Die deutsche Zivilgesellschaft hat bei der Umsetzung der Agenda 2030 und der Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) eine wichtige Rolle: Ihre Mitglieder, zum Beispiel Umweltverbände, Entwicklungsorganisationen, Gewerkschaften und ihre Dachverbände, verfolgen die Fortschritte und machen Lärm, wenn die Regierung ihre Ziele in Sachen nachhaltige Entwicklung nicht erreicht. Doch was tun, wenn die Regierung sorgfältig Daten sammelt und veröffentlicht, wenn sie statistisch nachweisbare Fortschritte verzeichnet – und trotzdem von Nachhaltigkeitspolitik kaum eine Spur zu sehen ist?
Die internationale Diskussion um das SDG-Monitoring dreht sich oft um datentechnische Probleme. Sind Statistikämter ausreichend ausgestattet? Werden Daten richtig erhoben und analysiert? Sind sie differenziert („desaggregiert“) und aussagekräftig („valide“)? Viel heikler als diese Methodendebatte und entscheidend für die politische Arbeit ist jedoch die Frage, was welche Indikatoren eigentlich messen. Beschreibt die Bundesregierung mit den Indikatoren und Zielen in ihrem Umsetzungsprogramm zur Agenda 2030, also in der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie (DNS), überhaupt „Nachhaltigkeit“? Das ist keine neutrale Frage, die nach einer technischen
Die Agenda 2030 konkretisiert ihre 17 SDGs in Unterzielen mit einem Satz von 231 Indikatoren. Die meisten dieser UN-Indikatoren beziehen sich auf die globale Ebene. Das UN-Statistikbüro betont daher, dass bei der nationalen Umsetzung der Agenda 2030 die Wahl der Indikatoren den Staaten selbst überlassen ist. Regierungen sollen für ihr jeweiliges Land passende komplementäre oder eigene Indikatoren formulieren. Das ist teilweise durchaus sinnvoll, macht die Vergleichbarkeit zwischen Staaten aber schwierig.
Deutschland hat zum Beispiel ein Problem mit Luftverschmutzung. Daher hat die Regierung zu SDG 3 (Gesundheit) im Bereich „Luftbelastung“ den Indikator „Emissionen von Luftschadstoffen“ gewählt. Ihm zugrunde liegen wissenschaftliche Fakten. Dagegen ist nichts einzuwenden. Gemessene Schadstoffemissionen sind sehr gut geeignet, Umweltbelastung zu kennzeichnen, und diese als Ursache von Gesundheitsschäden anzusehen und entsprechend verringern zu wollen. Dies ist als Operationalisierung von SDG 3 einleuchtend.
Wie soll Gerechtigkeit gemessen werden?
Wie aber legt man Indikatoren und Zielmarken fest, wenn es keine gängige Definition oder von der Forschung gestützte Grenzwerte gibt, die klare Orientierung bieten? Wie soll Gerechtigkeit gefasst und gemessen werden? Bei den Zielen zu Armut (SDG 1), Geschlechtergleichheit (SDG 5), Reduzierung von Ungleichheit (SDG 10) oder guter Arbeit (SDG 8) ist in der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie die sogenannte Operationalisierung, also die Umsetzung in zu erreichende und messbare Vorgaben, eher unbefriedigend.
Für Geschlechtergleichheit steht dort etwa die Anzahl weiblicher Vorstände von im DAX notierten Unternehmen. Natürlich ist es skandalös und nicht zeitgemäß, dass es in den Führungsriegen dieser deutschen Firmen weniger Frauen gibt als Männer. Trotzdem ist die Welt der DAX-Vorstände eine sehr exklusive. Es ist mehr als fraglich, ob die Erhöhung des Frauenanteils dort wirklich als gesellschaftliche Gleichstellung der Geschlechter gelten kann.
Autorin
Elisabeth Jeglitzka
ist Referentin nachhaltige Entwicklungsziele und sozial-ökologische Transformation bei Brot für die Welt in Berlin.Indikatoren: eher vage
Noch verzwickter und politisch brisanter wird es bei Stellvertreterindikatoren. Sie beschreiben ein Phänomen nicht direkt, sondern aufgrund von Annahmen über Wirkungszusammenhänge und Hebel für Veränderungen. Beispiele sind, wenn progressive Steuerregime (höhere Einkommen werden stärker besteuert) als Maß für die Verringerung von Ungleichheit gelten oder starke Gewerkschaften als Maß für die Förderung guter Arbeit. Aber ob stärker progressive Steuern das beste Mittel für die Verringerung der Ungleichheit sind und starke Gewerkschaften für die Förderung guter Arbeit – das ist politisch umstritten. Die Wahl des Indikators ist in solchen Fällen also eine politische Entscheidung. Die Bundesregierung ist dem in vielen Fällen ausgewichen. Auch die UN-Indikatoren sind in der Mehrzahl sehr vage; in zwischenstaatlichen Verhandlungen waren viele Indikatoren mit klarer politischer Stoßrichtung offenbar nicht durchsetzbar.
Umwelt- und Entwicklungsverbände haben für die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie eine Reihe von nach ihrer Ansicht zutreffenden Indikatoren vorgeschlagen. Diese berücksichtigen auch die weltweiten Folgen von Geschäften, Produktion und Konsum in Deutschland: Sie fordern den Einsatz der Regierung für die Schließung von Steueroasen, ein strenges Lieferkettengesetz, faire und umweltverträgliche Handelsverträge der Europäischen Union, höhere finanzielle Beiträge für multilaterale Organisationen und vieles mehr. Hier zeigt sich: Bei Indikatoren muss es sich nicht immer um statistische Größen handeln. Nachhaltigkeitspolitik kann auch an politischer Initiative, am Aufbau multilateraler Institutionen oder an Gesetzes- und Reformvorhaben gemessen werden.
Allem Anschein nach lässt sich die Bundesregierung in der gegenwärtigen Revision der Nachhaltigkeitsstrategie kaum zur Überarbeitung der Indikatoren bewegen. Daher investiert die Zivilgesellschaft viel Energie in ein alternatives Monitoring. Die Webseite www.2030-watch.de präsentiert alternative Nachhaltigkeitsindikatoren und stellt sie samt Daten zu Fort- oder Rückschritten den Messgrößen der DNS gegenüber. Zudem bewerten Schattenberichte die Nachhaltigkeitserfolge und -misserfolge der deutschen Politik für verschiedene Sektoren wie Mobilität, Landwirtschaft, Ressourcenverbrauch, Steuern und beleuchten globale Auswirkungen.
Für 2021 hat die deutsche Regierung den Vereinten Nationen einen freiwilligen Fortschrittsbericht zur Agenda 2030 angekündigt. Sie sollte die Zivilgesellschaft in die Vorbereitung dieses Berichts einbeziehen; das würde auch global ein Zeichen gegen Einschränkungen des zivilgesellschaftlichen Engagements setzen. Wichtig ist dann aber, dass aus den Ergebnissen auch die richtigen Konsequenzen gezogen werden.
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