Wir brauchen eine Weltöffentlichkeit

Wolfgang Ammer
Corona-Krise
Die Corona-Krise öffnet Spielräume für politische Ansätze, die bisher als radikal galten. Was auch immer davon umgesetzt wird: Langfristig lassen sich globale Aufgaben nur lösen, wenn es ein entsprechendes globales Bewusstsein dafür gibt.

Die Covid-19-Krise erfordert schnelle und umfassende Antworten, um Leben zu retten und Milliarden Menschen aus wirtschaftlicher Not zu helfen. Langfristig aber ändert die Pandemie nichts an dem, was wir tun müssen, um weltweit das Allgemeinwohl zu fördern: Wir wissen, dass wir mehr Geld brauchen und es besser verteilen müssen. Wir wissen auch, dass unsere Entscheidungsmechanismen auf globaler Ebene nicht funktionieren. Wir fahren ein kaputtes Auto ohne Treibstoff.  

Covid-19 hat das mit einem Mal vielen Menschen deutlich sichtbar gemacht. Möglicherweise werden von nun an Forderungen nach mehr Geld für öffentliche Güter eher gehört. Vorschläge, die bislang als radikal abgetan wurden, scheinen nun realistisch und sogar notwendig. In Großbritannien bejahen 72 Prozent der Befragten eine Jobgarantie, nur sechs Prozent sind dagegen. Ein öffentliches Gesundheitssystem findet in den USA inzwischen eine klare Mehrheit. Und die spanische Regierung hat konkrete Pläne zur Einführung eines Grundeinkommens vorgelegt.

Als ich auf einer Konferenz im Jahr 2012 erstmals globale öffentliche Investitionen vorschlug, erntete ich verdutztes Schweigen und gedämpftes Gelächter. Doch seitdem ist die Idee auf der Agenda nach oben gerückt. Angesichts der Covid-19-Pandemie wird sie heute von immer mehr Menschen unterstützt.

Autor

Jonathan Glennie

ist britischer Sozialwissenschaftler und forscht zu entwicklungspolitischen Fragen. Er hat bei mehreren internationalen Hilfsorganisationen gearbeitet, darunter Christian Aid und Save the Children.
Der Ansatz schlägt fünf Paradigmenwechsel vor. Statt an einem geizigen Armutsbegriff festzuhalten, gilt es in einem umfassenderen Sinne, Nachhaltigkeit und Gleichheit zu fördern. Deshalb sollen zweitens Gelder nicht nur kurzfristig Löcher stopfen, sondern auf lange Sicht öffentliche Güter finanzieren. Drittens wird anerkannt, dass globale Solidarität nicht mehr einseitig entlang einer Nord-Süd-Achse verläuft. Alle Länder sollen nach ihren Fähigkeiten einzahlen und nach Bedarf Geld erhalten. Viertens: Nicht mehr Geberclubs wie die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sollen globale Investitionen steuern, sondern inklusivere Foren wie die Vereinten Nationen. Schließlich brauchen wir eine ganz neue Perspektive: Wir müssen die bevormundende Sprache der „Hilfe“ hinter uns lassen und zu einem Ton des Respekts und gegenseitigen Nutzens kommen.   

Die globalen Gesundheitsausgaben werden sich infolge der Pandemie verändern. Wie genau, das hängt vom Einfluss und der Kreativität der Zivilgesellschaft und anderer Akteure ab. Ein wichtiges Puzzlestück dabei, dem wir nicht genug Aufmerksamkeit widmen, ist die Weltöffentlichkeit: Ohne sie kann es keine sinnvollen globalen Investitionen geben.  

Nach dem Vorbild der Europäischen Union

Fünf Jahrzehnte Europäische Union (EU) haben zur Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit beigetragen, welche die Umverteilung von Geldern zwischen den Ländern unterstützt oder zumindest geduldet hat. Der Umverteilungsmechanismus ist nicht perfekt und wird von vielen kritisiert. Dennoch hat er vereinbarte Prioritäten wie Nachhaltigkeit, grüne Infrastruktur und Verkehr, soziale Wohlfahrt sowie die Unternehmensförderung gestützt.   

Ein vergleichbares Bewusstsein gibt es in Afrika. Der Panafrikanismus hatte seine Höhen und Tiefen, aber er untermauert die Afrikanische Union (AU) und ihre vielen gemeinsamen Fonds und Institutionen. Darunter ist auch das Afrikanische Zentrum für Krankheitsbekämpfung, das in der Corona-Krise eine wichtige Rolle spielt. In Lateinamerika hat das gemeinsame Erbe noch nicht zu nennenswerten solidarischen Ausgaben geführt – auch wenn einige Regionalbanken aktiv sind. In Asien wurden Institutionen wie der Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN) durch die Pandemie gestärkt, allerdings haben möglicherweise die Größe des Kontinents und die politischen Spaltungen die Entwicklung gebremst. 

Je stärker sich in diesen Regionen eine eigene Öffentlichkeit herausbildet, desto eher können sie ihre Ressourcen zusammenlegen. Damit können sie gemeinsame Probleme angehen sowie regionale Nachhaltigkeit und Gleichheit fördern – wie Europa es vorgemacht hat. 

Können wir das auch im globalen Maßstab hoffen? Visionäre Politiker und zivilgesellschaftliche Organisationen arbeiten seit Jahrzehnten darauf hin. Die Vereinten Nationen waren ein erster Versuch, ein politisches Gebilde für globale Fragen und Engagement aufzubauen. Wir reden aber anders darüber. Im Nationalstaat sprechen wir von der „Allgemeinheit“, den „öffentlichen Ausgaben“ und dem „öffentlichen Interesse“. Auf der globalen Ebene reden wir von der „Hilfe für andere“, der Solidarität mit den anderen“, der „Sympathie für andere“. Es heißt immer noch „wir und sie“ und nicht nur „wir“. 

Eine ernste Herausforderung für alle, die an den Internationalismus glauben

Das spiegelt sich in den unmenschlichen Standards wider, die reiche Länder für Menschen in ärmeren Regionen anlegen. Armutsgrenzen und Schwellenwerte, die in Europa und den USA auf Ablehnung stoßen würden, dienen als Richtschnur für Hilfe. Sobald jemand eine klägliche Summe verdient, gilt er nicht mehr als arm. Und sobald ein Land sich aus seiner umfassenden wirtschaftlichen Misere emporgearbeitet hat, ist es ein „Land mit mittlerem Einkommen“.

Ein gewisses Maß an Ungleichheit ist auch in den meisten reichen Ländern unvermeidlich. Aber es ist Konsens, dass die Bevölkerung zu einem funktionierenden Gesundheits- und Bildungssystem, zu akzeptablen Wohnungen und zu Nahrung Zugang haben sollte. Wir haben ein System mit zweierlei Standards geschaffen: Was für den Großteil der Menschen als akzeptabel gilt, würde in den wohlhabenden Ländern niemals hingenommen. Um auf die Corona-Pandemie zu reagieren, brauchen wir solide Führung. Aber gleichzeitig benötigen wir visionäres Denken. Nur so können wir eine globale Öffentlichkeit aufbauen, die wir so behandeln wie unsere nationale und regionale Öffentlichkeit. 

Zuletzt ein Vorbehalt: In den vergangenen Jahren haben in den USA und in Europa Politiker an Zulauf gewonnen, die dem Lokalen und Nationalen Vorrang einräumen. Die Liberalen haben gelitten, weil sie mit der Globalisierung in Verbindung gebracht wurden. Das ist eine ernste Herausforderung für alle, die an den Internationalismus glauben und der Meinung sind, dass das Leben von Menschen überall gleich viel wert ist. Die leisen Stimmen einer sich herausbildenden Weltöffentlichkeit könnten dadurch in Gefahr geraten. Doch in dem Unbehagen drückt sich eine tiefe Wahrheit aus, die rechte Parteien oft besser begreifen als linke. Die Pflege von Traditionen und Gemeinschaft ist nicht engstirnig oder rassistisch, sondern natürlich und begrüßenswert. 

Wenn wir Institutionen für das 21. Jahrhundert aufbauen, müssen wir die Bewahrung und Pflege des Lokalen mit einer globalen Öffentlichkeit und der Bereitstellung von weltweiten öffentlichen Gütern in Einklang bringen. Wir müssen die lokalen Probleme mit einem globalen Bewusstsein angehen, das zunehmend die Voraussetzung für das menschliche Überleben schlechthin ist. Wir müssen gleichzeitig lokal und global agieren – sowohl in unserem Denken als auch in unserem Handeln.  

Aus dem Englischen von Moritz Elliesen.

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erschienen in Ausgabe 6 / 2020: Kino im Süden
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