Solidarität geht anders

Corona-Impfung
Damit genügend Impfstoff für alle Menschen produziert werden kann, sollte die Welthandelsorganisation den Patentschutz aufheben.

Barbara Erbe ist Redakteurin bei „welt-sichten“.
Unter denen, die sich für globale Gerechtigkeit einsetzen, stand die Welthandelsorganisation (WTO) bislang nicht an vorderster Front, profitieren doch vom Freihandel, für den die Organisation steht, vor allem reiche Industriestaaten und einige Schwellenländer. Und nun das: Die neue WTO-Generaldirektorin, Ngozi Okonjo-Iweala, appelliert an die Hersteller von Corona-Impfstoffen, den Weg für eine Lizenzfertigung ihrer Vakzine für andere Unternehmen freizumachen. Anders sei es kaum möglich, arme Länder schnell genug mit Impfstoff zu versorgen und die Pandemie weltweit zu bekämpfen. 

Recht hat sie. Denn während Politiker aus Europa und den USA darüber streiten, wer die eigene Bevölkerung am besten schützt und große Impfstoffhersteller nicht bereit sind, weiteren Unternehmen Produktionslizenzen zu erteilen, verfügen rund 130 Staaten noch über fast keine Dosis Impfstoff. 

Nationale Hamsterkäufe und Exportkontrollen

Anders als in der Rhetorik des freien Handels immer wieder propagiert, setzen etwa die Regierungen der USA, Großbritanniens oder auch von EU-Staaten bei der Impfstoffversorgung statt auf Freihandel doch lieber auf Exportkontrollen für Medizingüter und auf nationale Hamsterkäufe. Länder wie Israel weisen auch deshalb eine hohe Impfquote auf, weil sie sich vorab viele Millionen Impfdosen gesichert haben. Die EU wiederum wirft dem Unternehmen AstraZeneca vor, Impfdosen nach Großbritannien geliefert und gleichzeitig seine Lieferversprechen an die EU nicht eingehalten zu haben – obwohl Vorprodukte des Impfstoffs aus der EU geliefert wurden.

Niemand bezweifelt ernsthaft, dass das Virus überall auf der Welt besiegt werden muss, damit es nicht Mutanten bildet und immer wiederkommt – auch zurück in Regionen, die sich davon schon einmal befreit hatten. Solidarität ist aus diesem Grund nicht nur moralisch angesagt, sondern angesichts der Gesundheitskrise lebensnotwendig. Und doch scheint dem reichen Norden gerade das Hemd näher als der Rock zu sein. Mit Ausnahme des schwedisch-britischen Unternehmens AstraZeneca, das mit einem brasilianischen Institut kooperiert und auch in Indien produziert, sind Impfstoffe aus westlichen Industrieländern in Entwicklungs- und Schwellenländern momentan praktisch nicht verfügbar – auch wenn der Egoismus der Reichen mit der unter anderem von der EU mitfinanzierten COVAX-Initiative der Weltgesundheitsorganisation zumindest gebremst wird. Sie soll sicherstellen, dass auch ärmere Länder mit Corona-Impfstoffen versorgt werden. 

Verwundbare Gruppen am Schluss der Impfschlange

Das asoziale Muster, das sich durch die globale Impfpolitik zieht, findet sich innerhalb der wohlhabenden Gesellschaften wieder. So stehen auch hierzulande verwundbare Gruppen ohne starke Lobby am Schluss der Impfschlange: Kassenkräfte im Supermarkt, Taxifahrer, Mitarbeiter in Schlachthöfen, Flüchtlinge in Gruppenunterkünften. Vernünftig im Sinne der Virenbekämpfung ist das nicht.

Mit China und Russland haben nun zwei Staaten, die sich bislang nicht gerade durch Engagement für Menschenrechte oder soziale Gerechtigkeit ausgezeichnet haben, die Bedeutung der Impfstoffpolitik erkannt. Während westliche Industrieländer über Exportstopps für Impfstoffe und Medizinartikel debattieren, liefern die beiden Staaten ihre Vakzine Sinovac, Sinopharm, CanSino (China) und Sputnik V (Russland) nach Lateinamerika, Osteuropa, Asien und Afrika – in Regionen, die vom Westen derzeit wenig zu erwarten haben. Selbstverständlich tun die beiden das nicht ohne Hintergedanken. Vor allem China präsentiert sich als technisch und wirtschaftlich starke, aber eben auch global verantwortliche Macht. Darüber hinaus öffnet die weltweite Nachfrage nach Impfstoff den chinesischen Pharmakonzernen Chancen, in einem Markt Fuß zu fassen, den westliche und indische Unternehmen mehr oder weniger unter sich aufgeteilt hatten. Aber auch wenn geopolitische Interessen dahinterstecken: Wer könnte es den Empfängern verdenken, wenn sie die Lieferungen dankbar annehmen und sich den Lieferanten gegenüber in Zukunft erkenntlich zeigen – nicht zuletzt bei Abstimmungen in UN-Gremien?  

Was die im Westen entwickelten Vakzine anbelangt, entscheiden deren Patentinhaber im Augenblick alleine, wo und in welchen Mengen sie hergestellt werden und wer sie bekommt. Die Forschung dazu wurde aber öffentlich mitfinanziert. Es wäre also nicht nur fair, sondern auch angezeigt, im Kampf gegen das Coronavirus nicht nur die Herstellungskapazitäten für Medikamente, Spritzen und Tests im globalen Süden weiter zu fördern. Die Welthandelsorgsanisation kann und sollte darüber hinaus beschließen, den Patentschutz für Corona-Impfstoffe für die Dauer der Pandemie auszusetzen. So lange, bis genügend Impfstoff für alle Menschen produziert werden kann.   

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erschienen in Ausgabe 4 / 2021: Abholzen, abbrennen, absperren
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