Wer nicht genau hinsieht, könnte meinen, dass die Nachrichten aus der Demokratischen Republik Kongo über die vergangenen Jahre immer dieselben geblieben sind. Zeitungsartikel und Fernsehberichte sprechen von katastrophalen humanitären Zuständen, einer Welle sexueller Gewalt und einem unübersichtlichen Aufgebot einander bekämpfender Milizen. Im Zweifelsfall geht es dabei um die politische Kontrolle über den Ostkongo und seine reichen Bodenschätze. Doch in Wirklichkeit hat sich die politische Lage in der Region in diesem Jahr völlig verändert. Die Regierungen in Ruanda und im Kongo, die lange Zeit erbitterte Feinde waren, haben gemeinsam Operationen gegen die FDLR (Forces démocratiques pour la libération du Rwanda) durchgeführt. Die FDLR sind ruandische Hutu-Rebellen, die 1994 nach dem Völkermord in den benachbarten Kongo geflohen und bis Anfang 2009 mit der kongolesischen Armee eng verbündet waren. Die ruandische Regierung nahm im Gegenzug General Laurent Nkunda gefangen, den abtrünnigen Tutsi-Kommandeur, den sie bis dahin unterstützt hatte. Damit schienen sich die Verhältnisse vollkommen umzukehren. Allerdings: Auch diese von vielen Diplomaten ausdrücklich begrüßten Bestrebungen, im Ostkongo eine neue Ordnung zu schaffen, gingen mit schweren Gewaltexzessen einher.
Autor
Jason Stearns
war der Koordinator der Expertengruppe, die im Auftrag der UN die Situation in der Demokratischen Republik Kongo untersucht hat. Er ist Autor des Buches „Dancing in the Glory of Monsters“.Der Wechsel der Allianzen begann Ende Oktober 2008. Die Regierung des Kongo kämpfte damals seit Jahren gegen Nkundas Rebellenbewegung CNDP (Congrès National pour la Défense du People). Denn nach der Unterzeichnung des historischen Friedensabkommens für den Kongo im Jahr 2002, das die meisten Kriegsgegner in eine gemeinsame Übergangsregierung führte und vier Jahre Krieg beendete, hatte Nkunda eine Gruppe unzufriedener Politiker, Geschäftsleute und Soldaten um sich scharen können. Die meisten gehörten zu seiner eigenen Volksgruppe, den Tutsi des Nord-Kivu. Es gelang ihm, sich an die Spitze einer brutalen, aber sehr erfolgreichen Aufstandsbewegung zu setzen, die sich aus Steuern auf Zinn, Holzkohle und andere Handelsgüter finanzierte. Im fruchtbaren Hochland brachte er ein Gebiet unter seine Kontrolle, das zeitweilig doppelt so groß war wie das Saarland und eine halbe Million Einwohner hatte.
Im Jahr 2008 leitete ich eine Expertenkommission der Vereinten Nationen (UN), die herausfinden sollte, auf welche Basis Nkunda einerseits und die FDLR andererseits sich stützten. Die Untersuchungen brachten ein komplexes Geflecht diverser Interessen zutage. Viele Mitglieder der Tutsi-Elite im Kongo und im Ausland unterstützten die CNDP aus ideologischen Gründen, denn sie sahen in ihr eine Schutzmacht gegen die in der Region verbreitete Feindseligkeit gegenüber Tutsi. Vielen Geschäftsleuten, die von 1996 bis 2006 unter dem Schutz verschiedener eng mit Ruanda verbundener Rebellenbewegungen und ihrer Verwaltung gestanden und gute Geschäfte gemacht hatten, konnte Nkunda Schutz und Protektion bieten. Und schließlich konnte die Regierung Ruandas mit Hilfe Nkundas im Ostkongo ihre wirtschaftlichen, politischen und strategischen Interessen durchsetzen.
Für die Regierung des Kongo war Nkunda eine enorme Belastung. Präsident Kabila hatte vor den Wahlen von 2006 erfolgreich damit geworben, dass er dem Land Frieden beschert hatte. Die CNDP beschädigte diesen guten Ruf – im Jahr 2008 war die Bevölkerung im Ostkongo weithin enttäuscht von dem Mann, den sie zu über 90 Prozent gewählt hatte. Im Oktober 2008 stand Nkunda nach einer weiteren misslungenen Offensive der Regierungstruppen vor der Eroberung der Provinzhauptstadt Goma. Nun änderte Kabila seine Strategie: Er schickte seine engsten Vertrauten nach Kigali, um ein Abkommen mit der ruandischen Regierung auszuhandeln. Vielleicht wurde nie eine schriftliche Vereinbarung unterzeichnet und die Details nicht einmal mündlich genau festgelegt. Doch die folgenden Monate zeigten, was im Kern beschlossen worden war.
Anfang Januar gestattete Kinshasa der ruandischen Regierung, zwischen 4000 und 6000 Soldaten in den Kongo zu senden, um die FDLR aus ihren Stellungen zu vertreiben. Die Operation lief unter dem Namen „Umoja Wetu“ (Unsere Einheit). Im Gegenzug erledigten die ruandischen Streitkräfte Kabilas größtes Problem: Wenige Tage, nachdem sie in den Kongo eingerückt waren, nahmen sie Laurent Nkunda fest und stellten ihn in Ruanda unter Hausarrest. Der ruandische Stabschef stellte allen übrigen Kommandeuren und politischen Kadern des CNDP ein Ultimatum: Sollten sie sich weigern, ihre Truppen in die kongolesische Armee einzugliedern, würde es ihnen ergehen wie Nkunda. Bestürzt über den Betrug seitens des ehemaligen Bündnispartners, fügten sie sich murrend.
Die Integration des CNDP und anderer Milizen in die Armee verlief einigermaßen erfolgreich – zumindest auf kurze Sicht. Innerhalb weniger Wochen schlossen sich mehr als 6000 CNDP-Kämpfer der kongolesischen Armee an. Ihre Kommandeure bekamen hohe Posten und leiteten auch viele Einsätze gegen die FDLR. Nicht weniger als 16.000 weitere Milizionäre aus Rebellengruppen, die mit der Regierung in Kinshasa verbunden waren, verließen ebenfalls den Dschungel und wurden in die Armee aufgenommen.
Diese enormen Truppenverschiebungen zeigten, wie sehr die verschiedenen Milizen in der Region Kivu von Kinshasa und Kigali aus gesteuert worden waren. Auf Befehl der dortigen Machthaber meldeten sich bewaffnete Gruppen, die jahrelang behauptet hatten, sie kämpften für den Schutz ihrer jeweiligen Ethnien, umgehend bei den verschiedenen Integrationsstützpunkten. Einen besonders starken Eindruck machte General Bosco Ntaganda, der neue Kommandeur der CNDP-Truppen, als er an der Seite des ruandischen Oberbefehlshabers James Kabarebe der Presse in Goma seine Beförderung bekanntgab.
Doch zeigen die weiteren Entwicklungen auch, wie unsicher die Kontrolle der Staaten über alle sozialen Bewegungen und bewaffneten Gruppen in den Kivu-Provinzen war. Die Mehrheit der CNDP-Soldaten weigert sich häufig, den Befehlen von General Ntaganda zu folgen; offenbar gilt ihre Loyalität weiterhin dem entmachteten Nkunda. Auch Tausende der bisher mit Kinshasa verbündeten Milizionäre widersetzen sich den Befehlen der kongolesischen Regierung, und viele von ihnen, besonders in Süd-Kivu, kollaborieren weiterhin mit FDLR-Rebellen.
Auch in anderer Hinsicht erwies sich die Eingliederung der Rebellentrupps als problematisch. Als die neu zusammengesetzten Einheiten der Regierungsarmee (Forces Armées de la République Démocratique du Congo, FARDC) in den Kivu-Provinzen stationiert wurden, murrte die Bevölkerung über den Einsatz von Tausenden ehemaliger CNDP-Soldaten, die zum großen Teil Hutus oder Tutsis waren. In der Region Kivu reichen die Spannungen zwischen diesen Kinyarwanda sprechenden Gruppen und anderen Gemeinschaften bis in die Kolonialzeit zurück. Damals holte die belgische Regierung mehr als 100.000 Ruander in den Kongo, weil Arbeitskräfte für die Plantagen, Rinderfarmen und Minen im Kivu gebraucht wurden. Die Spannungen verschärften sich während der beiden Kriege von 1996 bis 1997 und 1998 bis 2003, als Hutus und Tutsis von den Machtverhältnissen begünstigt wurden.
Auch die Orte, an denen die neuen Einheiten stationiert wurden, sorgten für Streit. Mehrere frühere CNDP-Kommandeure wurden in Gegenden eingesetzt, wo Gold, Zinn und Wolfram gefördert werden. Die Mine Bisie in Walikale, eine der größten Zinnminen im Kongo und möglicherweise in ganz Afrika, steht jetzt unter der Kontrolle eines ehemaligen CNDP-Kommandeurs. Auch Abbaugebiete in Burhinyi und Kalehe werden nun von Einheiten kontrolliert, die von „ruandophonen“ Offizieren befehligt werden. Unter vier Augen räumen kongolesische Offiziere ein: „Damit der Integrationsprozess reibungslos verlief, mussten wir den Handel versüßen.“
Doch die Lage bleibt weiter instabil. Vor allem ist die politische Zukunft der beiden Provinzen unklar. Die meisten Beobachter gehen davon aus, dass bei dem Deal zwischen Kigali und Kinshasa auch Absprachen über die Umverteilung der Macht in Nord-Kivu getroffen wurden, wo die Kinyarwanda sprechende Bevölkerung zahlenmäßig am stärksten ist. Eugene Serufuli, der Gouverneur von Nord-Kivu und ein ehemaliger Verbündeter Ruandas, setzt sich für die Teilung der Provinz ein. Dann würden nämlich die „Ruandophonen“ in deren südlichem Teil die Mehrheit bilden. Politisch einflussreiche Köpfe aus dem CNDP fordern Ministerposten in der Provinz und auch in der Zentralregierung sowie lukrative Posten in staatlichen Unternehmen. Doch nach monatelangen Verhandlungen ist noch immer nichts geschehen, und dadurch verstärken sich auf beiden Seiten Misstrauen und Ressentiments.
Was immer dabei herauskommt, klar ist, dass der Integrationsprozess noch keineswegs abgeschlossen ist. Auch nach dem Ende der Kämpfe gegen die FDLR wird in den Kivu-Provinzen eine Armee stationiert bleiben, die von ethnischen und politischen Spannungen gezeichnet ist. Lokale Machthaber, die ihre Ziele mit militärischer Gewalt verfolgen wollen, werden weiterhin auf loyale Kommandeure und Einheiten in der FARDC zurückgreifen können. Darin liegt eine große Gefahr, vor allem im Hinblick auf die für 2010 und 2011 vorgesehenen Wahlen auf lokaler und nationaler Ebene.
Den meisten Menschen in den Kivu-Provinzen bedeuten diese politischen Machenschaften im Augenblick jedoch wenig. Viel wichtiger sind für sie die derzeitigen Militäreinsätze gegen die Hutu-Rebellen der FDLR. Die Operation „Umoja Wetu“ endete im Februar 2009, als Präsident Kabila die ruandischen Truppen aufforderte, sich aus dem Kongo zurückzuziehen. Danach haben jedoch die kongolesischen Truppen die Offensive unter dem Namen „Kimia II“ (Frieden II) fortgesetzt. Insgesamt wurden 60.000 Soldaten gegen die ruandischen Rebellen eingesetzt. Die FDLR-Kämpfer antworteten mit blutigen Vergeltungsschlägen, und auch die undisziplinierte Armee ließ sich zahllose gewaltsame Übergriffe zuschulden kommen.
Der Erfolg der Militäroperationen war gemischt. Die heftigen Kämpfe zwischen dem CNDP und der kongolesischen Armee, die zwischen 2004 und 2008 hunderttausende Zivilisten zur Flucht gezwungen hatten, wurden beendet, und allein in Nord-Kivu konnten 350.000 Menschen nach Hause zurückkehren. Die Truppen der FDLR mussten sich zeitweilig in entlegene Gebiete zurückziehen. Die Zahl der Demobilisierten verdoppelte sich – zwischen Januar und August 2009 kehrten 908 Kämpfer der FDLR nach Ruanda zurück. Nach Angaben der kongolesischen Armee wurden bis zu 500 FDLR-Soldaten getötet. Demnach könnte die Organisation von den etwa 6000 Mann, über die sie früher verfügte, rund 1400 eingebüßt haben.
Doch der Preis für die Bevölkerung war enorm. Laut den UN wurden infolge der Kämpfe allein in den ersten sechs Monaten 2009 ungefähr 800.000 Zivilisten vertrieben – das war die zweitgrößte Bevölkerungsbewegung diesen Jahres nach der in Pakistan. In manchen Fällen haben FDLR-Soldaten systematisch Zivilisten angegriffen. Die Organisation Human Rights Watch geht davon aus, dass sie seit Anfang des Jahres mindestens tausend Zivilisten getötet hat; nach internen Untersuchungen der Vereinten Nationen könnte die Zahl der Opfer weit höher liegen. Manchmal handelte es sich um Vergeltungsaktionen, zum Beispiel wenn Menschen getötet werden, die von FDLR-Kämpfern beschuldigt wurden, sie hätten ihre Standorte an die kongolesische Armee verraten. Das war es in der Nähe des FDLR-Hauptquartiers in Kibua der Fall: Dort hatten viele FDLR-Kombattanten seit vielen Jahren gelebt, einheimische Frauen geheiratet und ansässigen Händlern Geld und Waren zur Verfügung gestellt. Bei den Kämpfen um diese Militärbasis töteten sie dann mindestens 65 Zivilisten.
Doch nicht alle Gewalttaten gehen auf das Konto der FDLR. In der FARDC herrscht immer noch kaum Disziplin. Vertreter von Menschenrechtsorganisationen berichteten, dass wohl für die meisten der von ihnen beobachteten Fälle von sexueller Gewalt gegen Mädchen und Frauen in den Kivu-Provinzen die Soldaten der kongolesische Armee verantwortlich waren und dass diese während ihrer Operationen ständig mordeten und plünderten.
Weitere Faktoren verschlimmerten die Gewalt. Die schnelle Eingliederung des CNDP und anderer bewaffneter Gruppen in die Armee bedeutete für die Regierung, die ohnehin knapp bei Kasse war, eine enorme finanzielle Belastung. In Nord- und Süd-Kivu wurden über 22.000 zusätzliche Soldaten in die Einheiten integriert, so dass sich insgesamt mehr als 60.000 Soldaten an den Kämpfen gegen die FDLR beteiligten. In manchen Gegenden bekamen die Truppen monatelang keinen Sold, weshalb sie rebellierten und plünderten.
Unterdessen fand sich die internationale Gemeinschaft weitgehend in einer Zuschauerrolle. Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, wie viel Geld sie im Kongo ausgibt: Die Geberländer und die internationalen Finanzinstitute kommen regelmäßig für mehr als 44 Prozent des kongolesischen Staatshaushalts auf und sorgen für viele Sozialdienste. Im Rahmen der UN-Mission MONUC (Mission de l’Organisation des Nations Unies au Congo) stehen über 17.000 Blauhelmsoldaten im Kongo, die bei vielen Gelegenheiten die FARDC entscheidend unterstützt haben.
Seit den Wahlen von 2006 haben die Geber jedoch den multilateralen Ansatz zugunsten ihrer nationalen Ziele fallen lassen. Erstmals seit vielen Jahren treten wirtschaftliche Interessen jetzt in Konkurrenz zu humanitären Anliegen. Zwischen 2004 und 2005 wurden 80 Prozent der Schürfrechte für Kupfer und Kobalt neu ausgehandelt oder an ausländische Unternehmen verkauft, und die Botschaften begannen dabei eine aktive Rolle zu spielen. Diese Tendenz wurde noch dadurch verstärkt, dass China sich im Kongo stark engagiert: Es stellte als Gegenleistung für Minenkonzessionen sechs Milliarden Dollar für den Ausbau der Minen und die Sanierung der Infrastruktur zur Verfügung. Dieses Jahr avancierte China, das den Haushalt für 2009 zu 22 Prozent finanziert, zum bedeutendsten bilateralen Geber des Kongo.
Dass die anderen Geber dadurch marginalisiert werden, war während der jüngsten Krise in der Region Kivu deutlich zu beobachten: Der zwischen Kinshasa und Kigali ausgehandelte Deal, nach dem Nkunda festgenommen wurde und die ruandischen Truppen im Kongo operieren durften, war ohne ihr Wissen ausgehandelt worden. Die Friedensmission der UN, die der kongolesischen Armee zur Zeit logistische Unterstützung bietet, wurde erst in einem fortgeschrittenen Stadium hinzugezogen, um bei den Kimia II-Operationen mitzuwirken; von der Planung der Militäreinsätze bleibt sie weitgehend ausgeschlossen. In letzter Zeit sind die Friedenstruppen heftiger Kritik ausgesetzt, weil sie eine Armee unterstützen, die stärker zur Bedrohung der eigenen Bevölkerung beiträgt als zur Verbesserung der katastrophalen Sicherheitslage.
Sie zu verbessern, ist entscheidend. Dazu muss man die FDLR ausschalten, die kongolesische Armee reformieren und für mehr Transparenz im Umgang mit den Ressourcen der Region zu sorgen. Ein Spaziergang wird das nicht werden. Erstens und vor allem müssen die Geber dem Kongo endlich wieder die Bedeutung beimessen, die ihm zukommt, und ihre finanziellen Druckmittel nutzen, um Reformen im Sicherheitssektor und in der Justiz durchzusetzen. Zweitens müssen friedliche Alternativen für den Umgang mit der FDLR erwogen werden. Dazu gehört auch eine konsequentere Strafverfolgung ihrer Führer in Deutschland und Frankreich. Es kann nicht angehen, dass der FDLR-Präsident Ignace Murwanashyaka sich in Deutschland frei bewegen darf, während seine Truppen im Kongo Menschen massakrieren.
Aus dem Englischen von Anna Latz.