Die Staaten sollen den Klimanotstand ausrufen, hat UN-Generalsekretär António Guterres auf dem virtuellen Klima-Sondergipfel am 12. Dezember gefordert: Die Erde steuere auf eine Erhitzung um rund drei Grad bis Ende des Jahrhunderts zu. Nach dem Abschluss des Gipfels hat Germanwatch eine viel weniger düstere Bilanz gezogen: Die Ziele des Pariser Klimaabkommens, eine Erderwärmung unter 2 Grad, kämen in Sichtweite.
Beide Aussagen stützen sich auf Studien, die kurz vor dem Gipfel erschienen sind. Der diesjährige „Emissions Gap Report“ des UN-Umweltprogramms UNEP erwartet bei Fortsetzung der bisherigen Politik eine Erwärmung um mehr als 3 Grad. Der Climate Action Tracker (CAT) hat dagegen im Dezember mit dem Befund überrascht, das 2-Grad-Ziel könnte in Reichweite kommen. Das verwirrt zunächst: Wie steht es denn nun?
Ein genauer Blick zeigt: Szenarien zum Fortgang des Klimawandels beruhen auf vielen unsicheren Annahmen und taugen nur begrenzt als Entscheidungshilfe – zumal viele von der Absicht beeinflusst sind, mit Schreckensmeldungen aufzurütteln oder mit Erfolgsmeldungen der Resignation entgegenzuwirken. Das UNEP gibt den Warner: Es stellt fest, dass die globalen Emissionen 2016 bis 2019 weiter gestiegen sind, 2019 sogar besonders stark wegen vieler großer Waldbrände. Unter der Annahme, dass die Klimapolitik der Staaten bleibt wie bisher, ergebe sich eine Erderhitzung um über 3 Grad bis 2100.
In jedem Fall unzureichend
Der CAT kommt für den Fall zu fast dem gleichen Ergebnis. Anders aber, wenn man annimmt, dass alle Staaten ihre bis November 2020 selbst erklärten Klimaziele einhalten (5 der 20 führenden Industrie- und Schwellenländer, der G20, verfehlen die jedoch bisher). Laut CAT ergäbe das eine Erderwärmung von noch etwa 2,6 Grad, laut UNEP dagegen über 3 Grad. Ein Grund der Diskrepanz scheint zu sein, dass das CAT auch Ziele mitzählt, die mit Bedingungen versehen sind wie etwa, dass der betreffende Staat Hilfe von außen erhält.
In jedem Fall sind diese Ziele unzureichend. Wie soll dann das 2-Grad-Ziel in Reichweite kommen? Weil viele Staaten erklären, sie würden bis 2050 klimaneutral, also die nationalen Emissionen auf netto Null bringen. Das haben bis November 126 Staaten, darunter China und die EU, sowie die künftige US-Regierung von Joe Biden verkündet; sie sind zusammen für fast zwei Drittel der globalen Emissionen verantwortlich. Dies ist auch für das UNEP eins der größten Hoffnungszeichen.
Auf Basis der Annahme, dass alle einschließlich der USA dieses Ziel erreichen, ermittelt das CAT eine Erwärmung um „nur“ rund 2,1 Grad bis 2100. Das UNEP kommt auf 2,5 bis 2,6 Grad. Die Gründe für die Diskrepanz sind schwer auszumachen. Doch keine Berechnung kann hier verlässlich sein. Denn für die Summe der Emissionen bis 2050 kommt es nicht nur darauf an, wann sie Null werden, sondern auch ob sie bis dahin gleichmäßig sinken, anfangs schnell und dann langsamer oder aber umgekehrt. Wie das verlaufen soll, kann man bisher nur mutmaßen.
Dass Netto-Null-Ziele das 2-Grad-Ziel in Reichweite bringen, ist aber leider zweifelhaft. Erstens ist die Annahme, dass sie alle erreicht werden, überaus kühn. Nur wenige Länder haben dafür Strategien, und ihre eigenen Klimapläne bis 2030 stehen im Widerspruch zu ihrem langfristigen Ziel; darauf weisen sowohl das UNEP als auch der CAT hin. Wenig ändert daran, dass jüngst unter anderem die Europäische Union, Großbritannien und Kolumbien ihre Minderungsziele für 2030 nachgebessert haben,. Und die Populisten in den USA und Brasilien haben gezeigt, dass Schritte für Klimaschutz schnell wieder rückgängig gemacht werden können.
Widerspruch zum Artenschutz
Zweitens ist das Ziel „netto Null“ an sich fragwürdig. Es bedeutet, dass weiter Treibhausgase freigesetzt werden und das ausgeglichen wird mit Entnahmen von Kohlendioxid aus der Atmosphäre, sogenannten Removals. Die können auch im Ausland stattfinden, wie die Schweiz es plant. Weil aber künftig alle Länder Klimaneutralität erreichen sollen, werden alle eigene Restemissionen ausgleichen müssen. Der Bedarf wäre riesig.
Doch das Potenzial ist begrenzt. Removals sind bisher in großem Maßstab und zu vertretbaren Kosten vor allem dadurch möglich, dass natürliche Senken wie Moore, Wälder und Böden geschützt, renaturiert oder vergrößert werden. Das ist unbedingt sinnvoll. Es ist aber unverantwortlich, dabei alles der maximalen CO2-Aufnahme unterzuordnen. Das käme in Widerspruch zum Artenschutz, zur Anpassung der Landwirtschaft und der Ökosysteme an unvermeidliche Klimaänderungen und zu den Rechten der im betroffenen Gebiet lebenden Menschen.
Mehr noch: Wie viel Kohlenstoff so überhaupt gebunden wird und wie dauerhaft, ist oft ungeklärt. Zum Beispiel werden in den USA Zertifikate für Removals aufgrund der Annahme geschaffen, dass Agrarland mehr Kohlenstoff bindet, wenn man es nicht pflügt. Forscher haben aber gefunden, dass in den oberen Bodenschichten dann mehr, in den unteren weniger Kohlenstoff steckt; die Summe ändere sich kaum. Dass große Waldbrände schnell gespeicherten Kohlenstoff wieder freisetzen können, hat man 2019 gesehen. Grundsätzlich ist es fragwürdig, die Verbrennung fossiler Kohle gegen lebende Pflanzenmasse aufzurechnen. Denn sind Kohle oder Erdöl einmal verbrannt, dann zirkuliert der zuvor unter der Erde gelagerte Kohlenstoff zwischen Lebewesen, der Atmosphäre und dem Ozean – er verschwindet nicht wieder.
Kritischer Umgang mit Szenarien und Zielwerten
In Netto-Null-Zielen steckt also viel Schönfärberei. Daher sollten NGOs und die EU in globalen Klimaverhandlungen dafür streiten, dass Emissionsminderungen und Removals getrennt ausgewiesen werden müssen, statt sie miteinander zu verrechnen. Doch leider verrechnet die EU selbst: Ihr neues Ziel, bis 2030 die eigenen Emissionen um 55 Prozent zu senken, berücksichtigt den Ausbau von natürlichen Senken in Europa und läuft deshalb laut der NGO Carbon Market Watch nur auf eine tatsächliche Minderung um 51 bis 53 Prozent hinaus.
Es ist zudem höchste Zeit für einen kritischen Umgang mit Szenarien und Zielwerten. Sie zeigen bestenfalls, wie man nach heutigem Stand der Klimamodelle die Erderwärmung theoretisch bremsen könnte, wenn das weltweit politisch durchsetzbar wäre. Und auch dazu müssen sie problematische Annahmen treffen, etwa zu Removals. Das kann Debatten auf ein falsches Gleis lenken.
So gehen die Szenarien durchweg von einem mehr oder weniger hohen Wirtschaftswachstum aus, was mehr Energie- und Ressourcenverbrauch trotz Effizienzgewinnen bewirkt. Die Heinrich-Böll-Stiftung hat jüngst ein einfaches alternatives Szenario vorgelegt. Danach ist das 2-Grad-Ziel ohne Removals erreichbar, wenn zusätzlich zum Einsatz grüner Technik der durchschnittliche Konsum im globalen Norden (und nur dort) sinkt – etwa Straßentransporte, Fernflüge, der beheizte Wohnraum pro Person und der Fleischverzehr. Das erinnert stark an Leitbilder wie „gut leben statt viel haben“ aus den Studien zum zukunftsfähigen Deutschland von 1995 und 2008. Auch deren politische Wirkung war begrenzt. Doch dazu trägt bei, dass vorherrschende Szenarien die Option von vornherein ausblenden und die Erderwärmung als technisches Problem behandeln – und dass alle auf deren Zahlen starren.
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