Bedrohter Alltag: Im Dorf Nueva Esparanza beschlagen Holzfäller ein Pferd.
Javier Velásquez nimmt den Fuß vom Gas, lenkt den schweren Geländewagen an den Straßenrand und fragt Carolina Camacho, ob er das weiße Tuch über die Motorhaube spannen soll. Die Mitarbeiterin der Interkirchlichen Kommission für Gerechtigkeit und Frieden (CIJP) blickt kurz von ihrem Mobiltelefon auf und nickt. Der Wagen hat soeben den Ort Pavarandó passiert; von hier führt die einzige befestigte Straße in das Dorf Nueva Esperanza, eine von drei humanitären Zonen im Verwaltungsbezirk Chocó im Norden Kolumbiens, nicht weit von der Grenze zu Panama.
„Hier sind in den letzten Monaten wieder verstärkt Paramilitärs aufgetaucht“, sagt Camacho, „nicht nur, weil die Region strategisch wichtig ist, sondern auch weil die Paramilitärs und andere kriminelle Banden Waffen nach Kolumbien und Drogen nach Panama schmuggeln.“ Die Pädagogin mit dem hochgesteckten, schwarzen Haar ist im Juni 2018 als freiwillige Lehrerin in den Chocó gekommen, um mit den Kindern in den insgesamt drei humanitären Zonen des Verwaltungsbezirks zu arbeiten. Heute koordiniert sie als Mitarbeiterin der CIJP ein Schulprojekt der drei Zonen mit insgesamt etwa 1500 Einwohnern.
Nueva Esperanza ist mit einem Stacheldrahtzaun und einem stabilen Holzgatter gesichert. Transparente machen darauf aufmerksam, dass Bewaffnete keinen Zutritt haben. Darüber weht an einem mehrere Meter hohen Bambusmast ein weißes Stück Stoff; links und rechts vom Tor prangt das Logo der Internationalen Friedensbrigaden (PBI). Die Menschenrechtsorganisation begleitet die Gemeinde gemeinsam mit anderen internationalen Organisationen und sorgt so für Schutz und internationale Aufmerksamkeit.
Das Modell der humanitären Zonen geht auf eine Initiative der Anwälte der Interkirchlichen Kommission aus dem Jahr 2001 zurück. Die Zonen sollen der Zivilbevölkerung Schutz in Konfliktgebieten bieten. Derzeit gibt es dreizehn solcher humanitären Zonen in Kolumbien; die meisten werden von der Interkirchlichen Kommission begleitet und beraten. Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Zonen anerkannt, was für relative Sicherheit sorgt.
Paramilitärische Nachfolgeorganisationen verbreiten Gewalt
Ein Jugendlicher öffnet das Tor, nachdem er den silberfarbenen Geländewagen mit Javier Velásquez und Carolina Camacho identifiziert hat, und lässt ihn passieren. An einfachen Holzhäusern geht es die Schotterpiste hoch bis zur Schule des Ortes. Velásquez parkt den Wagen vor der offenen Versammlungshalle neben der Schule. Kurz darauf begrüßen Alberto Franco und Benjamín Sierra die Neuankömmlinge. Sierra ist der Vorsitzende des siebenköpfigen Gemeinderats der humanitären Zone, Franco ist Pfarrer und Leiter der Interkirchlichen Kommission.
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Im Jahr 2006 wurde der Dachverband der Selbstverteidigungsgruppen Kolumbiens (AUC) demobilisiert, doch die Strukturen blieben weitgehend erhalten. Heute agieren paramilitärische Nachfolgeorganisationen in fast allen Landesteilen Kolumbiens, kontrollieren in vielen Fällen den Kokaanbau und den Drogenschmuggel, blockieren mit Waffengewalt die Rückgabe von Land an Kleinbauern und verfolgen Aktivisten sozialer Gruppen und Menschenrechtsorganisationen. Auch Padre Alberto Franco hat zahlreiche Morddrohungen erhalten und kann sich nur mit Leibwächtern im gepanzerten Wagen im Land bewegen. Trotzdem ist er gekommen, um die Gemeinde zu unterstützen.
Das weiß Benjamín Sierra zu schätzen. „Die internationale Begleitung sichert uns das Überleben. Ohne sie wären wir nicht mehr hier“, sagt Sierra. Seit dem Amtsantritt des neuen Präsidenten Iván Duque sei die Zahl der Paramilitärs in der Region gestiegen. Mindestens 400 hielten sich in der Region auf, glaubt der Gemeinderatsvorsitzende. Er vermutet, dass sie ihr Camp rund 20 Fahrminuten von Nueva Esperanza aufgeschlagen haben – quasi unter den Augen der kolumbianischen Armee.
Denn die kontrolliert die wichtigsten Zufahrtsstraßen in die Region, darunter auch die Straße nach Pavarandó. „Trotzdem können sich die Paramilitärs frei bewegen“, sagt Sierra. Das sei für die Dorfbewohner nicht nur ein Risiko, sondern auch ein Indiz für die Kooperation zwischen Armee und AGC. Auch der Mord an einem Jugendlichen aus der Gemeinde Mitte Februar macht misstrauisch. Aufgeklärt wurde der Mord bisher nicht, doch die Dorfbewohner verdächtigen die Paramilitärs.
„Nur eine Chance haben, wenn wir uns einig sind"
Dass Paramilitärs und Armee Hand in Hand arbeiten, ist in der Region nichts Neues. Ende der 1990er Jahre vertrieben sie gemeinsam mehrere Tausend Kleinbauernfamilien, die an den Ufern der Flüsse Jiguamiandó, Curvaradó und Bayo Atrato lebten. Mindestens 4000 Menschen mussten damals ihre Dörfer verlassen – darunter ein Großteil der 75 Familien, die heute in Nueva Esperanza leben. Bei der als Operación Génesis bekannt gewordenen Aktion wurden viele Frauen und Männer ermordet, gefoltert und vergewaltigt.
Die Erinnerung daran prägt vor allem die Älteren. Einer von ihnen ist Erasmo Sierra, der Vater von Benjamín Sierra. Der 75-Jährige hat sich mittlerweile auch in der Versammlungshalle eingefunden, um die Neuankömmlinge zu begrüßen. Sein Alter ist dem kräftigen Mann mit den indigenen Gesichtszügen nicht anzusehen. Er engagiert sich nach wie vor in einer der Kommissionen, die das Leben in den humanitären Zonen organisieren. „Nach unserer gewaltsamen Vertreibung haben wir begriffen, dass wir nur eine Chance haben, wenn wir uns einig sind“, sagt er. „Deshalb haben wir eigene Strukturen aufgebaut.“
Für die Zonen gelten andere Regeln als im Rest des Landes. Solidarität und Einigkeit in der Dorfgemeinschaft werden großgeschrieben. Mehr als ein halbes Dutzend Kommissionen organisieren das alltägliche Leben. Sie kümmern sich um die Gesundheit, die Wasserversorgung, die Rechte von Jugendlichen und Frauen und die Bildung. Dabei koordinieren sie ihre Arbeit mit den benachbarten humanitären Zonen in Pueblo Nuevo und Villaflores. Gemeinsam haben die drei Gemeinden eine Schule gebaut, in der die Älteren ihr Abitur nachholen können.
Zu denen gehört auch Luz Dani Sierra, eine der Töchter von Erasmo Sierra. Der 25-Jährigen gefällt, dass die Situation und Geschichte der drei Dörfer im Unterricht eine große Rolle spielen. Das Unterrichtskonzept wurde mit Hilfe der Interkirchlichen Kommission entwickelt und soll die Widerstandskultur in den Dörfern stärken. Denn deren Rechte werden nicht nur von den Paramilitärs ignoriert, sondern auch von nationalen und internationalen Konzernen. Die haben es sowohl auf die Edelhölzer abgesehen, die im tropischen Regenwald der unzugänglichen Region noch zu finden sind, als auch auf mutmaßliche Goldvorkommen. Zudem haben sie weitläufige Palmölplantagen angelegt – teilweise auf Land, das ihnen nicht gehört.
Sympathie für den Widerstandsgeist der Dorfbewohner
Von den Gemeinden ist diese Art Unterricht ausdrücklich erwünscht: „Wir wollen eine Bildung mit lokalem Bezug und die Inhalte selbst bestimmen“, sagt Benjamín Sierra. Der Ansatz wird auch aus Deutschland vom Kinderhilfswerk terres des hommes unterstützt, das mit der Interkirchlichen Kommission seit zwanzig Jahren zusammenarbeitet und sie finanziell unterstützt. Der Lehrplan färbt auch auf den Unterricht der staatlichen Schule in Nueva Esperanza ab, die gegenüber der Versammlungshalle liegt. Dort unterrichtet Heidy Paula Romaña Caballero. Für die Afrokolumbianerin von Anfang dreißig ist klar, dass sie mit dem Abschlussjahrgang die Geschichte der Vertreibung und Rückkehr nach Nueva Esperanza durchnehmen wird. „Das ist für die Identität der Schüler genauso wichtig wie die Geschichte des Bürgerkriegs und das Friedensabkommen mit der FARC“, sagt Romaña Caballero. Aus ihrer Sympathie für den Widerstandsgeist der Dorfbewohner macht sie keinen Hehl.
Anfang März 2019 flogen die Richter der Sonderjustiz für den Frieden (JEP) nach Cacarica, um ihre erste Anhörung in einer ländlichen Region abzuhalten. Die Sonderjustiz ist beauftragt, Verbrechen während des Bürgerkriegs juristisch aufzuarbeiten. Vertreter von Opfergruppen aus dem Chocó und der Region Urabá waren angereist, um zu Menschenrechtsverletzungen von Armee und Paramilitärs sowie der FARC- und der ELN-Guerilla in den Jahren 1986 bis 2016 auszusagen.
Auch Erasmo Sierra hatte die Reise in das eine Tagesreise entfernte Cacarica unternommen. Die Anhörung hat ihm Hoffnung gemacht, dass 22 Jahre nach der Vertreibung der Familien aus Nueva Esperanza gegen die dafür verantwortliche Armeebrigade 17 und deren Befehlshaber ermittelt werden könnte. „Wir wollen erfahren, warum Armee und Paramilitärs so brutal gegen uns vorgegangen sind“, sagt er.
Allerdings weiß auch er, dass Kolumbiens Justiz nie ernsthaft gegen die Täter ermittelt hat. Und seit der Amtsübernahme von Präsident Duque bezweifelt Sierra, dass sich das ändern wird. Die neue Regierung hat nicht nur den JEP-Richtern Steine in den Weg gelegt, sondern zeigt auch bei der Umsetzung des Friedensabkommens mit der FARC-Guerilla wenig Engagement. So ist die vereinbarte Reintegration der FARC-Guerilleros ins zivile Leben kaum vom Fleck gekommen, und auch die Kommission, die für mehr Sicherheit in Regionen wie dem Chocó sorgen und die Paramilitärs bekämpfen soll, hat sich seit der Vereidigung des neuen Präsidenten gerade einmal getroffen.
Nicht zuletzt deshalb haben die Paramilitärs ihren Aktionen landesweit ausgeweitet. Sie werden für das Gros der zunehmenden Morde an Aktivisten von Menschenrechtsorganisationen und sozialen Gruppen verantwortlich gemacht. Doch aufgeben kommt für die Familie Sierra und für die anderen 75 Familien von Nueva Esperanza nicht in Betracht.
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