Das Kalifat des sogenannten Islamischen Staates (IS) ist Geschichte, seit kurdische Kämpfer 2019 dessen letzte Hochburg in Nordost-Syrien erobert haben. Doch die schweren Verbrechen, die unter dem Kalifat begangen wurden, belasten das Leben in den Gebieten unter kurdischer Selbstverwaltung schwer. Rund 11.000 mutmaßliche frühere IS-Kämpfer sitzen dort in Haft und zahlreiche ihrer Familienangehörigen werden in Lagern festgehalten, schreibt Haid Haid in einer neuen Studie für die britische Denkfabrik Chatham House.
Gerichte sollen über die Kämpfer urteilen. Doch die Prozesse sind der Studie zufolge mangelhaft. Zu Haftstrafen würden neben hohen IS-Führern jene verurteilt, die mit der Waffe für den IS gekämpft haben; wer nach dem Urteil der Gerichte nicht direkt gekämpft hat, werde freigelassen. Die kurdische Verwaltung überlasse lokalen Führern, für die Versöhnung mit solchen früheren IS-Mitgliedern zu sorgen (lokale IS-Mitglieder kamen überwiegend nicht aus kurdischen, sondern aus arabischen Gemeinschaften). Die Gerichte ließen bei ihren Urteilen Verbrechen außerhalb des Schlachtfelds außer Betracht, etwa Vergewaltigungen und Raub, schreibt Haid. Das führe zu Unmut bei vielen Opfern, die frühere Täter in Freiheit sehen, zumal sich Opfer weder mit Klagen oder Zeugenaussagen an die Gerichte wenden könnten noch die Verfahren ausreichend transparent seien. Unzureichend seien sie auch für die Verdächtigen: Viele warteten jahrelang in Haft auf ihren Prozess, ihre Angehörigen blieben mit ungeklärtem Rechtsstatus in Vertriebenenlagern.
Auch die Integration Freigelassener ist laut Haid mit großen Problemen behaftet. Er schlägt vor, Prozesse und Versöhnung zu verbinden mit Wahrheitskommissionen, Reparationen sowie Schritten zur Reintegration. Die Opfer wollten von früheren IS-Mitgliedern zumindest ein Schuldeingeständnis und zum Beispiel die Rückgabe von oder Entschädigung für beschlagnahmte Häuser. Haid räumt ein, dass diese Instrumente bisher nicht zur Aufarbeitung von islamistischem Terror genutzt worden sind. Das jetzige Verfahren aber drohe neue Gewalt zu begünstigen.
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