Europäisches Allerlei

Francois Lenoir/Reuters

Leitplanken für eine umweltfreundlichere Wirtschaft: Im Dezember 2019 präsentiert Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) den europäischen Green Deal im EU-Parlament. 
 

Green Deal
Nach 90 Stunden Verhandlungen und Streit haben die EU-Chefs am Dienstagmorgen den neuen EU-Haushalt beschlossen. Die darin enthaltenen Corona-Hilfen sollen im Einklang mit dem Green Deal und den SDGs stehen. Doch was auf dem Papier schön klingt, wird in der Praxis nicht gut umgesetzt. Es fehlt ein schlüssiges Gesamtkonzept, das alle Ziele in den Blick nimmt.

Fast die gesamte Weltspitze besteht aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union: Auf einer Rangliste zur Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) belegen Dänemark, Schweden und Finnland die ersten Plätze und Deutschland Rang sechs. Norwegen auf Platz acht ist das einzige Land außerhalb der EU unter den Top Ten einer Studie der Bertelsmann-Stiftung und des Sustain­able Development Solutions Network (SDSN) vom Juni 2019. Schon ein zweiter Blick auf die Studie von Bertelsmann und SDSN offenbart aber, dass die EU nur im Vergleich so gut dasteht, denn „kein Land ist auf dem Weg, alle 17 Ziele zu erreichen“. Selbst die Länder ganz oben auf der Rangliste offenbarten große Leistungslücken bei den Zielen 12 bis 15, die Konsum und Produktion, das Klima sowie das Leben unter Wasser und das Leben an Land in nachhaltigere Bahnen lenken sollen. 

Die Folgen einer nicht nachhaltigen Politik schlagen sich nicht allein dort nieder, wo sie entstehen. So sind die klimaschädlichen Emissionen Europas, unter deren Folgen vor allem Entwicklungsländer leiden, ein Paradebeispiel für schädliche Auswirkungen („spillovers“) aus Industrieländern. In einem anderen Bericht, an dem das SDSN beteiligt ist, werden als weitere Beispiele CO2-Emissionen und der Verlust biologischer Vielfalt als Folge des Handels sowie Arbeitsunfälle in Ländern mit schlechten Arbeitsnormen als Folge von Textilimporten genannt. Steuerparadiese und das Finanzgeheimnis in EU-Mitgliedstaaten oder ihren überseeischen Gebieten unterminierten zudem die Fähigkeit anderer Länder, öffentliche Mittel zu mobilisieren. 

Das Ziel: Klimaneutralität bis 2050

Was die Europäische Union bei den Nachhaltigkeitszielen leistet oder nicht, geht zum Teil auf die nationale Politik zurück – und zum Teil auf die EU-Ebene mit den Brüsseler Institutionen. Auf der EU-Ebene begegnen einem die SDGs in Reden führender Politiker, in Gesetzestexten sowie in anderen Dokumenten des Rates der EU, des Europaparlaments und der Kommission. Kommissionschefin Ursula von der Leyen hat sie öffentlich aufgewertet, als sie sie allen ihren 26 Kommissarinnen und Kommissaren in die Aufgabenprofile schrieb: „Jeder Kommissar wird die Erreichung der Nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen in seinem Politikbereich sicherstellen. Das Kollegium als Ganzes wird für die gesamte Umsetzung der Ziele verantwortlich sein.“ 

Vor allem aber bekannte sich von der Leyen in ihrem Hauptprojekt zu den Nachhaltigkeitszielen, im europäischen Green Deal. Das im Dezember 2019 vorgestellte Konzept soll die Leitplanken für Europas Weg zu einer nachhaltigen Wirtschaft und Gesellschaft darstellen. Um das Ziel der Klimaneutralität bis zum Jahr 2050 herum kündigt der Green Deal etwa ein umweltfreundliches und gesundes Lebensmittelsystem an, eine Kreislaufwirtschaft mit weniger Müll und mehr Recycling, Aufforstung und saubereren Verkehr. 

Von der Leyen hat die SDGs außerdem in das sogenannte Europäische Semester integriert, in dessen Rahmen die EU alljährlich in einem rund sechs Monate dauernden Prozess die Wirtschaftspolitik ihrer Mitglieder bewertet. Für die Zusammenarbeit mit dem globalen Süden gilt weiter der Europäische Konsens für Entwicklung von 2017 als Grundlagendokument, in dem sich ebenfalls ein Bekenntnis zur Umsetzung der SDGs findet. 

EU-Politik und SDGs: eine ungeklärte Beziehung

Trotzdem ist die Beziehung zwischen EU-Politik und SDGs nicht genau geklärt. Weder existiert eine europäische Strategie, die alle verstreuten Bezüge aufnimmt und ordnet. Noch gibt es auf die EU heruntergebrochene Vorgaben für die 17 Ziele („goals“) und die 169 Unterziele („targets“) der Vereinten Nationen. Dabei haben sowohl das Europaparlament als auch die im Rat versammelten EU-Regierungen die Kommission schon unter Jean-Claude Juncker zu einer umfassenden Umsetzungsstrategie mit Zielen und Fristen oder Zeitplänen aufgefordert – bisher vergeblich. 

Autor

Phillipp Saure

ist Journalist in Brüssel und berichtet von dort für "welt-sichten".
Das kritisiert etwa die Umweltschutzorganisation WWF. „Die Stärke der SDGs besteht in den Verbindungen der Ziele untereinander“, erklärt Rebecca Humphries vom Brüsseler WWF-Büro. „Es genügt nicht, tolle Klimaziele zu haben, wenn die Energiepolitik das wieder einreißt.“ Deshalb müssten Green Deal, Europäisches Semester und alle anderen Elemente mit Blick auf die SDGs strategisch aufeinander bezogen werden, sagt Humphries. 

Noch weiter geht die Europaabgeordnete Jutta Paulus. Die Grüne plädiert dafür, dass die EU für möglichst viele der 17 SDGs verbindliche Zielwerte beschließt, heruntergebrochen auf jeden einzelnen EU-Staat. „Allein ein Gesamtziel, bei dem sich jeder hinter dem anderen verstecken kann, nützt nichts.“ Die nationalen Ziele könnten nach Entwicklungsstand der Volkswirtschaft verschieden ausfallen, meint die Umweltpolitikerin. Beispielsweise müsste Polen dann weniger zum Klimaschutz beisteuern als Deutschland.

Wirkung über Europa hinaus ist zu schwach

Adolf Kloke-Lesch vom SDSN Deutschland hält verbindliche Ziele und einen ganzheitlichen strategischen Ansatz ebenfalls für sinnvoll. Aber es brauche kein „fein ausbuchstabiertes SDG-Tableau in einer Nische“. Die Ziele müssten „im Zentrum der EU-Politik stehen“. Kloke-Lesch lobt, dass der Green Deal das Denken in großen Zusammenhängen aufgreife. Mit Blick auf ihre Wirkung außerhalb Europas hält Kloke-Lesch den Green Deal hingegen noch für schwach. Es gebe zwar den vor drei Jahren an die SDGs angepassten Europäischen Konsens über die Entwicklungspolitik. Aber gerade die Zusammenarbeit mit anderen Industrieländern – deren schädliche „spillovers“, die planetaren Grenzen bedrohten und die die Entwicklungsländer zu spüren bekämen – sei unterbelichtet. „Es fehlt im Green Deal, wie man die Transformation der EU in die Welt hinausträgt.“ 

Der Politikprofessor Alexander Stroh-Steckelberg warnt indes, die SDGs mit ihren Unterzielen vermittelten den Eindruck einer „Checkliste“, die man „einfach abarbeiten“ könne – eine „Technisierung“ von Entwicklungspolitik, die die EU-Ebene und besonders den Beamtenapparat der Kommission durchaus anspreche. Das verkenne aber die Bedeutung eigener Interessen in der Entwicklungspolitik der EU-Staaten. Frankreich würde sich beispielsweise kaum von Brüssel hineinreden lassen, wenn eine europäische SDG-Strategie seinen wirtschaftspolitischen Interessen in Westafrika zuwiderliefe, vermutet Stroh-Steckelberg. Deshalb solle die EU in Entwicklungsländern die Politik ihrer Mitglieder vor allem koordinieren, statt als eigenständiger Akteur aufzutreten. 

Offen ist, wie die Corona-Krise die EU-Politik zu den SDGs verändern wird. So warnt der Generalsekretär des europäischen Gewerkschaftsbundes ETUC, Luca Visentini, es gebe viele Kräfte wie Regierungen und Arbeitgeber, die jetzt lieber zum „business as usual“ zurückkehren wollten. „Wir müssen sehr wachsam bleiben, so dass die ehrgeizige Agenda in Übereinstimmung mit den SDGs, die vor der Krise gesetzt wurde, nach der Krise auf Kurs gehalten wird.“

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erschienen in Ausgabe 7 / 2020: Der Plan für die Zukunft?
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