Peking will mehr Kinder, aber nur die richtigen

Kevon Frayer/ Getty Images

Die Familie eines tibetischen Nomaden bricht per Motorad auf, um wertvolle Pilze zu suchen. Weil Angehörige nationaler Minderheiten früher mehr Kinder haben durften als Han-Chinesen, ist ihr Anteil an der Bevölkerung gewachsen.
 

Bevölkerungspolitik
Die Kommunistische Partei Chinas hat die Ein-Kind-Politik auf den Kopf gestellt: Es sollen mehr Kinder geboren werden – aber weniger in ethnischen Minderheiten. Ein Ziel ist, auch später für genügend loyale ­Soldaten zu sorgen.

Auf der Tagung von Chinas Nationalem Volkskongress haben führende Politiker dieses Jahr ein nie dagewesenes Interesse an Familienpolitik gezeigt. Ein neues Gesetz erschwert Scheidungen und erlaubt es Wiederverheirateten, mehr Kinder zu bekommen. Zugleich forderte ein Kommentar in der regierungsnahen Zeitung „China Daily“, China müsse Geburten fördern. Insbesondere die Provinz Henan hat die Familienplanungspolitik deutlich gelockert und Anreize gegen Scheidungen gesetzt.

Solche Veränderungen können China-Experten verwirren. Erst 2015 hat das Land seine Ein-Kind-Politik beendet, die große Familien kriminalisierte. Und nur fünf Jahre später sprechen sich Verbündete der Regierung in einer staatlichen Zeitung dafür aus, das Kinderkriegen zu fördern. Was hat zu dieser Kehrtwende geführt?

Die Geburtenrate und damit die Gesamtbevölkerungszahl des Landes sind unter Fachleuten umstritten. Der Bevölkerungsexperte Yi Fuxian argumentiert, Chinas Einwohnerzahl sei um ganze 115 Millionen zu hoch angesetzt. Die Datenbank der Vereinten Nationen zur Fruchtbarkeitsstatistik enthält Schätzungen zur Geburtenrate in China, die von 1,1 (laut Behördenangaben) bis 1,7 (laut Krankenhausdaten) reichen oder von 1,0 (aus einer Umfrage, die viele Themen behandelt hat) bis 1,8 (laut einer Familienbefragung aus dem Jahr 2017). Wo die Wahrheit liegt, weiß niemand. Die Daten aus China sind nicht gut genug, um die Frage zu klären, wie viele Kinder Frauen in China bekommen. Dazu haben lokale Regierungen zu viele Anreize zu lügen, beispielsweise um mehr Geld für Schulen und Krankenhäuser zu haben oder sich im Gegenteil den Anschein zu geben, die Geburtenbegrenzungspolitik voll umzusetzen. Das Zivilstandsregister ist unvollständig und die Regierung politisch zu stark in der Geburtenpolitik engagiert, als dass sie transparente Daten zuließe.

Und doch wird es mit jedem Jahr wahrscheinlicher, dass diejenigen richtig liegen, die Chinas Geburtenrate für eher niedrig halten – vielleicht nur 1,0 bis 1,3 pro Frau. Der klarste Hinweis darauf sind die jüngsten Veränderungen der Politik. Nach den Ergebnissen der Volkszählung von 2010 wurde China plötzlich sein demografisches Problem bewusst, und 2016 war die Ein-Kind-Politik praktisch Geschichte. Aber das brachte nicht den erwarteten Babyboom.

Das war ein böser Schock für Chinas Politiker: Sie hatten lange geglaubt, dass ihre strenge Politik für die niedrigen Geburtenraten verantwortlich war, obwohl viele andere ähnlich hoch entwickelte Länder wie Taiwan, Singapur, Südkorea oder Japan ähnliche Geburtenraten aufweisen. Dass die Aufhebung der Ein-Kind-Politik keinen Babyboom ausgelöst hat, scheint Chinas politischer Führung zu dem Schluss geführt zu haben, dass die Geburtenrate dringend erhöht werden muss – und das versucht sie nun energisch.

Ein-Kind-Politik nie einheitlich umgesetzt

Die Geschichte der chinesischen Familienpolitik ist komplexer, als westliche Kommentatoren sich oft klarmachen. Unter der politischen Führung von Mao Tse-tung und insbesondere vor der Hungerkatastrophe von 1958 bis 1962 trat das kommunistische Regime offen für viele Geburten ein. Doch die Erfahrung der Hungersnot und die Besorgnis wegen einer Bevölkerungsexplosion in den 1970ern brachte die nächste Politikergeneration dazu, sich für eine Geburtenbegrenzung einzusetzen. Die Propaganda stellte es als Ziel der Ein-Kind-Politik dar, Hungersnöte zu verhindern und die Wirtschaft zu modernisieren. Das entsprach dem Interesse des Staates, weil so die politischen Ursachen des Hungers kleiner erschienen und weil es Anklang bei den lokalen Kadern fand, die für die Umsetzung des Programms verantwortlich waren. 

Dabei wurde die Ein-Kind-Politik nie einheitlich umgesetzt. Von Anfang an gab es Ausnahmen, und seit 2007 konnte die Mehrheit der chinesischen Familien legal zwei Kinder haben. Die häufigste Ausnahme betraf das Geschlecht des Kindes: Familien, deren erstes Kind eine Tochter war, erhielten häufig die Genehmigung für ein zweites Kind. Die Ein-Kind-Politik führte deshalb zu einem Geschlechter­ungleichgewicht in China – aufgrund der Abtreibung vieler weiblicher Föten wurden deutlich mehr Jungen geboren. Gleichzeitig waren aber unter den Erstgeborenen in Familien mit mehr als einem Kind deutlich mehr Mädchen als Jungen: Familien, die ein zweites Kind haben wollten, mussten sicherstellen, dass ihr erstes Kind ein Mädchen war.

Doch eine zweite, politisch wahrscheinlich noch bedeutendere Ausnahme galt für ethnische Minderheiten. Die kommunistische Regierung neigte zu der Auffassung, dass der Fortgang der Modernisierung (und damit des Kommunismus) bei den ethnischen Minderheiten anders verlaufe als unter der Mehrheit der Han-Chinesen. Diese Darstellung der Minderheiten als „jüngere Brüder“ war zweifellos herablassend, aber sie brachte einige materielle Vorteile mit: Viele Minderheitengruppen waren von der Ein-Kind-Politik ausgenommen. Unter anderem deswegen zeigt der Zensus aus dem Jahr 2000 – der letzte, für den Einzeldaten öffentlich zur Verfügung stehen –, dass die Zahl der Geburten pro Frau unter Han-Frauen im Durchschnitt um etwa 0,5 bis 1 niedriger war als in den Minderheitengruppen. Die höhere Fruchtbarkeit der Minderheiten sowie die größere Urbanisierung und Bildung der Han-Chinesen, die die Auswanderung Hunderttausender mit sich brachte, haben dazu geführt, dass der Anteil der Bevölkerung, der nicht zur Han-Ethnie gehört, ständig gestiegen ist. 

Die Ausnahmeregeln für Minderheiten hatten bedeutende Folgen. So haben Studien gezeigt, dass sie die Partnerwahl beeinflussten: Verschärfte eine Provinz die Ein-Kind-Regelungen, dann heirateten mehr Menschen der Han-Gruppe Mitglieder ethnischer Minderheiten, um der Ein-Kind-Regel zu entgehen. Bis heute sind die Ausnahmen für Minderheiten meistens im Gesetz festgeschrieben. Aber die rechtliche und gesellschaftliche Position der Minderheiten verschlechtert sich derzeit rapide – einschließlich der Bedingungen fürs Kinderkriegen. 

Autor

Lyman Stone

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institute for Family Studies in Charlottesville (USA). Er schreibt regelmäßig für Zeitungen wie die „New York Times“ und die „Washington Post“. Sein Beitrag ist zuerst bei „Foreign Policy“ erschienen.
Unter Präsident Xi Jinping wurden die Anstrengungen, die Minderheiten an die chinesische Kultur anzupassen, in nie dagewesenem Ausmaß verstärkt. Besonders ausgeprägt war dieses Vorgehen in der Provinz Xinjiang, wo vielleicht eine Million oder mehr Menschen in Internierungslagern festgehalten werden (vgl. welt-sichten 2/2019). Aber auch Minderheiten in anderen Regionen stehen unter Druck. Muslime in Ningxia etwa sehen sich wachsendem Druck ausgesetzt, ihre Religion weniger offen auszuüben. Für Tibet sind neue Vorschriften zur „ethnischen Einheit“ erlassen worden. 

Mit anderen Worten: China hat die Ein-Kind-Politik gelockert und fördert nun Geburten von Han-Chinesinnen, während es gleichzeitig verschärft Minderheiten unterdrückt. Und das wirkt sich auch auf die Geburtenraten aus: In vielen stark urbanisierten Regionen mit einem geringen Anteil von Minderheiten wie Peking, Schanghai, Schandong und Fujian sind die Geburtenraten seit 1988 leicht gestiegen, während sie in Gegenden mit einem höheren Minderheitenanteil wie Tibet, Xinjiang, Qinghai und Yunnan stark zurückgegangen sind. 

Weniger Männer im kampffähigen Alter 

Dahinter steht, dass Chinas strategische Planer sich vor einem gewaltigen Problem sehen. Die Zahl der Männer im waffenfähigen Alter, die China und mehrere eng mit China verbündete Länder aufweisen, ist laut Schätzungen der Vereinten Nationen (UN) noch mehr als doppelt so hoch wie die der USA und ihrer Verbündeten im Westpazifik – aber sie sinkt stark. Die UN gehen davon aus, dass „hohe“ Schätzungen zu Chinas Geburtenrate von rund 1,7 Kinder pro Frau grundsätzlich richtig sind. Doch auch wenn das stimmt, hat China den Höhepunkt seines Vorsprungs an Männern gegenüber dem US-Lager etwa im Jahr 2000 bereits überschritten. Selbst wenn die unterstellten relativ hohen Geburtenraten bis Ende des Jahrhunderts stabil bleiben, wird Chinas Vorteil im Laufe des 21. Jahrhunderts rasant zurückgehen. Fällt die Geburtenrate dagegen auf ein niedrigeres Niveau, dann könnte China im Jahr 2080 tatsächlich weniger Männer im kampffähigen Alter haben als die USA und ihre Pazifikallianz. 

Diese Rechnung hilft, Chinas plötzliche Kehrtwende in der Geburtenpolitik zu verstehen. Wären die Ein-Kind-Politik für Han-Chinesen und die Ausnahmen für Minderheiten und erstgeborene Mädchen fortgesetzt worden, dann ginge die Gesamtzahl der Männer im kampffähigen Alter mit außergewöhnlichem Tempo zurück. 

Auch von Sicherheitsbedenken abgesehen gefährdet der Rückgang der Zahl junger Menschen den „chinesischen Traum“, den politische Führer des Landes propagieren. Statt einer florierenden Mittelschicht, die ein Beleg für die Kraft des chinesischen Regierungsmodells ist, wird China wahrscheinlich erleben, dass sich das Wirtschaftswachstum auf dem Niveau eines Landes mit mittlerem Einkommen verlangsamt und gleichzeitig die Arbeiter ausgehen, um das auf preiswerter Arbeit basierende Wachstumsmodell fortzuführen.

Wenn die Geburtenraten in China allerdings schon einige Zeit am unteren Ende der Expertenschätzungen liegen, ist Chinas demografische Schrumpfung vielleicht weiter fortgeschritten, als die offizielle Statistik anzeigt. Das Hauptproblem der chinesischen Statistik ist die schlechte Qualität der Berichte der lokalen Ebene. Deshalb kennt unter Umständen nicht einmal die Regierung selbst das Ausmaß des Problems. Die Personalanwerber des Militärs haben möglicherweise eine klarere Vorstellung von Änderungen der Bevölkerungsstruktur – insbesondere was Männer im Einzugsalter in ärmeren ländlichen Gegenden betrifft, wo die Armee vor allem rekrutiert. Auch staatliche Unternehmen, die jedes Jahr Hunderttausende Arbeiter einstellen, haben stärker den Finger am demografischen Puls der Nation. Und diese Institutionen haben viel mehr Einfluss auf Chinas Politiker als forschende Akademiker. Sollten sie ein düsteres Szenario der Bevölkerungsentwicklung malen, dann würde das genau die Politik auslösen, die China jetzt verfolgt.

Allerdings wird die wahrscheinlich wenig Erfolg haben. Scheidungen wurden erschwert, aber bisher hat China nur zaghafte Schritte in Richtung Unterstützung beim Kinderkriegen und Mutterschaftsurlaub unternommen. Kinderbetreuung ist ebenfalls schwer zu finden und wenn, dann teuer. Das ist kein Rezept für einen deutlichen Anstieg der Geburtenrate. Andere Bevölkerungsfachleute haben in „China Daily“ auf einen weiteren Grund hingewiesen, warum viele junge Chinesen keine Kinder kriegen: Wegen der kleinen Familien ist die Belastung für die Versorgung älterer Familienmitglieder für den Einzelnen sehr groß. Aber die Älteren in China großzügiger zu unterstützen, würde den Staat enorm viel Geld kosten. 

Kurz: Für China wird es schwer, deutlich höhere Geburtenraten zu erreichen, ohne radikal mehr Mittel für Sozialfürsorge bereitzustellen, insbesondere für ältere Menschen. Zudem müssten die Initiativen zur Sinisierung der Gesellschaft zumindest etwas gebremst werden. Beides würde aber wohl gefährden, was Chinas politische Führung als zentrale strategische Ziele ansieht, nämlich das Militärbudget und die ethnische Einheitlichkeit; daher sind beide Schritte unwahrscheinlich. Unwahrscheinlich ist daher auch, dass Chinas Geburtenrate signifikant steigt. Die Bevölkerung wird rasch kleiner werden – egal wie viele Vorschriften Peking einführen mag.

Aus dem Englischen von Carola Torti.

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