Viele Länder südlich der Sahara sind weit von der Erreichung zahlreicher SDGs entfernt. Stoßen Länder Afrikas, die auf die Umsetzung hinarbeiten, auf äußere Hindernisse, die sie kaum beeinflussen können?
Auf jeden Fall – angefangen mit der Ungerechtigkeit, die mit dem Klimawandel einhergeht: Die Erderhitzung wird von Ländern mit hohen Emissionen verursacht, Afrika leidet aber am meisten darunter. Bisher versucht man, diese Ungerechtigkeit mit Geld für Klimaanpassung anzugehen. Die versprochenen Summen scheinen riesig, sind aber wenig im Verhältnis zu den Weltfinanzströmen und selbst das wird dann nicht gezahlt. Darüber hinaus ist es nicht der richtige Ansatz. Stattdessen sollte man afrikanischen Ländern helfen, eine neue Art Industrialisierung zu erreichen. Warum Rohstoffe aus Afrika nach Asien bringen, um sie dort zu Konsumgütern für Europa zu verarbeiten? Das erhöht unnötig die Emissionen. Ein Strukturwandel der Wirtschaft kann hingegen in Afrika Arbeitsplätze schaffen und die Emissionen aus vielen globalen Wertschöpfungsketten verringern. Das ist viel wichtiger als Klimaanpassung.
Heißt das, Afrika braucht eine Industrialisierung, um den Zielen für nachhaltige Entwicklung näherkommen zu können?
Ja. Und es stimmt nicht, dass man, um Wirtschaftswachstum zu erreichen, den Klimawandel weiter anheizen muss. Afrika kann dank Technik auf andere, neue Art wachsen. Zum Beispiel ist die Erzeugung von erneuerbaren Energien inzwischen so kostengünstig möglich wie die von fossilen Treibstoffen. Für Nachzügler ist es vorteilhaft, bei der Industrialisierung sofort auf Erneuerbare zu setzen. Und man kann in Afrika nicht nur technisch, sondern auch mental ein Stadium überspringen und einen anderen Lebensstil entwickeln als in Europa und den USA, zum Beispiel andere Konsummuster.
Arbeiten viele afrikanische Regierungen auf einen solchen Strukturwandel hin?
Viele versuchen eine echte Industrialisierungspolitik zu betreiben und sind sich der damit verbundenen ökologischen Fragen bewusst. Zu den besten Beispielen gehören Äthiopien, Ruanda, Mauritius, Marokko, der Senegal, Togo und Namibia. Alle legen großes Gewicht auf die Umwelt. Zum Beispiel hat Äthiopien, wo das Wirtschaftswachstum hoch ist, beim UN-Klimagipfel in Paris 2015 mit die fortschrittlichsten nationalen Klimapläne vorgelegt.
Schöpfen nicht viele afrikanische Staaten, statt die Weiterverarbeitung zu fördern, in erster Linie Renten etwa aus Rohstoffen ab und verteilen sie um?
Sicher gibt es in Afrika eine Menge solcher nach Renten strebender Regime. Aber es gibt auch Staaten, die entschlossen einen Strukturwandel anstreben. Letzten Endes geht es darum, über eine neue Mentalität zu einer neuartigen Wirtschaftspolitik zu kommen.
Und was sind genau die äußeren, strukturellen Hindernisse der Industrialisierung in Afrika? Legen Handelsregeln die Länder dort auf den Rohstoffexport fest?
Nicht so sehr die Handelsregeln, sondern eher wichtige Regeln des globalen Finanzsystems. Die vor allem schützen die Volkswirtschaften im Norden: Wenn sie Probleme bekommen, können sie Geld drucken, um die Konjunktur anzukurbeln, und tun „was immer nötig ist“, um sich vor einem Absturz zu schützen. Das macht sie attraktiver für Investitionen, denn die sind dort sicherer. Und das ist ein Anreiz dafür, dass Kapital aus dem Süden in den Norden wandert. Dagegen werden afrikanische Volkswirtschaften von den großen Ratingagenturen abgestraft. Wenn afrikanische Länder nach dem Beispiel des Nordens Geld drucken, wirft man ihnen Leichtsinn vor. Vor der Corona-Krise lagen 16 der 30 Staaten mit dem höchsten Wirtschaftswachstum weltweit in Afrika. Trotzdem haben die Ratingagenturen immer wieder einen Weg gefunden, schlechte Bewertungen zu vergeben, und nur selten die Einstufung hochgesetzt.
Um sicher zu gehen: Sie sagen, die Handelsregeln sind kein ernstes Problem für Afrika?
Die Globalisierung erzeugt Asymmetrie. In der ersten Welle der Globalisierung war der entscheidende Mechanismus dafür der Handel: Wachstum und die Akkumulation von Kapital wurden geprägt von verstecktem Protektionismus in reichen Ländern und starkem Druck auf die Entwicklungsländer, ihre Märkte zu öffnen.
Dann ist das Finanzwesen zum entscheidenden Antreiber der Asymmetrie geworden. Der Werttransfer von Süd nach Nord wird heute stärker von Finanzregeln begünstigt als von Handelsregeln. Das heißt nicht, dass die Handelsregeln demokratisch geworden wären – davon sind sie weit entfernt. Aber sie sind nicht mehr so zentral für die Asymmetrie der Globalisierung, wie sie es früher waren. Und ich denke, künftig wird die Technologie entscheidend sein, um diese Asymmetrie herzustellen.
Und das Problem mit den Finanzregeln liegt speziell im Verhalten und der Rolle der Ratingagenturen begründet?
Es liegt darin, wie Risiken für Investoren bewertet werden. Das sorgt dafür, dass Kapital Richtung Norden fließt. Wo liegen die eigenen Devisenreserven afrikanischer Staaten? In Anlageformen, die nach internationalen Standards als sicher gelten. Wenn afrikanische Notenbanken ihre Reserven anderswo anlegen würden, würden die Ratingagenturen sagen, dass die nicht als Reserven in harter Währung gelten können, weil sie nicht die von den Agenturen festgesetzte Risikoanforderung erfüllen. Der Internationale Währungsfonds sieht das ähnlich. Das Ergebnis ist: Die Reserven afrikanischer Staaten sind in Europa, den USA oder Japan investiert. Ein anderes Finanzregelwerk betrifft international tätige Banken: Nach der Finanzkrise 2007/2008 wurde beschlossen, dass solche Banken Stresstests bestehen müssen; dazu brauchen sie ausreichend Eigenkapital und Kontrollen über riskante Anlagen. Das begrenzt die Menge an Kapital, die sie in Ländern mit höherem Risiko anlegen können. Die meisten Länder Afrikas gelten als riskant. So haben viele Banken, die Töchter oder Anlagen in Afrika hatten, die verkauft, um den Anforderungen der Stresstests zu entsprechen.
Zurzeit fliehen infolge der Corona-Pandemie große Mengen Kapital aus Entwicklungsländern. Beschleunigt das die Krise in Afrika?
Ja. Und leider können selbst große Volkswirtschaften in Afrika wenig tun, um die Kapitalflucht aufzuhalten. Und hier meine ich nicht illegale oder anrüchige Geldflüsse, sondern allgemein akzeptierte wie den Transfer von Profiten aus dem Ausland. Wenn ein Land es wagt, Kapitalflucht einzudämmen, wird es als unattraktiver Standort dargestellt und riskiert Ramschstatus. Die Länder kämpfen darum, als attraktiv für Investoren zu gelten, obwohl beim kleinsten Anzeichen einer Krise alle mit ihrem Geld davonlaufen können. Aus Südafrika ist seit Beginn der Corona-Krise bereits Kapital im Umfang von acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts ins Ausland geflohen.
Braucht Afrika jetzt einen Schuldennachlass?
Wir müssen die Regeln für den Umgang mit Staatsschulden ändern. Alle Länder Afrikas haben zusammen weniger öffentliche Schulden als die Niederlande. Im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt sind es in Afrika zwischen 50 und 60 Prozent, während der Durchschnitt in den OECD-Ländern vor der Pandemie bei 120 Prozent lag. Aber die Notenbanken im globalen Norden können die Zinsen auf nahe null oder sogar noch darunter drücken, während afrikanische Regierungen marktgängige Zinsen von 6 bis 7 Prozent zahlen. Der Internationale Währungsfonds IWF sollte deshalb den Mut haben, das Problem der Staatsschulden weltweit anzugehen. Afrikanische Länder brauchen als Erste eine gewisse Schuldenerleichterung. Das kann die Form eines Moratoriums auf den Schuldendienst haben, von Umschuldungen und in extremen Fällen auch von Schuldenerlassen.
Die afrikanischen Länder müssen auch selbst aus Steuern mehr Finanzmittel für nachhaltige Entwicklung aufbringen, etwa für Infrastruktur und soziale Dienste. Machen globale Regeln das ebenfalls schwierig?
Steuern können mehr beitragen, als sie jetzt tun. In Afrika gehört die Steuerlast zu den geringsten weltweit – das Steueraufkommen macht im Durchschnitt nur etwa 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus, global sind es 35 Prozent. Aber eine Menge Steuern entgehen afrikanischen Staaten aufgrund von Ausnahmen für Bergbaukonzerne und andere transnationale Unternehmen. Auch das liegt an globalen Spielregeln, in diesem Fall für Investitionen: Es heißt, wenn ihr kein attraktives Steuersystem schafft – also niedrige Steuern auf Gewinne, Dienstleistungen und anderes –, gehen die Investoren woanders hin. Solange man den großen Unternehmen Steueroptimierung ermöglicht, werden die afrikanischen Staaten gehindert, mehr Steuern einzunehmen.
Die führenden Industrie- und Schwellenländer der G20 haben zuletzt Schritte dagegen beschlossen wie eine Mindestbesteuerung. Hilft das?
Europa schlägt sich mit dem Problem herum, schaut dabei aber auf die Einbußen der Staaten in Europa. So stört es einige Länder, dass Google seinen Hauptsitz in Irland hat und dadurch keine Steuern in Frankreich oder Großbritannien zahlt. Die G20 und die OECD predigen die richtigen Schritte, aber in der Praxis erlauben sie weiter die Steuervermeidung. So sind mit Großbritannien weiterhin Steuerparadiese verbunden.
Braucht Afrika weiter auch Entwicklungshilfe, um nachhaltige Entwicklung in Gang zu bringen?
Auf diese Unterstützung sollte der Kontinent nicht verzichten. Afrikaner sehen Europa mit einer Mischung aus Bewunderung und Misstrauen. Man sollte die Bewunderung stärken und das Misstrauen verringern, indem man das Unrecht aus der Geschichte ausgleicht. Ein Instrument dafür ist Entwicklungshilfe. Mehr als Hilfe braucht der Kontinent allerdings Investitionen. Sinnvoll wären Anreize für europäische Investitionen in die Industrialisierung Afrikas, zum Beispiel Risikoversicherungen dafür und spezielle Kreditlinien. Man kann auch Produktsiegel und Zertifikate für Exportgüter fördern und den Import von Rohstoffen so regulieren, dass ein Anreiz für mehr Wertschöpfung in Afrika entsteht.
Fürchten Sie, dass als Folge der Corona-Pandemie die Entwicklungshilfe sinkt?
Erste Anzeichen dafür gibt es schon. So will die Europäische Union, um Afrika in der Pandemie zu unterstützen, eingeplante Mittel umschichten. Das heißt, sie gibt dafür kein zusätzliches Geld. Die regulären Entwicklungsprogramme werden also beschnitten.
Stellen auch restriktive Regeln für Arbeitsmigration ein Hindernis für die Erreichung der SDGs in Afrika dar?
Dazu muss man zunächst das Offensichtliche festhalten: Das Kriegsvölkerrecht und die Menschenrechte müssen geachtet werden, auch beim Umgang mit Migration. Sollte Europa diesen Grundsätzen nicht folgen, dann ist das traurig. Und dann denke ich, dass ein vernünftiges Abkommen über Migration zwischen beiden Kontinenten beiden Gewinn bringen würde. Das Hauptinteresse Europas sollte meiner Ansicht nach sein, Afrika stärker dabei zu unterstützen, die Migration innerhalb des Kontinents besser zu managen. Die macht 80 Prozent der Migration von Afrikanern aus und wenn eine kontinentale Freihandelszone, wie sie geplant ist, Reisefreiheit auf dem Kontinent bringt, würde der Anteil der Migration innerhalb Afrikas auf vielleicht 90 Prozent steigen. Diese Entwicklung zu unterstützen, ist für Europa sehr viel besser, als der Grenzschutzagentur Frontex mehr Geld zu geben.
Das Gespräch führte Bernd Ludermann.
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