Krankheitszeichen früh erkennen

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Hörverlust
Damit niemand in eine Behinderung hineinrutscht, muss die medizinische Versorgung aufmerksam sein, meint Sally Harvest.

Sally Harvest hat am Programm der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Hörgesundheit mitgewirkt und ist Beraterin der Christoffel-Blindenmission (CMB).
Ich bin 1954 in Südafrika geboren, und ich habe dort im Laufe von Jahrzehnten mein Hörvermögen nahezu komplett verloren, ohne dass das ernsthaft jemand bemerkt hätte. Als erstmals auffiel, wie schlecht ich hörte, war ich Ende 20. Heute frage ich mich: Warum so spät? Zumal meine Mutter, schon als ich klein war, ein Hörgerät trug. Doch wir sprachen nie darüber. 

Nicht nur in meiner schulischen Entwicklung hätte mir eine frühzeitige Diagnose vieles erspart. Sowohl in der Grund- als auch in der weiterführenden Schule nannten mich meine Lehrer regelmäßig „die dumme Sally“ oder „Sally, die Faule“. Auch im sozialen Bereich hinkte ich hinterher. Ich bekam einfach nicht mit, wenn sich andere fürs Kino verabredeten oder ob irgendwo eine Party stieg. 

Bis ich ungefähr elf Jahre alt war, hatte ich ständig etwas an den Ohren: Chronische Mittelohrentzündungen, geplatztes Trommelfell und ich schluckte eimerweise Antibiotika. Oft musste der Hals-Nasen-Ohren-Arzt zum Skalpell greifen, etwa um ein Loch in das Trommelfell zu schneiden, damit Eiter abfließen und das entzündete Mittelohr belüftet werden konnte. Mit Mitte 40 hörte ich fast nichts mehr und begann, meinen Gesprächspartnern ihre Worte hauptsächlich von den Lippen abzulesen. 

Man verliert so schnell seine Unabhängigkeit und die Kontrolle über sich selbst, wenn man schlecht hört. Manchmal bat ich eine Arbeitskollegin, einen Telefonanruf für mich zu erledigen, zum Beispiel um einen Arzttermin auszumachen. So schnell ist die Privatsphäre dahin. Wenn man schlecht hört, zieht man sich lieber zurück und meidet die vielen sozialen Anlässe, bei denen andere Fragen stellen, die man nicht versteht und die man deshalb nicht oder falsch beantwortet – und sich dabei lächerlich macht. 

Es hieß, ich sei zu faul

Als ich aufwuchs, redete niemand über das Thema Hörverlust, und manchmal scheint es mir noch immer so, als ob darüber kaum gesprochen wird – weder in der Familie noch allgemein. Hat sich also seit meiner Kindheit gar nichts verändert? Doch!

Im Jahr 2002 traf ich in Südindien ein fünfjähriges Mädchen. Sie war ein helles Köpfchen und verabschiedete sich gerade von einer Lehrerin, bei der sie Unterricht gehabt hatte. Sie schien die Schule zu genießen. Ihre Hörschwäche war festgestellt worden, als sie 18 Monate alt war. Bei ihrer älteren Schwester dagegen wurde sie erst im Alter von sieben Jahren diagnostiziert. Der Unterschied im Lernfortschritt der beiden Kinder im sozialen Bereich und in der Schule war enorm.  Durch Unterstützung der Christoffel Blindenmission (CBM) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gibt es in der Region, in der sie lebt, ausgebildete HNO-Fachkräfte, die regelmäßig Kinder auf ihr Hörvermögen untersuchen. 

In meinem Fall lief es leider anders: In der weiterführenden Schule begannen meine Leistungen deutlich abzufallen, und es hieß einmal mehr, ich sei faul und dumm. Eine Klasse musste ich wiederholen, und als ich später die pädagogische Hochschule besuchte, schaffte ich auch dort den Abschluss zunächst nicht. „Sally ist eindeutig zu faul“, hieß es. 

Als ich mit 27 doch noch Lehrerin an einer Schule geworden war, saß ich einmal im Lehrerzimmer zwischen zwei Kolleginnen. Sie redeten miteinander und fragten mich dann unvermittelt etwas. Ich drehte mich – zu spät – zur Seite und sagte: „Es tut mir leid, aber ich verstehe nicht, was ihr sagt.“ Da wurde ihnen klar, dass ich nicht schnell genug auf ihre Lippen hatte blicken können, um zu entziffern, was sie sprachen. Sie rieten mir, einen Hörtest zu machen. Der war für mich traumatisch: Ich erfuhr erstmals, dass ich schwerhörig war.

Wie vor einem großen schwarzen Loch

Von da an trug ich in beiden Ohren Hörgeräte, was zunächst eine Erleichterung war. Mit den Hörgeräten arbeitete ich 17 Jahre lang als Grundschullehrerin, doch schließlich konnte ich nicht mehr. Ich war völlig übermüdet und gestresst. Die Kinder konnte ich kaum noch verstehen. Ich fühlte mich wie vor einem großen schwarzen Loch, in das ich hineinblickte. 

Wie sollte ich nun für meine Tochter und mich sorgen? Würde ich jemals wieder arbeiten können? Es war eine harte Zeit.

Ich ging zurück an die Universität und studierte Design und Technologie. Anschließend leitete ich eine Ausbildungsakademie für Lehrer im Bereich Design und Technologie in Kapstadt. Wieder einige Jahre später zog ich nach Genf und traf dort den Hals-Nasen-Ohren-Arzt Andrew Smith. Zusammen, und mit Unterstützung der CBM, entwickelten wir das Programm „Primary Ear and Hearing Care Training Resource“, das inzwischen Millionen Menschen mit Hörschwächen geholfen hat, indem ihre Erkrankungen früh festgestellt und behandelt werden konnten. 

Wer immerzu Lippen liest, ist dauerhaft erschöpft. Vor allem im Gespräch mit mehreren Leuten ist es eine enorme Belastung, ständig den Kopf zu drehen und zu erkennen, wer spricht und was sie oder er sagt. Vor allem bei der Arbeit ist die Belastung kaum zu ertragen. 

Endlich wieder telefonieren und Musik hören

Deshalb begann ich erneut einen Studiengang: „Hör- und Kommunikationstherapie“ beziehungsweise „Rehabilitation für Hörgeschädigte“. Ich arbeitete mit Kindern und Erwachsenen, die ihr Hörvermögen teilweise oder ganz verloren hatten. Ebenso bildete ich mich im Bereich der Tinnitus-Rehabilitation weiter. 

2009 hatte ich das große Glück, ein Cochlear-Implantat, also eine Hörprothese eingepflanzt zu bekommen. Das hat mein Leben grundlegend verändert! Ich konnte die Vögel singen hören, und mit einem Mal konnte ich auch wieder Musik hören, die ich an die 30 Jahre lang vermisst hatte. Aber am besten war: Ich konnte telefonieren und meine Tochter auf ihrem Handy anrufen – das war mir 20 Jahre lang nicht möglich gewesen.

Ich weiß, wie sehr der Verlust des Hörvermögens ein Leben verändert, wie sehr er mit Angst, Einsamkeit und dem Gefühl der Ohnmacht einhergeht. Kein Kind und kein Erwachsener sollte unbemerkt eine schwere Krankheit oder Behinderung entwickeln – Schwerhörigkeit ist dafür nur ein Beispiel. Um das zu erreichen, brauchen wir weltweit eine medizinische Grundversorgung, die für alle Menschen zugänglich und aufmerksam ist. Fachkräfte im Gesundheitswesen sollten während ihrer Ausbildung lernen, frühe Symptome von Krankheiten zu erkennen, die zu Behinderungen führen können, oder auch von Wahrnehmungsstörungen – und sie behandeln. Und wir brauchen eine Gesellschaft, für die es selbstverständlich ist, dass Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben teilhaben, auch in der Schule oder am Arbeitsplatz. 

Aus dem Englischen von Barbara Erbe.

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erschienen in Ausgabe 2 / 2021: Gesundheit weltweit schützen
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