Bereits im Jahr 2007 wetterte der damalige Präsident Perus, Alan García, in einer berühmt-berüchtigten Rede gegen einen seiner Ansicht nach übertriebenen Umweltschutz in seinem Land: „Wir haben fünfmal mehr Bodenschätze als Chile und einige wollen sie nicht ausbeuten, weil das der Umwelt schadet oder irgendwelche Gebiete heilig sind. Diese hinterwäldlerische Mentalität müssen wir überwinden.“ Um seine in Peru bis heute durchaus verbreitete Überzeugung zu bekräftigen, legte García in einem Zeitungsartikel in Anspielung auf ein spanisches Sprichwort nach: Demnach frisst der Wachhund des Gärtners selbst nichts aus dem von ihm bewachten Garten, lässt aber auch niemand anderen fressen.
13 Jahre später sind die Umweltkonflikte in der Region nicht weniger, sondern mehr geworden. Immer tiefer und immer skrupelloser dringen Ölfirmen, Bodenspekulanten und Bergbauunternehmen vor und machen sich Gesetzeslücken, Gewalt und Korruption zunutze. Laut der Organisation Global Witness stammten im Jahr 2018 mehr als die Hälfte der weltweit ermordeten Umweltschützer aus Lateinamerika: 83 von 164. Kolumbien, Brasilien, Guatemala und Mexiko belegen in der traurigen Statistik die Spitzenplätze.
Das erste regionale Umweltabkommen soll das Problem nun lindern helfen und das Recht der lokalen Bevölkerung auf eine intakte Umwelt zementieren. Von der internationalen Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt hat es der von 2012 bis 2018 ausgehandelte, im costa-ricanischen Städtchen Escazú besiegelte und nach ihm benannte Vertrag bis nach New York zu den Vereinten Nationen geschafft, wo er bis Ende September zur Unterzeichnung auslag. Vollständig heißt das Abkommen „Regionalvertrag über den Zugang zu Information, öffentlicher Teilhabe und zu Justiz in Umweltangelegenheiten in Lateinamerika und der Karibik“. Und in gewisser Weise ist er zugleich Antwort und Ohrfeige auf Garcías Wachhunddoktrin.
Der Vertrag soll die Mitwirkungsrechte der lokalen Bevölkerung bei Großprojekten, die in ihren Lebensraum eingreifen, stärken und ausweiten. Schon heute schreibt Artikel 169 der ILO-Konvention die vorherige Befragung indigener Bevölkerungen zu Großprojekten auf ihrem Territorium vor. Der Vertrag von Escazú weitet das auf nicht indigene Bewohner von Projektgebieten aus. Sie sollen zudem nicht nur einmal befragt werden, sondern permanent Einsicht in die Planungen verlangen können. Damit soll die gängige Praxis unterbunden werden, dass Behörden ein Umweltgutachten absegnen und Firmen dann im Nachhinein gravierende „technische Änderungen“ vornehmen.
Der Vertrag verpflichtet Staaten außerdem, Daten und Studien kurzfristig – weniger als 30 Tage nach Fertigstellung – und vollständig offenzulegen. Damit soll die Verzögerungs- und Verschleierungstaktik vieler Behörden ausgehebelt werden. Rubio Coudo von der peruanischen Indigenenorganisation Aidesep sieht einen wichtigen Fortschritt auch darin, dass er den Amazonasvölkern Anspruch auf eine Rechtsprechung gibt, die ihre Sprache und Kultur berücksichtigt. Demnach müssen offizielle Umweltdokumente in indigene Sprachen übersetzt werden, und betroffene Indigene haben im Fall eines Rechtsstreites ein Recht auf Dolmetscher.
Autorin
Sandra Weiss
ist Politologin und freie Journalistin in Mexiko-Stadt. Sie berichtet für deutschsprachige Zeitungen und Rundfunksender aus Lateinamerika.Nichtstaatliche Organisationen und die Zivilgesellschaft waren von Anfang an dabei, viele junge Leute aus der Klimaschutzbewegung sowie Internetaktivisten beteiligten sich. „Wir konnten in den Plenarsitzungen das Wort ergreifen, Fragen stellen und über Länderdelegationen Vorschläge einbringen“, sagt Gabriela Burdiles von der chilenischen Umweltorganisation Fima. „Das ist ein Novum und geht viel weiter als beispielsweise die Klimaverhandlungen, in denen wir nur Beobachterstatus haben.“
Umweltschützer unter besonderen rechtlichen Schutz
Eine wichtige Innovation schreibt Artikel 9 fest. Er stellt Umweltschützer unter besonderen rechtlichen Schutz, eine Neuheit für fast alle Länder. „Wenn zum Beispiel ein Umweltschützer eingeschüchtert wird, war das für Ermittler bisher ein Delikt unter vielen“, sagt die Ökologieprofessorin Natalia Greene aus Ecuador. Mit dem Vertrag von Escazú müssten Delikte gegen Umweltschützer als schwerer eingestuft werden.
Partizipation und Transparenz hingegen sind bereits heute in nationalen Gesetzen vieler lateinamerikanischer Staaten geregelt. Umweltschützer glauben dennoch, dass der Vertrag den Druck auf Regierungen erhöhen wird. „Es mangelt an der Umsetzung, und je mehr Instrumente wir haben, umso besser“, meint die mexikanische Senatorin Verónica Delgadillo, die sich für die Ratifizierung in ihrer Heimat eingesetzt hat.
24 der 33 Staaten Lateinamerikas und der Karibik haben den Vertrag unterzeichnet, elf Staaten haben ihn mittlerweile ratifiziert (Antigua und Barbuda, Argentinien, Bolivien, Ecuador, Guyana, Mexiko, Nicaragua, Panama, San Vicente, St. Kitts und Nevis, Uruguay). Das sind ausreichend Ratifikationen, so dass der Vertrag in Kraft treten kann. In Costa Rica hat bis Redaktionsschluss nur die Corona-Pandemie die letzten Formalitäten für eine Ratifikation verhindert. Auch in Peru war der Vertrag Mitte November bereits im Kongress.
Die Parlamentsdebatten verlaufen allerdings kontrovers. Die Gegner aus der Agrar- und der Bergbauindustrie, dem Militär und konservativen Parteien führen vor allem drei Argumente ins Feld. Der Vertrag sei eine Vorstufe zur Internationalisierung Amazoniens, man verliere also Souveränität; zweitens werde die wirtschaftliche Entwicklung behindert und drittens sei das alles bereits in heimischen Gesetzen geregelt und der Vertrag damit überflüssig. Ein etwas kurioses Argument kommt aus fundamentalistischen Kirchenkreisen katholischer und evangelikaler Ausrichtung. Der Vertrag predige eine „Gender-Ideologie“ und fördere durch die Hintertür Abtreibung und Euthanasie, sagte beispielsweise der Erzbischof von Asunción, Edmundo Valenzuela. Er belegte das zwar nicht am Vertragstext, doch der Einwand reichte, dass Paraguays Regierung die Ratifizierung stoppte.
Es geht um Teilhabe an Entscheidungen
Diese Argumente seien widersprüchlich und grundlos, sagt Gabriela Burdiles. „In dem Vertrag wird klar gesagt, dass jeder Staat die Souveränität über sein Territorium behält und dass alles mit nationalen Gesetzen geregelt werden soll. Es geht nicht um Rohstoffe, sondern um die Teilhabe an Entscheidungen.“ Burdiles glaubt, dass Regierungen und Investoren die „Umweltdemokratie” fürchten. In Folge der von der Pandemie verursachten Rezession seien viele Regierungen bestrebt, Umweltregulierungen auszuhebeln und Genehmigungsverfahren zu beschleunigen. „Escazú ist für sie ein Entwicklungshindernis.“
Völlig grundlos, meint der peruanische Anwalt José Saldaña: „In Peru gibt es ständig Umweltkonflikte aufgrund lückenhafter Gesetze und institutioneller Schwächen. Das Escazú-Abkommen hilft, solche Konflikte schon im Vorfeld zu entschärfen, und schafft damit Investitionssicherheit.“ Ähnlich sieht das auch die OECD, die sich für die Ratifizierung des Abkommens ausspricht. Die Weltbank, deren Kredite für Großprojekte in der Region in den vergangenen Jahren viele Umweltkonflikte ausgelöst und Menschenleben gekostet haben – wie das der honduranischen Staudammgegnerin Berta Cáceres –, macht Escazú zwar nicht zur Voraussetzung für künftige Darlehen, befindet sich aber durchaus in Einklang damit. Der deutsche Entwicklungsfinanzierer DEG antwortete auf die Frage, ob die Ratifizierung des Escazú-Vertrags künftig Voraussetzung für Kredite werde, man nehme bereits „eine sorgfältige Umwelt- und Sozialprüfung der Vorhaben“ gemäß der Standards der Weltbank-Tochter IFC vor. Darin seien auch Mitwirkungs- und Informationsrechte enthalten.
Kritik kommt von radikalen Umweltschützern. „Der Vertrag ist voller Versprechungen, die Regierung werden das und das garantieren, ermöglichen oder überwachen“, sagt Gustavo Castro von der mexikanischen Basisbewegung Otros Mundos. Doch jegliche Verbindlichkeit werde durch Verweise auf geltende Gesetze oder nationale Prioritäten relativiert. „Das überlässt die Umsetzung letztlich dem Gutdünken der jeweilig amtierenden Regierung“, sagt Castro. Zudem gebe es keine regionale Instanz, die über Konflikte entscheidet. „Letztlich ist das ein weiterer Vertrag in der langen Reihe von Abkommen über eine nachhaltige Entwicklung, die aber unmöglich ist im derzeitigen kapitalistischen System.“
Wichtige Länder fehlen noch als Vertragsparteien
Seine Bedenken sind gut begründet: Wie man sich aus der Verantwortung stiehlt, wissen Lateinamerikas Regierungen bestens. Mexikos linke Regierung hat gerade eine Machbarkeitsstudie zur umstrittenen Eisenbahnstrecke durch die Halbinsel Yucatán als sicherheitsrelevant und damit geheim eingestuft und auf diese Weise öffentlicher Begutachtung entzogen. In Kolumbien zog die rechte Regierung bis vors oberste Gericht gegen lokale Plebiszite, in denen sich die Bevölkerung gegen Bergbau in ihrer Gemeinde aussprach. Die Verfassungsrichter gaben der Regierung recht: Bodenschätze gehörten der Nation, lokale Plebiszite könnten darüber nicht befinden.
Noch einen weiteren Wermutstropfen gibt es: Wichtige Länder fehlen noch als Vertragsparteien, so zum Beispiel gerade die drei, in denen besonders viele Umweltschützer ermordet werden. Oder auch die Amazonasanrainer Venezuela, Brasilien und Kolumbien; Venezuela hat den Vertrag nicht einmal unterzeichnet. Die amtierenden Regierungen dieser Staaten interessieren sich wenig für Umweltfragen und forcieren die Erschließung von Rohstoffen und Ackerland. Das Bild trübt auch, dass ausgerechnet Chile, das den Vertrag mit angestoßen hat, ihn bisher nicht ratifiziert hat. Chiles Verhandlungsführerin war damals die linke Präsidentin Michelle Bachelet. Die rechte Nachfolgeregierung findet immer neue Vorwände, dem Abkommen nicht beizutreten.
Natalia Greene vom Internationalen Umweltgericht für die Rechte der Natur ist dennoch zuversichtlich: „Wichtig ist, dass der Vertrag bald in Kraft tritt, auch wenn es zunächst nur mit kleineren Ländern geschieht. Dann hoffen wir, dass der Druck von unten, aber auch über multilaterale Organisationen auf die anderen wächst.“
Neuen Kommentar hinzufügen