Ein bekanntes Sprichwort in Indien lautet: „Die Engländer sind gegangen, aber sie haben uns die englische Kultur dagelassen.“ Es hat auch heute, 73 Jahre nach der Unabhängigkeit, noch seine Gültigkeit – die Nachwirkungen der Kolonialzeit sind im indischen Alltag allgegenwärtig. Angesichts der herausragenden Rolle, die die Briten über Jahrhunderte in Indien gespielt haben, ist das nicht verwunderlich. Sie kamen zunächst unter der Flagge der East India Company, einer privaten Gesellschaft, die im 17. Jahrhundert die Menschen und das Land auszuplündern begann. Die Kompanie wuchs zu einer bedeutenden politischen Macht heran, bis sie 1858 ihre Befugnisse an die britische Krone übertrug. Nach vielen Jahren des Protests gegen die Kolonialbesetzung endete die britische Herrschaft schließlich 1947.
Die Kolonialzeit hat in Indien in vielen Bereichen tiefe Spuren hinterlassen. Die technikaffine jüngere Generation ist dem Fortschritt zugewandt, muss sich aber zugleich damit auseinandersetzen, dass Jahrhunderte der kolonialen Beeinflussung Indiens eigene Hierarchien im Patriarchat, im Kastensystem und in der Klassengesellschaft verschärft haben.
Schon vor den Briten sorgten das Kastensystem und die Religion für große Spannungen in Indien, doch unter ihrer Herrschaft verstärkten sie sich. Das Kastenwesen war vor der Kolonialzeit ein übles Mittel, mit dem Hindus die Gesellschaft kontrollierten. Doch unter den Briten „verknöcherte“ das System, sagt Professor Amit Prakash vom Zentrum für Rechtswissenschaften und Governance der Jawaharlal Nehru University. Die Kastenzugehörigkeit wurde auch deshalb zum wichtigsten Merkmal der Identität, weil die britische Verwaltung sie etwa mit ihren Volkszählungen dazu machte.
Briten schürten bewusst Uneinigkeit
Zudem gehen Historiker davon aus, dass die Grundlagen der heutigen Konflikte zwischen Hindus und Muslimen von den Briten geschaffen wurden: Sie schürten bewusst Uneinigkeit, um die Gesellschaft zu kontrollieren. Zwar ist es durchaus möglich, dass sich solche Feindseligkeiten auch ohne die Briten entwickelt hätten. Doch der bekannte indische Politiker Shashi Tharoor verweist auf die klaren Worte des britischen Gouverneurs von Bombay im Jahr 1859: „Divide et impera war die Maxime des alten Rom, die wir uns zu eigen machen sollten.“ Fachleute sehen das dadurch bestätigt, dass die ersten größeren Zusammenstöße zwischen Hindus und Muslimen in die Zeit der Kolonialherrschaft fallen und ihren Höhepunkt erreichten, als die Briten das Land verließen. Bei der Abtrennung der muslimischen Teile – heute Pakistan und Bangladesch – von Indien im Jahr 1947 starben eine Million Menschen; die Briten hinterließen ein Erbe des Blutvergießens, religiöser Spannungen und der Armut.
Seit der Unabhängigkeit werden die Gründungsväter, die die britische Besatzung beendeten, mit Statuen, Liedern und Gedenktagen gefeiert. Ihre Taten werden ausführlich in der Schule behandelt. Laut Himanshu Ahluwalia von Terracotta Capabilities, einer Organisation, die in Kooperation mit Schulen jungen Menschen Starthilfe gibt, haben sich indische Kinder bis zu ihrem neunten und zehnten Schuljahr monatelang mit allen möglichen Einzelaspekten des Kolonialismus beschäftigt. Die Hälfte des Tests im Fach Geschichte bei der wichtigen zentralen Abschlussprüfung bezieht sich auf die Zeit der Kolonialherrschaft.
Großes Schweigen über die Kolonialzeit
Doch damit erfassen die Schüler nicht unbedingt die tiefere Bedeutung dieser historischen Ereignisse. Eine Aktivistin für soziale Gerechtigkeit, die sich Nikita nennt, sagt: „Es wurde nicht viel dazu vermittelt, worum es in der Freiheitsbewegung überhaupt ging. Wir Schüler dachten, wir müssten das lernen, um die Prüfung zu bestehen.“ Und obwohl im Geschichtsunterricht die Schrecken der kolonialen Unterdrückung vorkamen – etwa der Tod von schätzungsweise drei Millionen Menschen in der Hungersnot 1943 in Bengalen, während der die Briten dort Reis für ihre Soldaten beanspruchten –, hätten die Lehrer versucht, ihnen Gutes gegenüberzustellen. Eine typische Frage habe gelautet: „Nenne fünf gute und fünf schlechte Dinge, die die Kolonialzeit Indien gebracht hat.“
Autorin
Aparna Balachandran, Professorin für Geschichte an der University of Delhi, meint: „Über das Thema Kolonialzeit herrscht ein seltsames Schweigen.“ Und wo eine Auseinandersetzung damit stattfindet, ist sie häufig nicht von kritischer Analyse, sondern von Polarisierung und Instrumentalisierung geprägt.
Bollywood ist von der Kolonialzeit geprägt
Nirgends wird dies deutlicher als in den nicht endenden Versuchen, die Geschichte der Führer des Freiheitskampfes umzudeuten. Indiens erster Premierminister Jwaharlal Nehru zum Beispiel stand früher als Vertreter säkularer Werte hoch im Kurs. Heute wirft ihm die indische Rechte allzu große Nähe zum Westen vor, seine Grundsätze werden ihm als hindufeindlich oder zumindest als nicht muslimfeindlich genug angekreidet. Stattdessen ist Vinayak Damodar Savarkar, Gründer der paramilitärischen rechtsradikalen Organisation Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS), zum Helden der Rechten geworden. Dabei hatte der seinen Freiheitskämpfer-idealen abgeschworen: Während der zehn Jahre, die er in britischer Haft verbrachte, bezeichnete er sich in zahlreichen Gnadengesuchen als „unerschütterlicher Fürsprecher der Loyalität gegenüber der englischen Regierung“. Er half sogar den Briten, Tausende Inder für ihre Armee zu rekrutieren. Heute jedoch feiern Hindu-Nationalisten ihn als Freiheitskämpfer und geben ihm den Beinamen „Vir“, was der „Tapfere“ bedeutet.
Auch die Kultur des modernen Indiens ist von der Kolonialzeit geprägt – zum Beispiel die Filmindustrie von Bollywood. Der Filmkritiker Karishma Upadhyay bescheinigt ihr einen ausgeprägten Kolorismus: Die Vorstellung, dass hellere Haut besser als dunkle Haut ist, kommt nur daher, dass wir im Verlauf unserer Geschichte weißen Herren gedient haben. Es ist nahezu ein ungeschriebenes Gesetz, dass Schauspielerinnen hellhäutig sein sollen.“ Nur selten wird die Kolonialzeit im populären Kino thematisiert. Eine Ausnahme bildet der preisgekrönte Film Lagaan (2001), der die Unterdrückung durch die Briten aus der Sicht von Dorfbewohnern schildert.
Viele Museen wurden von Briten gegründet
Auch Museumskuratoren stehen oft vor der schwierigen Frage, wann und wie sie Indiens Kolonialgeschichte darstellen sollen. Darin liegt eine gewisse Ironie, sind doch viele der wichtigsten Museen von den Briten oder mit ihrer Beteiligung gegründet worden. Beispiele sind das Indian Museum in Kolkata und das Prince of Wales Museum in Mumbai, das inzwischen in Chhatrapati Shivaji Maharaj Vastu Sangrahalaya (CSMVS) umbenannt wurde.
Vor drei Jahren startete es zusammen mit dem British Museum in London ein großes Projekt zur indischen Geschichte. Die vorletzte Abteilung hieß Streben nach Freiheit und war den Jahren vor der indischen Unabhängigkeit gewidmet. Sie zeigte unter anderem Fotos von Opfern des Aufstands gegen die Briten von 1857. Anupam Sah, Chefkonservator des CSMVS in Mumbai, hat sich mit dem Prozess des Erzählens solcher komplexer und schmerzhafter Ereignisse beschäftigt. Er sagt, Museen müssten bedenken, Fotografien zu interpretieren, weil es „einprägsame Bilder gibt, die manchmal ihren Weg ins kollektive Gedächtnis der Menschen finden“. Der Kurator, sagt er, könne einen Blickpunkt auf die Geschichte wählen „und überlässt es dem Betrachter, wie er die Informationen aufnimmt und welche Gefühle sie auslösen – Trauer, Wut, Abscheu oder anderes.“ Es gehe weniger darum, dem Besucher Wissen einzutrichtern, als ihn dazu anzuregen, die Inhalte selbst zu verarbeiten.
Bestimmte Gesetze ersticken Grundrechte
Die wenigsten in Indien würden heute von sich sagen, dass sie sich Gedanken über die koloniale Vergangenheit machen. Andererseits haben die Briten die Saat für Konflikte gelegt, die bis heute andauern. Zwei notorische Beispiele finden sich im indischen Gesetzbuch. Das erste ist Artikel 377, das Gesetz gegen Homosexualität, das in Indien 80 Jahre vor der Unabhängigkeit eingeführt wurde. Im Jahr 2018 erst kippte der Oberste Gerichtshof Indiens in einer wegweisenden Entscheidung dieses Gesetz und entkriminalisierte die Homosexualität. Das zweite ist ein Gesetz gegen Aufruhr, das in Indien seit der Kolonialzeit gilt und viel härter ist als jenes in Großbritannien. Es richtet sich dem Wortlaut nach gegen Personen, die „politische Unzufriedenheit“ gegenüber der Regierung zeigen, doch in der Praxis erstickt es Freiheiten wie die Rede-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit.
Auch mit der Verfestigung des hinduistischen Kastensystems haben die Briten soziale Spaltungen verschärft. Dieses System bewirkt, dass die Angehörigen der niederen Kasten, insbesondere die Dalits, die „Unberührbaren“, über Generationen in Armut verharren und der Willkür der Hindus höherer Kasten ausgeliefert bleiben. Progressive und engagierte Inder ließen und lassen sich aber nicht abschrecken, gegen die Ungerechtigkeiten im heutigen Indien zu protestieren.
Einer von Indiens Gründungsvätern, der maßgeblich an der Ausarbeitung der indischen Verfassung beteiligt war, Bhimrao Ramji Ambedkar, war selbst Dalit. Sein Buch „Die Auslöschung des Kastensystems“ inspiriert die Kastengegner bis heute. Megha Kshirsagar kämpft für die Rechte der Dalits in Mumbai und spricht leidenschaftlich von ihrer Bewegung, die ein Ende der Kastengesellschaft herbeiführen will. Ihre Organisation Samata Kala Manch setzt sich dafür ein, dass Mitglieder benachteiligter Gruppen – Dalits, Muslime und Adivasi, also indigene Einwohner Indiens – Zugang zu Ausbildung und Teilhabe an der Macht erhalten. Nach dem Vorbild von #BlackLivesMatter hat sich in Indien eine wachsende #DalitLivesMatter-Bewegung entwickelt, die die Aufmerksamkeit auf die brutale Behandlung lenkt, der Dalits oft ausgesetzt sind.
In den vergangenen beiden Jahren gab es in Indien Proteste gegen eine Reihe von Problemen – von Artikel 377 bis zu einem antiislamischen Gesetz, das die nationalistische Hindu-Regierung auf den Weg gebracht hatte. Interessanterweise haben die Führer der Protestbewegungen die Sprache von Indiens Freiheitskämpfern übernommen und singen alte Lieder aus der Kolonialzeit wie „Hum Dekhenge“. Die Proteste gegen Artikel 377 (das Gesetz gegen LGBT) knüpfen an die Quit-India-Bewegung an, die Gandhi im Jahr 1942 ins Leben rief, um der Forderung nach einem Ende der britischen Besetzung Nachdruck zu verleihen. Und in fast allen dieser Bewegungen meldet sich die indische Jugend auch mit der schlichtesten aller Forderungen zu Wort: Wie ihre Vorgänger vor 70 Jahren skandiert sie „Azadi!“, „Freiheit!“.
Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.
Neuen Kommentar hinzufügen