Sprache der Freiheit

MusUk Nolte
Liberato Kani ist heute einer der bekanntesten Rapper Perus. Er lernte Quechua bei seinen Großeltern. Hier ist er beim Dreh zu einem seiner Musikvideos. 
Quechua in Peru
Quechua, die Sprache der Indigenen im Andenraum, galt lange als verpönt. In Peru erlebt sie heute ein Revival und inspiriert eine lebendige Musikszene.

„Allin punchaw, yachachiq Fredy“ tippen Fredy Nuñez’ Schüler jeden Morgen um sieben Uhr in ein Chat-Fenster: „Guten Morgen, Lehrer Fredy.“ Ihr Quechua-Unterricht beginnt. Per Gruppenchat bringt der Lehrer acht erwachsenen Schülern die Grundzüge der Sprache bei, die einst in ganz Peru und darüber hinaus gesprochen wurde. Er selbst hat Quechua erst als Erwachsener gelernt. Seine aus den Anden nach Lima zugewanderten Eltern redeten noch auf Quechua, wollten aber nicht, dass ihre Kinder die Sprache lernten, aufgrund derer sie in der Hauptstadt von der weißen Oberschicht ständig diskriminiert wurden.  

Seit ein paar Jahren dreht sich die Stimmung: „Wenn ich heute auf dem Markt mit einer Händlerin ein paar Worte Quechua spreche, dann finden das die Zuhörenden auf einmal cool“, berichtet Fredy Nuñez. Zu seinem Unterricht kommen vor allem Menschen, die das Quechua entweder für ihren Beruf brauchen – als Polizist, im Gesundheitsbereich oder als Lehrer auf dem Land. „Und diejenigen, die es nicht lernen müssen, aber stolz sind auf die Kultur ihrer Vorfahren.“

Die Zahl seiner Onlineschüler hat sich seit Beginn der Corona-Pandemie verdoppelt. „Die Leute sind mehr im Internet unterwegs, haben mehr Zeit“, erklärt sich Quechua-Lehrer Fredy Nuñez das zunehmende Interesse an seinem Unterricht. Auch die Stadt Lima und die Nationalbibliothek boten zu Beginn der Pandemie Online-Kurse an und waren überrascht ob der großen Nachfrage. Dabei steht Quechua in dem Ruf, ähnlich schwer zu lernen zu sein wie Finnisch oder Türkisch. Denn das Runasimi, übersetzt „die Sprache des Menschen“, ist eine sogenannte agglutinierende Sprache. Das bedeutet, dass Wörter um beliebig viele Suffixe, also Nachsilben, erweitert werden können. Manche Worte machen an Länge durchaus der deutschen „Donaudampfschifffahrtsgesellschaftskapitänsmütze“ Konkurrenz.

Fredy Ortiz mit seiner Rockband Uchpa hat vor 30 Jahren als Erster in Quechua auf der Bühne gesungen. Inzwischen folgen auch Künstler aus anderen Genres seinem Beispiel.

Das Quechua ist mit keiner anderen Sprache verwandt, zeigt aber selbst so viele Varianten, dass es eine eigene Sprachfamilie bildet. Die meisten Menschen, die es sprechen, – 3,8 Millionen laut aktuellem Zensus – leben in Peru. Danach folgen Bolivien mit 1,7 Millionen und – in weitem Abstand – Ecuador, Argentinien und Kolumbien. Damit sprechen weltweit mehr Menschen Quechua als Dänisch oder Schweizerdeutsch.

Aber es gibt einen großen Unterschied zwischen Quechua und den kleinen europäischen Sprachen: Weder Dänisch noch Schweizerdeutsch sind in Gefahr, auszusterben. In Peru dagegen ist das Quechua gefährdet, obwohl es in einigen Bergregionen Amtssprache ist.

Quechua gilt als Sprache der Armen

Die richtige Standardisierung des Quechua als Schriftsprache ist bis heute Gegenstand erbitterter Auseinandersetzungen zwischen Quechuologen aus der einstigen Inka-Metropole Cusco einerseits und aus der Andenstadt Ayacucho andererseits. Der Streit hat schon viel Energie gekostet. Energie, die fehlt, um gegen das Grundübel anzugehen, unter dem das Quechua als Sprache und vor allem die Quechua-Sprechenden in Peru leiden: „Quechua ist zwar keine aussterbende Sprache, aber sie wird nicht mehr auf natürlichem Wege von einer Generation an die andere weitergegeben“, sagt Linguistikprofessorin Virginia Zavala von der Katholischen Universität Perus. Daran ändert auch der jüngste Quechua-Boom nichts. Zavala geht mit der Sprachpolitik des peruanischen Staats harsch ins Gericht.

Zwar gebe es eine zweisprachige interkulturelle Bildung, aber nur in Quechua sprechenden Dörfern auf dem Land. Schon in der Nachbarstadt gebe es nur Spanisch an der Schule. „Quechua gilt als eine Sprache, die man nur spricht, solange man noch kein gutes Spanisch kann“, sagt Zavala. Die zweisprachigen Lehrer würden ihren eigenen Kindern kein Quechua beibringen. „Quechua gilt immer noch als Sprache der Armen“, sagt die Linguistin.

Parlamentspräsidentin legt ihren Schwur auf Quechua ab

Zumindest auf symbolischer Ebene sei aber einiges erreicht worden. Im November legte eine der Präsidentinnen des Parlamentes ihren Schwur auf Quechua ab – und alle waren voll des Lobes. Noch vor vierzehn Jahren hatte eine Abgeordnete aus Cusco für dieselbe Aktion Häme geerntet. „Es sind neue Zeiten für das Quechua“, sagt Virginia Zavala. „Aber das ist noch nicht genug.“

Ein Zeichen der Hoffnung: Bei der letzten Volkszählung im Jahr 2017 haben sich zum ersten Mal mehr Menschen als Quechua-Sprechende identifiziert als in der Zählung zuvor. Es sind zwar nach wie vor 13 Prozent der Bevölkerung Perus, aber die absolute Zahl der Quechua-Sprechenden hat dank Bevölkerungswachstum leicht zugenommen.

Viel zum Erhalt des Quechua beigetragen hat auch die Musikszene. Traditionelle Volksmusiker singen bis heute auf Quechua. Musiker wie Fredy Ortiz, Liberato Kani oder Renata Flores fusionieren das Quechua mit den modernen Musikstilen Rock, Hip-Hop und Trap-Pop und haben damit großen Erfolg.

Alles Wissenswerte zum Schutz vor dem Coronavirus und zu Hygienemaßnahmen steht auf diesem Flugblatt auch in Quechua.

Wenn Fredy Ortiz auf die Bühne kommt, tobt das Publikum. In verblichenen Jeans und mit dem bunten, schrillen Kopfschmuck der traditionellen Scherentänzer tanzt und singt der Rockmusiker zu elektrischer Gitarre, Schlagzeug, Bass sowie Violine und Harfe.

Vor 30 Jahren hat Ortiz die Rockband Uchpa gegründet. Es war die erste Band, die Rock auf Quechua sang. Die Bandgründung war ein Zufall: Fredy Ortiz lernte als junger Polizist in Ayacucho einen Gitarristen in einem Bus kennen, und beide machten gemeinsam Rockmusik in ihrer Muttersprache Quechua. Irgendwann nahmen sie eine Kassette auf und verteilten sie im Freundeskreis. Die Kassette wurde unter der Hand weitergegeben und kopiert. Damit war Uchpa geboren. Übersetzt bedeutet der Bandname „Asche“ und erinnert an die vielen Toten des Bürgerkriegs in Ayacucho, von denen nur Asche geblieben ist.

Lange galt Uchpa als Geheimtipp in der peruanischen Rockszene. In den 2000-er Jahren folgte ein Konzert dem anderen, Plattenaufnahmen und Tourneen im Ausland. 2007 trat Ortiz aus dem Polizeidienst aus und konnte sich endlich seinen Traum erfüllen: lange Haare. Heute tanzt der 57-Jährige mit der grauen Lockenmähne immer noch auf der Bühne wie vor 30 Jahren als Rocker und mischt Rock mit peruanischer Folklore. 

[video:https://www.youtube.com/watch?v=f_5TbqJb3K8]

Von Uchpa war eines der ersten Lieder, die Renata Flores aufnahm. Fredy Ortiz und Uchpa, das ist für sie die Musik ihrer Eltern. Und was für Uchpa die Konzertbühne ist, ist für die 19-Jährige die Videokamera und ihr Aufnahmestudio, aus dem sie ihre Videoclips auf Youtube hochlädt.

Renata Flores wuchs in der Andenstadt Ayacucho auf. Ihre Eltern waren in ihrer Jugend Rockmusiker, die Mutter unterhält heute eine Musikschule und einen Kulturverein. „Meine Eltern sprachen miteinander Quechua, wenn sie nicht wollten, dass ich sie verstehe“, sagt Flores. Das weckte ihre Neugierde. Doch obwohl Ayacucho zu den Regionen mit hohem Quechua-Anteil zählt, hörte sie in ihrer Schule nur Spanisch.

Ein Lied von Michael Jackson auf Quechua

Mit 14 Jahren nahm Flores auf Anregung ihrer Mutter ein Lied von Michael Jackson auf Quechua auf. „Es sollte nur ein Gruß zum Nationalfeiertag sein“, erinnert sie sich. Das Video wurde unzählige Male geteilt und ein neuer Quechua-Star war geboren. Sogar die New York Times hat über die Quechua-Rapperin berichtet. Später traute sie sich, selbst Lieder auf Quechua zu schreiben. „Zuerst schreibe ich meine Texte auf Spanisch, dann übersetzte ich sie ins Quechua.“ Bis heute nimmt Renata Flores Quechua-Unterricht, um die Sprache immer besser zu beherrschen.

In ihrem Videoclip zu „Qam hina“ (Wie sie) singt sie über das harte Leben der Mädchen auf dem Land in Peru. Zum Beispiel darüber, wie sie oft stundenlang zu Fuß in die Schule gehen. Ihre Großmutter hatte als Lehrerin in vielen Dörfern unterrichtet und gab ihr wertvolle Hinweise. „Der Clip soll den Mut und die Stärke dieser Mädchen darstellen, die viele Hindernisse überwinden müssen, nur um zur Schule zu gehen“, erklärt die junge Sängerin.

[video:https://www.youtube.com/watch?v=UGkyV2G7hGE]

 „Mach doch einen Song auf Quechua!“  Sieben Jahre ist es her, dass der damals 20-jährige Ricardo Flores dem Vorschlag eines Kumpels nachkam und seine Rap-Texte auch in Quechua verfasste. Seit der Schulzeit rappten Richard und seine Freunde auf den „azoteas“, den offenen Dächern seines Viertels im Süden Limas. Da es in Lima nie regnet, sind die Flachdächer der nie zu Ende gebauten Häuser ein idealer Treffpunkt für Jugendliche. Anders als seine Freunde, konnte Ricardo Quechua, weil er zwischen seinem neunten und elften Lebensjahr bei seinen Quechua sprechenden Großeltern in einem kleinen Dorf in den Anden lebte. Auch wenn er die Sprache in Lima nie anwendete, vergaß er sie nicht. Seine Rap-Texte in einem Quechua-Spanisch-Gemisch kamen so gut an, dass er seinem Künstlernamen „Liberato“ (frei, befreit, auf Italienisch) das Quechua-Wort „Kani“ („Ich bin“) anfügt. 

[video: https://www.youtube.com/watch?v=s-k_87W_eSQ]

Als Liberato Kani, als freier Mann, ist Ricardo Flores heute einer der bekanntesten Rapper Perus. Seine Texte sprechen von seinen Träumen, seiner Utopie, dem Protest gegen die herrschende Politik, aber auch von der Mystik der Anden. Sie werden weit über Peru hinaus gehört – nicht nur von Quechua-Sprechern. „Wir hören ja auch Musik in Englisch, ohne Englisch zu verstehen. Warum sollten nicht jemand Musik in Quechua hören, auch wenn er es nicht versteht? Das motiviert doch, die Sprache zu lernen.“

Im Februar 2020 hatte er seinen größten Erfolg: er rappte vor 500 Zuschauern im Peruanischen Nationaltheater. Kurz danach kam Corona und damit eine schwere Zeit für alle Künstler, auch für Ricardo alias Liberato Kani. Er nutzte die Zwangspause, um eine neue CD einzuspielen. „Pawaskay“ – Abheben. Ende Januar hat er sie per Youtube dem Publikum vorgestellt. All die Jahre studierte Ricardo Flores nebenbei an der staatlichen Lehreruniversität. Inzwischen hat er ein Diplom als Geschichtslehrer. Seit einem Jahr erkennt seine Universität Quechua-Kenntnisse, und nicht mehr nur Englisch, als Fremdsprache für die Abschlussprüfungen an. Immerhin ein Schritt hin zur Anerkennung des Quechua. „Aber es müsste noch viel mehr passieren. Quechua müsste in den Schulen und im Wirtschaftsleben gelehrt werden“, meint der Rapper. 

Denn dazu, dass die neue Euphorie für das Quechua zu nachhaltiger Sprachpolitik wird, fehlt noch einiges. Das merkt auch Lehrer Fredy. Oft springen Schüler ab, wenn sie keine Zeit mehr haben oder wenn es ihnen zu schwer wird. Yachachiq Fredy bietet dann einfach einen neuen Anfängerkurs an. Denn Menschen, die endlich die verlorene Sprache ihrer Eltern und Großeltern lernen wollen, gibt es in ganz Peru zuhauf.

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erschienen in Ausgabe 4 / 2021: Abholzen, abbrennen, absperren
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