Die Kinosensation des Jahres 2001 in Indien war der Film „Lagaan – Es war einmal in Indien“. Erzählt wird die Geschichte eines armen, unter der Knute der britischen Kolonialherrschaft leidenden Dorfes. Nach einer besonders kargen Ernte bitten die Bewohner die Engländer darum, ihnen die drückenden Steuern zu stunden. Die Kolonialherren erklären sich einverstanden – unter der Bedingung, dass die Inder sie in einem Spiel besiegen, von dem diese noch nie etwas gehört haben, geschweige denn, dass sie es beherrschen: Cricket. Nach zahllosen Verwicklungen und schmissigen Bollywood-Songs schlagen die Dörfler auf dem dramatischen Höhepunkt des Films dann tatsächlich die Briten.
„Lagaan“ ist eine meisterhafte Inszenierung des indischen Nationalstolzes und des Zorns über die ehemalige Kolonialmacht. Zugleich setzt der Film ins Bild, wie der Sport ins Land kam. Denn auch wenn der indische Cricketkapitän Virat Kohli heute sagt: „Das ist kein Sport, das ist eine Religion!“– in Indien ist Cricket nicht entstanden. Trotzdem hat es sich zum Nationalsport Nummer eins auf dem Subkontinent entwickelt. Und es bildet einen Mikrokosmos, in dem sich all die Schwierigkeiten und Lösungsansätze in Fragen rund um Ethnie, Geschlecht, Kaste und Klasse im heutigen Indien bündeln.
Das erste Cricketmatch in Indien wurde 1721 zwischen britischen Seeleuten ausgetragen. Nach und nach verbreitete sich der Sport auch unter den Indern, angefangen mit den Parsen, die ursprünglich aus Persien stammten und als traditionelle Händler mit vielen unterschiedlichen Menschen in Berührung kamen. Laut Lars Dzikus, Sportwissenschaftler an der Universität von Tennessee, versuchten die Briten nicht aktiv, Cricket in Indien populär zu machen. Allerdings teilten sie ihre Traditionen mit den Indern, um ihre angebliche kulturelle Überlegenheit zu demonstrieren und ihre Herrschaft zu rechtfertigen.
Mehr als 250 Jahre später spielte das inzwischen unabhängig gewordene Indien gegen England im Lord’s Cricket Ground in London, dem traditionsreichsten Stadion des Sports, auch „Kathedrale des Cricket“ genannt. Das war 1983, und Indien besiegte England und nahm den Worldcup mit nach Hause. Dies sei ein Augenblick von großer „Symbolkraft und Bedeutung“ gewesen, sagt Dzikus, schließlich seien die Kolonisten in ihrem eigenen Spiel, auf eigenem Boden geschlagen worden.
Dieses Match stellte einen Wendepunkt in der Geschichte des indischen Crickets dar, bescherte es dem Sport doch schlagartig eine ungeheure Popularität und ebnete Indiens Weg zur führenden Cricketnation. „Es ist schon beeindruckend, wie sich die Inder diesen Sport zu eigen gemacht und ihm ihren Stempel aufgedrückt haben“, sagt Dzikus. Die sportlichen Erfolge Indiens und die Indian Premier League, die größte Cricketprofiliga der Welt, haben dazu geführt, dass das Geschäft mit dem Spiel heute weitgehend in Indien stattfindet. So sehr haben die Inder den Sport ihrer einstigen Kolonialherren zu ihrem eigenen gemacht, dass sich laut Dzikus für die Briten die Frage stellt: „Ist das wirklich immer noch unser Spiel?“
Indien hat neben seiner bekannten Nationalmannschaft der Herren, wegen ihrer blauen Trikots oft „Men in Blue“ genannt, auch ein Frauenteam, das sich ebenfalls wachsender Beliebtheit erfreut. Beide nehmen an internationalen Wettkämpfen teil. In der Indian Premier League, in der Talente aus der ganzen Welt auflaufen, treten acht Teams, etwa die Sunrises Hyderabad, in einem sogenannten T20-Turnier gegeneinander an, dessen Partien mit ungefähr drei Stunden relativ kurz sind. Beim Testcricket, der höchsten Austragungsform des Spiels, dauern die Matches fünf Tage. Länderspiele sind von großer politischer Bedeutung: Cricket stärkt nicht nur das Nationalbewusstsein, sondern soll auch den Zusammenhalt zwischen den verschiedenen Fraktionen Indiens fördern. Einen Höhepunkt bilden stets die Spiele Indiens gegen Pakistan, seinen wichtigsten geopolitischen Rivalen. An solchen Tagen hängen die Zuschauer auf allen öffentlichen Plätzen und in allen Wohnungen vor den Bildschirmen. Der Sportexperte Roy Kulkarni beschreibt es als große „Vereinigung im Hass auf den Gegner“. Die Emotionen schlagen hohe Wellen, und der Siegermannschaft winkt zu Hause ein triumphaler Empfang.
Die indische Nationalmannschaft setzt politische Zeichen
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Bei einer anderen Gelegenheit kniete ein Spieler der Mumbai Indians, Hardik Pandya, zur Unterstützung von #BlackLivesMatter auf dem Spielfeld nieder. Das machte Schlagzeilen, rief aber auch Unmut hervor, da sich Teams und Spieler für gewöhnlich aus der Politik heraushalten. Sie begnügen sich normalerweise mit ihrer Rolle als Symbolfiguren des Nationalstolzes. Bricht dann doch einmal jemand dieses stillschweigende Einverständnis, dann zieht es umso mehr Aufmerksamkeit auf die Themen, über die man sonst nicht spricht.
So war man gegen Pandya und einige andere rasch mit dem Vorwurf bei der Hand, sich einem „westlichen“ Politiktrend folgend für #BlackLivesMatter zu engagieren, aber über die Ungerechtigkeiten und Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land, nicht zuletzt im Cricketsport, hinwegzusehen. Beispielsweise machte der von der Karibikinsel St. Lucia stammende Cricketspieler Daren Sammy publik, dass ihn seine indischen Mannschaftskameraden des Öfteren mit einem rassistischen Ausdruck für „Schwarze“ bedacht hatten, dessen Bedeutung ihm gar nicht klar gewesen sei. Es hagelte Kritik für Spieler, die solches Verhalten dulden, während sie zugleich im Kreis anderer Prominenter das Scheinwerferlicht von Antirassismuskampagnen suchen.
Die höheren Kasten haben ein Faible für Cricket
Aktivisten wiesen auch auf den stillschweigend geduldeten Mangel an Diversität in den indischen Teams hin, der insbesondere die Kastenzugehörigkeit betrifft. Offiziell ist das Kastensystem in Indien zwar abgeschafft, dennoch hat es nach wie vor starken Einfluss auf fast alle Lebensbereiche. Die ungleiche Einkommensverteilung erhält die Hierarchie zugunsten der höheren Kasten, die auch ein Faible für Cricket haben, das wegen seiner britischen Ursprünge als „elitär“ gilt. Nissim Mannathukkaren von der Fakultät für Internationale Entwicklungsstudien der Universität Dalhousie von Nova Scotia in Kanada erklärt, dass Kinder aus wohlhabenderen Familien in der Regel bessere Schulen besuchen, in denen Trainingsmöglichkeiten für Cricket bestehen. Auch die nötige Sportausrüstung kann sich nicht jeder leisten. So haben ärmere Kinder, die auf das öffentliche Schulsystem angewiesen sind, oft das Nachsehen.
Seit 1932, als Indien zum ersten Mal an internationalen Cricketspielen teilnahm, haben nur vier Dalit, sogenannte Unberührbare im Kastensystem, für das indische Team gespielt – dabei machen sie 17 Prozent der indischen Bevölkerung aus. Trotzdem spricht sich kaum einmal ein Spieler gegen die Dynamik des Kastensystems aus. Man hält sich daran fest, dass die Nationalmannschaft für ganz Indien steht – ein Verständnis, das Kastenunterschiede irrelevant erscheinen lässt. Trainer wie Spieler scheinen überzeugt, dass sich Leistung durchsetzt und die besten Spieler es unabhängig von ihrer Kaste, Religion oder ihrem sonstigen Hintergrund an die Spitze schaffen. Allerdings bricht gelegentlich doch auch Stolz auf die eigene Kaste durch. Der Cricketstar Sachin Tendulkar präsentierte sich auf Fotos mit der Heiligen Schnur, die nur von männlichen Angehörigen der höchsten Kaste getragen wird, heute aber auch als Symbol der Unterdrückung gesehen wird.
Im Jahr 2017 forderte Ramdas Athawale, Minister für soziale Gerechtigkeit, selbst ein Dalit, die Einführung einer Quote für die indische Nationalmannschaft. Ein Viertel des Teams sollte mit Dalit und Adivasi (Angehörigen der indigenen Bevölkerung) besetzt werden. Das erregte damals viel Aufsehen, blieb aber ohne Folgen. Auch Chandra Bhan Prasad, politischer Kommentator und Herausgeber des „Dalit Enterprise Magazine“, befürwortet eine Kastenquotierung, ist jedoch skeptisch, dass sie eingeführt wird. Er vergleicht die Situation mit der Dynamik der Vereinten Nationen: „Die Dalit sind keine ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat, daher zählen sie nicht“, sagt er. Dalit-Kindern werde von klein auf „der Mut genommen, sich im Wettbewerb zu versuchen“, was bis ins Erwachsenenalter ihren Aufstieg verhindere. Warum engagieren sich die Spieler aus höheren Kasten nicht für mehr Chancengleichheit? Prasads Antwort: „Sie möchten soziale Reinheit. Sie wollen das Gefühl haben: ‚Hier sind wir sicher, unsere Umkleidekabine ist rein.‘“
Dabei ist die Idee einer Quotierung für Sportteams keineswegs völlig aus der Luft gegriffen. Südafrika hat ein solches Programm mit Erfolg umgesetzt. Dort wurde bestimmt, dass sechs von elf Spielern von dunkler Hautfarbe sein müssen, zwei davon von schwarzer. Das hat dem sportlichen Erfolg keinen Abbruch getan, das südafrikanische Team ist in den internationalen Ranglisten häufig auf den vordersten sechs Plätzen zu finden.
Wie Nissim Mannathukkaren erklärt, argumentieren die Gegner einer Kastenquotierung oft mit dem Argument der Leistung – sie setzen voraus, dass die besten Spieler es von allein an die Spitze schaffen und eine Quotierung das Team daher zwangsläufig schwächen würde. „Das Leistungsargument wird stets dazu benutzt, ausgegrenzte Personen weiter auszugrenzen“, sagt er. Nach seiner Ansicht liefert Südafrikas Programm den Beweis, dass das nicht so sein muss und Quoten funktionieren. Der Schlüssel ist die gerechte Verteilung von Ressourcen bereits im jungen Alter. „Man kann nicht einfach Plätze auf der obersten Ebene quotieren, man braucht ein Förderprogramm, das in der Kindheit einsetzt, um den marginalisierten Gruppen auch Möglichkeiten zu bieten. So schafft man eine gleiche Ausgangsbasis für alle“, sagt er.
Mehr Diversität bei den Cricketspielerinnen
Während im Team der Männer ein Mangel an Kastendiversität nicht zu bestreiten ist, zeigen sich die indischen Cricketspielerinnen deutlich inklusiver. Im Jahr 2017 gehörten dem Team, das zum Worldcup reiste, fast 50 Prozent Bahujan an, eine Kategorie, die Dalit, Indigene und andere benachteiligte Kasten zusammenfasst. Das Interesse und die Förderung von Frauencricket ist ein relativ junges Phänomen. Weil die indische Elite Cricket als Männersache sieht, können bei den Frauen auch Spielerinnen aus weniger privilegierten Gemeinschaften ihr Talent entwickeln. Laut Mannathukkaren war es auch förderlich, dass eine Reihe von Spielerinnen der indischen Nationalmannschaft offiziell bei der indischen Eisenbahn angestellt ist. Als Unternehmen der indischen Bundesregierung ist die Eisenbahn bereits auf Quotierung verpflichtet, was für mehr Diversität unter den Spielerinnen sorgt. Dieses System hat den indischen Cricketspielerinnen eindeutig nicht geschadet – ihr Team gehört zu den stärksten und erfolgreichsten der Welt. Die Herausforderung besteht darin, dieses Niveau von Diversität auch im nicht öffentlichen Bereich zu halten, wenn sie also ihre eigene (privat geführte) Liga bekommen.
Sunetra Paranjpe, die bis 2016 für das Nationalteam der Frauen gespielt hat, trainiert heute talentierte junge Spielerinnen in Mumbai. Sie sagt, dass inzwischen junge Frauen aus ganz Indien Cricket trainieren und spielen. Anfangs gab es Frauenteams eher in Städten wie Chennai und Delhi, doch inzwischen kommen die Spielerinnen auch aus kleinen Orten, erklärt sie. „Es ist aufregend, wie viel Talent sie mitbringen.“ Die Frage, ob Frauen mit derart verschiedenem Hintergrund gut zusammenspielen, beantwortet sie mit Ja und fügt hinzu: „Wenn man wirklich gut Cricket spielen will, steht immer das Team an erster Stelle.“
Die Popularität des Frauencrickets ist seit seinen Anfängen in den 1970er Jahren ständig gewachsen. Zwar wird der Cricketsport in Indien immer noch von den Männern dominiert, doch auch Frauen können inzwischen Stadien mit 75.000 Plätzen füllen. Starspielerinnen wie Smriti Mandhana sind landesweit berühmt. Im letzten Jahr musste das Team eine bittere Niederlage im Finale der siebten Weltmeisterschaft im T20-Cricket der Frauen gegen das Team der australischen Gastgeberinnen hinnehmen, doch es war auch eine Sensation, dass sie es überhaupt so weit geschafft hatten. Auch der Sportexperte Roy Kulkarni ist optimistisch: „Wenn Frauencricket überhaupt irgendwo auf der Welt Erfolg haben kann, dann in Indien.“
Paranjpe ist überzeugt, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis auch die Frauen ihre eigene Premier League bekommen. Es habe sich im Sport viel verändert seit ihrer eigenen Zeit als Spielerin. Damals blieben den Frauen die großen Stadien verschlossen, und ihre Spiele wurden nicht im Fernsehen übertragen. An Förderung mangelt es inzwischen nicht mehr, und die Matches der Frauen werden ebenfalls ausgestrahlt. Eine Premier League würde den Sport „in ganz neue Dimensionen“ heben, meint sie, und ihm endgültig zum Durchbruch verhelfen. Das wichtigste Ziel hat Paranjpe klar vor Augen: „Wir müssen den Worldcup gewinnen. Dann wird sich alles ändern.“ Der Worldcup der Frauen startet im März 2022 in Neuseeland, und das indische Frauenteam fiebert ihm bereits voller Siegeszuversicht entgegen.
Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.
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