reform? Manche Fachleute sagen, Sie seien entmachtet worden, weil die Resident Coordinators früher dem UNDP unterstellt waren.
Diese Einschätzung hat es gegeben, am Anfang auch beim UNDP. Da haben sich einige gefragt: Wird uns eine Funktion genommen, die wir über viele Jahre aufgebaut haben? Ich teile das nicht. Unsere Länderdirektoren sind weiter im Amt; die Funktion des Resident Coordinator haben sie ja zusätzlich ausgefüllt, teilweise noch nicht einmal voll finanziert. Hinzu kommt: In einer Familie ist es immer schwierig, wenn ein Familienmitglied eine besondere Rolle bekommt und über allen anderen steht. Das war ein Motiv, die Funktion des Resident Coordinator von der des UNDP-Länderdirektors zu trennen und direkt dem Generalsekretär zu unterstellen. Fürs UNDP kann ich sagen: Es war durchaus eine Befreiung. Wir sind das UN-Entwicklungsprogramm, nicht das UN-Koordinierungsprogramm. Wir haben durch die Reform die Möglichkeit bekommen, uns wieder auf unsere Kernaufgaben zu konzentrieren. Zugleich haben sowohl der Generalsekretär als auch die Generalversammlung betont, dass das UNDP eine zentrale Rolle in der Zusammenarbeit der UN-Organisationen spielt. Das UNDP bleibt Rückgrat des UN-Entwicklungssystems, hat aber nicht mehr die koordinierende Rolle.
In der Entwicklungszusammenarbeit wird die Privatwirtschaft zunehmend als Partner gesucht. Welche Chancen und Risiken enthält das für die Vereinten Nationen?
Ich halte es für unabdingbar, dass wir mit der Privatwirtschaft zusammenarbeiten. Der Großteil von Beschäftigung und von wirtschaftlicher Tätigkeit findet dort statt. Wer sich nicht mit der Privatwirtschaft befasst, verpasst die Möglichkeit, volkswirtschaftlich sinnvolle und zukunftsorientierte Entwicklungspolitik zu gestalten. Wer glaubt, wir können den Klimawandel bekämpfen, die Armut reduzieren oder Internetzugang für alle schaffen, ohne mit der Wirtschaft zu kooperieren, verkennt welche Investitionen allein dafür notwendig sind. Auf der anderen Seite müssen wir als internationale Organisation auf unsere Unabhängigkeit achten und dürfen uns nicht in finanzielle Abhängigkeit begeben. Das UN-Logo hat einen Wert an sich. Partnerschaften mit Unternehmen müssen transparent sein und dürfen die Integrität der UN nicht verletzen.
Kritiker sagen, die Stiftung von Bill und Melinda Gates hat zu viel Einfluss auf die Weltgesundheitsorganisation. Was antworten Sie?
Natürlich, jede Form von Abhängigkeit schafft Risiken. Deswegen noch einmal mein Appell an die Mitgliedstaaten: Wer ein unabhängiges UN-Entwicklungsprogramm will, darf nicht sagen, schaut mal, ob ihr mehr Geld bei Privatunternehmen mobilisieren könnt, damit wir selbst nicht so viel bereitstellen müssen. Und manchmal läuft in der Kooperation mit Unternehmen auch was schief. Wenn wir erkennen, ein Unternehmen will sich in der Zusammenarbeit mit uns über sogenanntes Greenwashing nur einen Vorteil verschaffen, dann ziehen wir uns zurück. Transparenz und Rechenschaftspflicht gegenüber der Öffentlichkeit sind die wichtigsten Instrumente, um zu verhindern, dass die Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft zu einer Art Filz führt und man nicht mehr erkennen kann, was noch UN und was die Marktstrategie eines Unternehmens ist. Was das Engagement großer Stiftungen wie von Bill und Melinda Gates oder von Jeff Bezos angeht: Zum einen ist es zu begrüßen, dass sich Einzelpersonen derart engagieren. Kompliziert wird es, wenn sich daraus eine Art Mandatsrecht ableitet: Mit Geld kann man sich auch eine Agenda kaufen. Wir haben hier mit Stiftungen teilweise sehr intensive Diskussionen gehabt. Andererseits haben sie enorme Mittel bereitgestellt, um Kernaufgaben der Vereinten Nationen zu unterstützen, wo Mitgliedstaaten nicht bereit waren, das zu tun. Es ist ein zweischneidiges Schwert.
Mit welchen Unternehmen kooperiert das UNDP?
Im Finanzbereich kooperieren wir mit internationalen Banken und Investmentfonds. Ich engagiere mich im International Insurance Development Forum. Dort kommen etliche Versicherungsunternehmen zusammen, die mit uns und der Weltbank gemeinsam versuchen, in Entwicklungsländern zum Beispiel Risikoversicherungen gegen Schäden des Klimawandels aufzubauen. Oder eine grundlegende Krankenversicherung, während die Regierung des Landes das Gesundheitssystem aufbaut.
Mit welchen Fragen wird die Entwicklungszusammenarbeit sich im Jahr 2035 befassen, also fünf Jahre nachdem die UN-Nachhaltigkeitsziele erreicht sein sollen?
Ich glaube, wir werden uns auch dann noch mit Ungleichheit, Gerechtigkeit und der Suche nach einem social contract – nach einem globalen Gesellschaftsvertrag – befassen müssen. Schon vor Corona gab es in vielen Ländern ja eine weitverbreitete Skepsis gegenüber der zukünftigen Entwicklung und der Chance auf ein besseres Leben. Diese Skepsis schafft Raum für politische Polarisierung und für Extremismus. Wir dürfen uns nichts vormachen: Auch im Jahr 2035 wird die Welt noch mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten vorangehen. Es wird Regionen geben, in denen Krisen oder Konflikte zu Ruckschlägen führen. Zudem stehen wir vor der großen Aufgabe, unser gesamtes Wirtschaftssystem nach 250 Jahren neu auszurichten, um CO2-Emissionen zu reduzieren. Das heißt nicht, dass jetzt alles falsch ist und alles anders sein muss. Aber unsere Art zu wirtschaften wird im Jahr 2035 noch mitten im Transformationsprozess sein – ob es um Energiesysteme, um soziale Sicherung oder die Welternährung geht. Afrika braucht angesichts der bestehenden Lücke und des Bevölkerungswachstums bis zum Jahr 2035 voraussichtlich eine Milliarde zusätzlicher Stromanschlüsse. Das ist mehr, als China in den vergangenen 30 Jahren geschaffen hat. Immerhin: Wir werden uns dann vermutlich nicht mehr mit der Frage beschäftigen müssen, ob wir überhaupt diese großen Schritte in Richtung nachhaltige Entwicklung unternehmen müssen. Mit diesen Diskussionen haben wir in den vergangenen zwanzig Jahren viel Zeit verloren. Im Jahr 2035 wird es nicht um das Ob, sondern nur noch um das Wie gehen.
Das Gespräch führte Tillmann Elliesen.
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