Ein Traum aus Glas und Beton: Der 2008 gebaute Bahnhof in Marrakesch (Marokko).
Bahnhöfe in Marokko sind Bauten der Superlative, überdimensionierte Träume aus Glas und Beton. Der Bahnhof Rabat Agdal soll nicht weniger als der größte Afrikas sein. Von hier fährt der Hochgeschwindigkeitszug Al Boraq aus der Wirtschaftsmetropole Casablanca kommend weiter in Richtung Tanger im Nordwesten des Landes. Langsam rollt er durch die Vororte von Rabat, nimmt dann aber zusehends Fahrt auf. Hinter der Stadt Kenitra erreicht er auf schnurgerader Strecke mit über 320 Stundenkilometern seine Spitzengeschwindigkeit.
Der erste Hochgeschwindigkeitszug in Afrika braust vorbei an Wellblechhütten, kleinen Dörfern und weidenden Schafen. Man sieht Frauen, die mit gebücktem Rücken auf Feldern arbeiten, und Bauern, die auf Pferde- oder Eselskarren Waren transportieren. Der Kontrast zwischen dem hochmodernen Zug und dem Landleben entlang der Strecke könnte kaum größer sein.
Der Zug ist zum Symbol für eine ehrgeizige Politik der Modernisierung geworden, mit der König Mohammed VI. sein Land zum Vorreiter in ganz Nordafrika machen will. Bereits vor der Einweihung des Prestigeprojekts im November 2018 haben die erheblichen Kosten von rund zwei bis drei Milliarden Euro und das Fehlen jeder öffentlichen Ausschreibung aber auch für Kritik gesorgt.
Eine kosmopolitische Metropole als Drehscheibe im internationalen Handel
Seit der Jahrtausendwende hat das arabische Land durchaus wichtige Schritte auf dem Weg von einer agrarischen zu einer Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft gemacht. König Mohammed VI. oder M6, wie er in Marokko genannt wird, verfolgt dabei eine Doppelstrategie. Er will einerseits wirtschaftlich und politisch näher an Europa rücken und orientiert das Land gleichzeitig hin zu den Zukunftsmärkten in Westafrika.
Eine Schlüsselrolle für die Wirtschaftszusammenarbeit mit Europa nimmt die Stadt Tanger ein. Die kosmopolitische Metropole an der Straße von Gibraltar direkt vor der Küste Spaniens ist prädestiniert, als Drehscheibe im internationalen Handel zwischen Europa, Afrika und Asien zu dienen. Mit dem Containerhafen Tanger Med und einer Freihandelszone werden seit dem Jahr 2008 erfolgreich europäische Investoren angelockt. Heute ist Tanger Med mit einer jährlichen Kapazität von neun Millionen Containern der größte Containerhafen im Mittelmeer und hat den direkten Konkurrenten Port Said in Ägypten bereits überholt.
In der Freihandelszone haben sich neben Textilunternehmen wie der spanischen Billigkette Zara auch Airbus und Boeing und vor allem der französische Autokonzern Renault angesiedelt. Der produziert in Marokko sein Modell „Dacia“ sowohl für den dortigen Markt als auch für den Export nach Europa. Auch Peugeot stellt seit 2019 in Marokko Autos her. Als Folge sei auch eine marokkanische Zulieferindustrie entstanden, sagt Michael Monnerjahn von Germany Trade and Invest, der staatlichen deutschen Agentur für Außenwirtschaft. Rund die Hälfte der für die Produktion verwendeten Autoteile werden in Marokko hergestellt, was es sonst so in der Region nicht gibt. Zehntausende Arbeitsplätze sind entstanden. Auch der Paketdienst DHL hat im vergangenen Jahr sein neues Afrika-Europa-Logistikzentrum in Tanger aufgemacht.
Autorin
Claudia Mende
ist freie Journalistin in München und ständige Korrespondentin von „welt-sichten“. www.claudia-mende.deDiese Zahl relativiert sich zwar, wenn man das niedrige Ausgangsniveau bedenkt. Dennoch ist klar, wo Marokko seine Zukunft sieht. Für Christoph Kannengießer vom Afrika-Verein der deutschen Wirtschaft ergibt diese Strategie Sinn: „Während im alternden Europa die Märkte weitgehend gesättigt sind, ist Afrika jung und hungrig nach Wachstum, Wohlstand und Entwicklung.“ Die Region habe einen „gewaltigen Nachholbedarf“. Länder wie die Côte d‘Ivoire und der Senegal gehörten vor der Corona-Pandemie zu den Staaten mit den höchsten Wachstumsraten weltweit.
Politisch flankiert wird Marokkos Strategie durch den Wiedereintritt in die Afrikanische Union 2017 nach 32 Jahren Abwesenheit. Ebenfalls 2017 hat Marokko die Mitgliedschaft in der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS beantragt. Über die Aufnahme wurde aber noch nicht entschieden.
Mohammed VI. hat mehr als 50 Reisen in afrikanische Länder gemacht und etwa 1000 Wirtschaftsverträge oder bilaterale Abkommen geschlossen. Außerdem hat er Marokko als Bildungsstandort für junge Afrikaner positioniert. Attraktive Stipendien ziehen Studierende aus ganz Afrika an. Kamen sie in den 1990er Jahren nur vereinzelt nach Marokko, so lag die Zahl der Studenten aus Ländern südlich der Sahara im vergangenen Jahr nach Angaben des Erziehungsministeriums bei rund 20.000, die Hälfte von ihnen hat ein Stipendium des marokkanischen Staates. Für Imru Al Qays Talha Jebril vom Moroccan Institute for Policy Analysis ist diese Politik zukunftsweisend. Die Studenten könnten ein freundliches Bild Marokkos entwickeln, seine Kultur kennenlernen und berufliche Netzwerke aufbauen. Nach ihrer Rückkehr in die Heimatländer sollen sie als „Botschafter Marokkos“ die Position des Königreichs auf dem Kontinent dauerhaft stärken.
Der vermutlich reichste Mann Afrikas
Für seine Wirtschaftspolitik erhält Marokko viel Applaus aus Europa, das sich über einen stabilen Staat in Nordafrika freut. Wirtschaftsexperten loben das Geschäftsklima; im Doing-Business-Index der Weltbank ist das nordafrikanische Land von Platz 130 im Jahr 2009 auf Platz 53 im Jahr 2019 geklettert. Zudem wurde Marokko vom Arabischen Frühling nur kurz gestreift und sein Monarch pflegt eine sanfte Rhetorik, nennt sich „König der Armen“ und hat es geschafft, sich trotz repressiven Vorgehens gegen Kritiker ein vergleichsweise gutes Image zuzulegen.
Doch die guten Wirtschaftsdaten verdecken die erheblichen Defizite des marokkanischen Weges und die Spannungen, die er im Land schafft. In Marokko selbst werden diese Schattenseiten stärker wahrgenommen als in Europa. Sie liegen direkt im autokratischen System des Landes begründet, in dem der Monarch und eine mit ihm verbundene Geschäftselite Wirtschaft und Politik dominieren.
Mohammed VI. ist nicht nur der vermutlich reichste Mann Afrikas; nach Angaben des US-Magazins „Forbes“ wurde sein Vermögen 2017 auf fünf Milliarden Euro geschätzt. Er ist auch der erste Geschäftsmann und größte Investor des Landes. Staatliche und persönliche Interessen vermischen sich. Über seine Unternehmensgruppe Al Mada, die bis 2018 Société Nationale d’Investissement hieß, hält er Anteile an allen wichtigen Branchen. Wenn die Marokkaner zum Beispiel in der Supermarktkette Marjane einkaufen gehen, füllen sie auch seine Kassen. Bei Großprojekten wie Al Boraq finden keine transparenten öffentlichen Ausschreibungen oder Machbarkeitsstudien statt: Mit dem Palast verbundene Unternehmer erhalten den Zuschlag.
Diese Mängel sehen auch Michael Monnerjahn und Christoph Kannengießer. Sie betonen aber, immerhin gebe es eine klare, von oben angeordnete und auch durchgesetzte Wirtschaftsstrategie und Investitionen. In den Nachbarländern Ägypten, Tunesien und Algerien sei ein wirtschaftlich derart zielgerichtetes Handeln kaum erkennbar. Und Korruption und Vetternwirtschaft gebe es überall in der Region.
Die Marokkaner aber haben direkt mit den Schattenseiten zu tun. Sie sehen, dass sich Investitionen einseitig auf die Küstenregion mit den Wirtschaftszentren Tanger und Casablanca konzentrieren, während es abseits der Großstädte an grundlegender Infrastruktur wie Wasserversorgung, Elektrizität, Bildung, Transport oder Gesundheit fehlt. In Teilen des Landes können Kinder nicht zur Schule gehen, weil Transportmöglichkeiten fehlen oder kleine Ortschaften noch nicht einmal an das Straßennetz angeschlossen sind. Nach wie vor gibt es eine relativ hohe Anzahl von Analphabeten, vor allem unter Frauen in ländlichen Regionen. Seit 2017 gibt es in der vernachlässigten Rif-Region im Norden Proteste gegen diese soziale Ungerechtigkeit. Gegen die Anführer der Hirak-Bewegung wurden harte Strafen verhängt.
Neben einer hohen Arbeitslosigkeit vor allem bei den unter 25-Jährigen ist es diese regionale und soziale Ungleichheit, die viel Unmut hervorruft. Im Human Development Index liegt Marokko deutlich hinter Tunesien und Algerien auf Platz 121. Zehn Prozent der Bevölkerung leben in absoluter Armut. Die Ursachen für die Ungleichheit liegen laut einer Studie der britischen Hilfsorganisation Oxfam vor allem in einem schlechten staatlichen Bildungssystem, dem starken Gefälle zwischen Stadt und Land und einem besonders ungerechten Steuersystem: Unternehmen etwa in den Freihandelszonen sowie Reiche werden kaum, die Masse der Marokkaner jedoch relativ stark besteuert.
Ungleichheit und die Selbstbereicherung der mit dem Palast verbundenen Wirtschaftselite werden in Marokko zunehmend als Problem gesehen. Das entzündet sich auch am Hochgeschwindigkeitszug Al Boraq. Eine Kampagne gegen ihn war zuletzt abgeebbt, doch in der Corona-Krise sind kritische Stimmen wieder lauter geworden. „Bevor man das nächste Mal eine Hochgeschwindigkeitsstrecke baut, während es dem Krankenhaus nebenan an Desinfektionsmitteln fehlt, sollte man besser noch einmal nachdenken,“ sagte etwa Omar El Hyani, Stadtrat von Rabat und einer der führenden Köpfe der Kampagne Stop TGV, in einem Interview.
Nicht nur einzelne Stimmen äußern solche Kritik. Weil aber offener Protest wegen der Repression schwierig ist, sind neue Formen des zivilen Ungehorsams entstanden. Vor zwei Jahren riefen anonyme Netzaktivisten dazu auf, kein Mineralwasser der Marke Sidi Ali, kein Danone-Joghurt und kein Benzin bei Afriquia-Tankstellen mehr zu kaufen. Vordergründig ging es darum, dass die Produkte überteuert wären. Tatsächlich aber richtete sich die Boykottkampagne gezielt gegen führende, mit dem Königshaus verbundene Unternehmer, sagt der marokkanische Ökonom Omar Brouksy. Der Erfolg lässt sich daran bemessen, dass der Umsatz allein bei Danone in Marokko nach Angaben des Unternehmens innerhalb weniger Wochen um 150 Millionen US-Dollar zurückgegangen ist.
„Wir haben es hier mit einem neuen öffentlichen Bewusstsein zu tun“, stellte Transparency Maroc fest. Die Marokkaner sind immer weniger bereit, soziale Ungleichheit und Vetternwirtschaft als naturgegeben hinzunehmen. Ohne eine Kurskorrektur auf dem Weg der Modernisierung muss Mohammed VI. befürchten, dass die Bürger Marokkos ihm nicht mehr lange folgen.
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