Japan gehört zu den reichsten Nationen der Welt, die Mongolei hingegen gilt als Land mit unterem mittlerem Einkommen. Die Bevölkerungszahl ist vierzig Mal und das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen zehn Mal kleiner als in Japan, ein Drittel der Mongolen lebt unter der nationalen Armutsgrenze. Doch auf dem geheiligten Boden des japanischen Sumorings feiern Mongolen glänzende Siege.
Sumo gehört zu den ursprünglichsten Ausdrucksformen der traditionellen japanischen Kultur. Die in hohen Ehren gehaltene Kunst war Ausländern lange verschlossen. Doch als während der 1970er und 1980er Jahre der Wohlstand in Japan stieg, fanden sich immer weniger Nachwuchsringer, die bereit waren, das äußerst harte Leben eines Sumotori auf sich zu nehmen. Dazu tritt ein Teenager in eine spezielle Schule ein, einen „Stall“, wo ihn ein spartanisches Leben erwartet. Ein strikter Zeitplan regelt die Tage vom Aufwachen bis zum Einschlafen – Details der Körperpflege, Dienstpflichten gegenüber Höherrangigen, Kochen, Essen und vor allem das Training. Jeder Augenblick im Leben eines Sumo-Novizen wird vom Stallmeister und den älteren Ringern kontrolliert. Als wäre das nicht hart genug, werden die jungen Sportler oft noch von den Älteren geschlagen.
Talentwettbewerbe in der Mongolei
Als es nicht mehr gelang, in Japan genug junge Talente zu finden, beschloss man, den Sport für Ausländer zu öffnen. Den Anfang machte eine Gruppe Amerikaner aus Hawaii und Samoa in den 1980er Jahren. Im Jahr 1992 fand dann der erste Talentwettbewerb in der Mongolei statt, wo sich fast alle Jungen im traditionellen mongolischen Ringen üben.
Die Mongolei, ein Land mit ungefähr drei Millionen Einwohnern zwischen China und Russland, war die meiste Zeit des 20. Jahrhunderts ein sowjetischer Satellitenstaat. Als die UdSSR zusammenbrach, zogen die Russen ab und stellten ihre Finanzhilfe ein. Die Mongolei geriet in große wirtschaftliche Schwierigkeiten. Kein Wunder also, dass Eltern es als Chance für ihre Kinder betrachteten, in Japan als Ringer reich und berühmt zu werden. Ungefähr 300 mongolische Jungs meldeten sich, sechs konnten in Japan ein Sumotraining beginnen.
Gute Grundlagen für junge Ringkämpfer
Die Mongolen, von denen zwei Fünftel noch ein Nomadenleben als Viehhirten in der Steppe führen, sind Entbehrungen gewöhnt. Im Alter von drei Jahren erlernen sie das Reiten, und zwar ohne Sattel. Mit fünf fangen sie an zu ringen. Das Reiten und das Gehen auf unebenem Boden geben ihnen mächtige Beinmuskeln, die sehr vorteilhaft für den Ringkampf sind. Die körperliche Arbeit und die mongolische Kost aus Milchprodukten und Fleisch schaffen gute Grundlagen für junge Ringkämpfer.
Die japanischen Trainer erkannten, dass talentierte mongolische Ringer ihre Fähigkeiten auch im Sumo zum Einsatz bringen konnten. Obwohl Sumoringer im Schnitt gut 130 Kilo wiegen, haben viele einen Körperfettanteil von nur 20 Prozent. Man wählte gezielt schlanke, muskulöse mongolische Ringer aus, weniger die korpulenten. Im Stall sollte dann ihr Kampfgewicht auf einer soliden athletischen Grundlage aufgebaut werden.
Autor
Antonio Graceffo
ist US-amerikanischer Ökonom und lebt in Ulaanbaatar in der Mongolei. Eine längere englische Fassung des Textes ist in „The Diplomat“ erschienen.Bevor die ersten Mongolen nach Japan gingen, war Sumo dort selbst in Ringerkreisen fast unbekannt. „Die Mongolei war damals noch ziemlich von der Außenwelt abgeschnitten“, erklärt ein Taxifahrer in Ulaanbaatar. „Wir hatten nur zwei Fernsehkanäle, einen russischen und einen mongolischen. Niemand hatte eine Ahnung, was Sumo überhaupt ist.“
Das änderte sich mit den ersten Siegen der Mongolen. „Als Asashoryu sein erstes Turnier gewann, war die Begeisterung in der Mongolei groß“, erzählt Tuvshin, Arzt in Ulaanbaatar. Nun berichtete auch das staatliche Fernsehen über Sumoringkämpfe, bei Turnieren hing das ganze Land vor den Geräten und fieberte mit seinen Nationalhelden. Die Sumochampions förderten den Nationalstolz. „Asashoryu Akinori wurde zum Helden und Vorbild aller Jungs“, sagt Tuvshin.
Siegreiche Sumotori: In der Mongolei nach wie vor Helden
Die Mongolei ist immer noch ein Entwicklungsland, auch wenn sich dort in den vergangenen 20 Jahren ein bescheidener Wohlstand entwickelt hat. Handys, Internet und Satellitenfernsehen sind der jüngeren Generation heute selbstverständlich, die russische Sprache haben sie zugunsten der englischen abgelegt. Zwar interessieren sich viele Jugendliche heute mehr für Computerspiele und US-amerikanischen Basketball als für Sumo. Doch für Ringer und Kampfsportler, die Mixed Martial Arts betreiben, sind die siegreichen Sumotori nach wie vor Helden. Unter mongolischen Trainern und Mixed-Martial-Arts-Kämpfern herrscht die Überzeugung: Wir haben gezeigt, dass wir Weltklasse im Sumo sind, wir können auch Weltklasse in Mixed Martial Arts werden.
Traditionelles Ringen ist immer noch der beliebteste aktiv ausgeübte Sport in der Mongolei, aber um die Finanzierung der Kämpfer ist es schlecht bestellt. Deshalb erscheint vielen ein Wechsel ins Lager der Sumoringer attraktiv. Bei wichtigen Kämpfen winken dort Preisgelder von bis zu 20.000 US-Dollar, private Sponsoren legen nicht selten noch einiges dazu. Neben Turniergeldern erhalten Ringer ein monatliches Einkommen, das mit ihrem Rang steigt, sowie bis zu sechs Bonuszahlungen im Jahr. Ein Yokozuna kann sich auf ein Festgehalt von 26.000 US-Dollar im Monat verlassen, ein Vermögen im Vergleich zum monatlichen Durchschnittseinkommen der Mongolen von 400 Dollar.
Narantsogt Davaanyam, ein 24-jähriger mongolischer Sumoringer in der unteren Liga, folgte auf der Suche nach Ruhm seinem Vorbild Terunofuji Haruo nach Japan. Er räumt ein, dass es schwer für ihn war, in Japan Fuß zu fassen, zumal er anfangs die Sprache nicht beherrschte. Doch er sieht sich auch als Mitglied einer „glücklichen Generation“, weil er, im Unterschied zu den ersten mongolischen Sumoringern von 1992, jeden Tag zu Hause anrufen und über die sozialen Medien mit der Heimat in Kontakt bleiben kann. Heute gibt es in Japan mehr als 40 mongolische Sumoringer; so kann Narantsogt andere Mongolen treffen und findet sogar mongolische Restaurants – alles ein Luxus, den die Pioniere nicht hatten.
Erfolgreiches Comeback
Als er noch in der mongolischen Provinz Bayankhongor lebte, hatte Narantsogt denselben Sumolehrmeister wie sein Vorbild, der ältere Terunofuji. Ihm verdankt Narantsogt viele Ratschläge für sein Training und seine Karriere. Terunofuji kämpfte sich bis in den zweithöchsten Rang eines Ozeki hoch; dann plagten ihn Knieprobleme und andere Gesundheitsbeschwerden, so dass er viele Turniere verpasste. So fiel er 2017 auf den zweitniedrigsten Sumorang zurück. Eine solche Demütigung ist für die meisten Sumoringer Anlass, ihre Karriere zu beenden. Doch Terunofuji wagte ein Comeback. Im März 2020 wurde er zur Sensation des Turniers von Osaka, als er fast alle seine Kämpfe gewann. Im August gewann er dann noch das wichtige Turnier von Nagoya. Auch Mongolen, die keine Sumoringkämpfe verfolgen, haben von Terunofujis beispiellosem Erfolg gehört und sind stolz auf ihn.
Narantsogt betont, dass es über den körperlichen Schmerz und den finanziellen Verlust hinaus ein dramatischer psychologischer Rückschlag ist, so heruntergestuft zu werden. In Japan hat der Rang einer Person große Bedeutung dafür, wie ihr andere Menschen begegnen. Terunofuji büßte mit seinem Sturz allen Respekt ein. „Es ist durchaus möglich, dass wichtige Leute, die ihn zuvor gegrüßt hatten, nun einfach über ihn hinwegsahen“, sagt Narantsogt. Auf die Frage, was er über Terunofujis erstaunliche Rückkehr denkt, sagt er: „Er hat eine stählerne Natur.“
Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.
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