Mexiko wandelt sich: Das einstige Transitland für jährlich mehr als eine halbe Million Migranten wird in Zukunft ein Bleibeland sein. Nicht weil sich die Menschen dazu freiwillig entscheiden, sondern weil sie von einer immer restriktiveren Politik dazu angehalten werden.
Ein kurzer Blick zurück: Am 19. Oktober 2018 stimmten auf der guatemaltekischen Seite des Grenzflusses Suchiate Geflüchtete aus Honduras, El Salvador und Guatemala die Hymnen ihrer Heimatländer an. Auf der anderen Seite der Grenze riefen ihnen Mexikaner zu: „Haltet durch!“ Am nächsten Tag überquerten die Geflüchteten die Grenze, sie leiteten den mexikanischen Herbst der Migration ein.
Die über 7000 Geflüchteten – und all die anderen, die sich nach ihnen auf den Weg machten – kamen in ein Land, das sich voller Euphorie auf einen politischen Umbruch einstellte. Nachdem Andrés Manuel López Obrador Mitte 2018 in einem Erdrutschsieg zum neuen Präsidenten gewählt worden war, leitete er eine tiefgreifende Transformation des Landes ein. Die ersten Monate der neuen Regierung, die am 1. Dezember 2018 ihr Amt antrat, waren von einer Aufbruchsstimmung gekennzeichnet.
López Obrador hieß die Migranten willkommen und versprach den Geflüchteten einen Arbeitsplatz. Er schuf für die „zentralamerikanischen Geschwister“ ein neues Arbeitsvisum, das in den ersten Wochen des Jahres 2019 knapp 13.000 Menschen in Anspruch nahmen.
Doch nur wenige Monate später verkündete der Präsident eine migrationspolitische Kehrtwende. „Wir müssen unsere Gesetze anwenden und die illegale Migration verhindern“, sagte er bei einer Rede Anfang Juni. Zwar betonte er, dass die Menschenrechte dabei geachtet werden sollten. Doch nur einen Tag später unterzeichnete seine Regierung ein Abkommen mit den USA, in dem sich Mexiko dazu verpflichtete, die Migranten auf ihrem Weg gen Norden aufzuhalten.
Der ehemalige UN-Kommissar für Menschenrechte in Mexiko, Jan Jarab, zeigt sich angesichts dieser Wende besorgt: „Es ist ein Rückfall. Unter dem Druck der USA wurde eine Politik der Abwehr eingeleitet“, sagt der Diplomat. Zwischen der mexikanischen Willkommenskultur und ihrem Abgang liegen nur wenige Monate. Um diese 180-Grad-Wende zu verstehen, muss man auf den US-Präsidenten Donald Trump blicken.
Bekanntlich wettert der Republikaner Trump gegen all jene Migrantinnen und Migranten, die versuchen, auf irreguläre Weise in den USA Zuflucht zu finden. Nachdem Trump unter dem Eindruck der „Karawanen“ im Herbst 2018 bereits Tausende US-Soldaten an die Südgrenze entsandt hatte, verstärkte er im Frühjahr 2019 seine Drohgebärden: Er drohte, die Grenze innerhalb eines Jahres teilweise oder ganz zu schließen, sollte Mexiko weder die irreguläre Migration noch den Drogenhandel stoppen. Bereits vorher sollten, um Druck auszuüben, Handelszölle in Höhe von bis zu 25 Prozent auf mexikanische Produkte erhoben werden.
Autor
Timo Dorsch
ist freier Journalist und bewegt sich zwischen Deutschland und Mexiko. Seine Themen sind Menschenrechte und Migration sowie organisiertes Verbrechen und soziale Gewalt.Die „New York Times“-Journalisten Michael D. Shear und Julie Hirschfeld Davis schreiben in ihrem Enthüllungsbuch „Border Wars: Inside Trump’s Assault on Immigration“, dass das Beraterteam im Weißen Haus die mexikanische Regierung dazu gedrängt haben soll, schnellstmöglich mehr Migranten festzunehmen.
Das Drängen wirkte. Am 7. Juni teilte der mexikanische Außenminister Marcelo Ebrard die Unterzeichnung des bereits erwähnten Abkommens mit. Seitdem patrouilliert die Nationalgarde, eine neu geschaffene Militäreinheit, mit 27.000 Soldaten an der knapp 3000 Kilometer langen Nordgrenze Mexikos sowie mit 10.000 Soldaten an der Südgrenze im Bundesstaat Chiapas.
Die mexikanische Abwehr hatte Erfolg: Das Weiße Haus verkündete Anfang September 2019, dass der US-Grenzschutz im Vergleich zum Vorjahr zwischen Mai und August 78.000 weniger Migranten festgenommen hatte; das entspricht einem Rückgang um 56 Prozent. Die mexikanischen Behörden nahmen indes im gleichen Zeitraum 134.000 Migranten in Mexiko fest, im Jahr zuvor waren es nur 83.000. Die angedrohten Strafzölle blieben aus.
Doch nicht nur Trump hat die mexikanische Migrationspolitik beeinflusst, das tat auch schon sein Vorgänger, der Friedensnobelpreisträger Barack Obama. Nachdem die USA zum Sommeranfang 2014 Tausende unbegleitete minderjährige Migranten an ihrer Grenze festnahmen – im ganzen Jahr waren es 67.339 unbegleitete Minderjährige –, drängte der US-Präsident seinen Nachbarn dazu, die Grenzkontrollen auszuweiten. Mexiko reagierte. Unter dem Präsidenten Enrique Peña Nieto wurde das Programm „Frontera Sur“ im Juli 2014 für den mexikanischen Südosten ins Leben gerufen, bei dem die Grenzen zu Guatemala stärker kontrolliert werden. Seit 2016 deportiert Mexiko weitaus mehr Zentralamerikaner, als es davor traditionell die USA getan haben.
Neben Mexiko treiben auch die USA die Zahl der Abschiebungen in die Höhe und verschärfen ihre Migrationspolitik. Davon sind nicht nur Zentralamerikaner, sondern auch Mexikaner, die in die USA wollen, betroffen. In der Grenzstadt Ciudad Juárez sind bis Mitte Oktober bereits 16.800 aus den USA abgeschobene mexikanische Staatsbürger angekommen.
„Wir beobachten eine Zunahme der Abschiebungen aus den USA“, teilt Jesús Enrique Valenzuela Peralta auf Anfrage mit. Peralta ist leitender Koordinator des staatlichen Bevölkerungsinstituts COSEPO in Ciudad Juárez. Zeitgleich kampieren über 3.000 Mexikaner entlang der Grenzbrücke, die Mexiko mit der US-amerikanischen Stadt El Paso verbindet. „Sie alle sind Opfer interner gewaltsamer Vertreibungsprozesse in einigen Bundesstaaten Mexikos und stellen in den USA Antrag auf Asyl“, erklärt Peralta. Früher hätten Asylbewerber einfach die Brücke überqueren müssen. Seit Anfang 2019 diktiere das Migrant Protection Protocol, ein Regierungsprogramm der USA, dass Asylsuchende, die die USA über Mexiko erreichen, auf mexikanischem Territorium den Antragsprozess abwarten müssen. Dazu zählen auch diejenigen, die sich schon in einem laufenden Asylverfahren befinden. Über 12.000 Asylsuchende, fast alle aus Zentralamerika kommend, wurden so wieder über die Grenze zurück nach Ciudad Juárez geschickt. Insgesamt sollen sich, laut der Beobachtungsstelle TRAC Immigration der Syracuse Universität, knapp 47.000 Antragsteller entlang der Grenze auf mexikanischer Seite aufhalten.
Etwa 2.900 Kilometer südlich von Ciudad Juárez: Am Flussufer des Suchiate in Ciudad Hidalgo patrouilliert die Nationalgarde bei sengender Sonne. „Wir führen hier nur Befehle aus“, sagt ein junger Soldat, während ein zweiter sein Sturmgewehr schultert. Vor ihren Augen passiert ungestört der unkontrollierte Warenverkehr auf dem Fluss zwischen Mexiko und Guatemala. Die Balseros, wie die Männer genannt werden, die Personen, Toilettenpapier, Fahrräder und weitere Nutzgegenstände auf Gummireifen und Brettern auf die andere Seite verfrachten, sind fast immer in Bewegung. Die Handelsbeziehungen sind essenziell für die lokale Wirtschaft auf beiden Seiten des Flusses. Die Soldaten der Nationalgarde haben nur den Befehl, irreguläre Migrantinnen und Migranten aufzuhalten.
Die Migranten passieren den Fluss meist nachts oder an weniger kontrollierten Punkten, wie in dem Örtchen Talismán, knapp 40 Fahrminuten nördlich. Dort kauern drei Beamte der Landespolizei im Schatten und werfen halbherzig einen Blick auf die verpackten Waren, die mit den Trägern den Fluss überqueren. Man begrüßt sich mit Handschlag. Man kennt sich. Von der oben beschriebenen strikten Kontrolle an der Südgrenze spürt man hier nicht viel.
Trumps Strategie scheint aufzugehen: Angesichts des innenpolitischen Streits um stetig anwachsende Kosten für den versprochenen Mauerbau verlagerte er – gleich seinem Vorgänger – die Grenze gen Süden. Gefestigt mit mexikanischem Militär und bilateralen Abkommen ist er dabei, sein Ziel zu erreichen, die USA gegen irreguläre Migration abzuschotten.
Dabei hilft ihm auch die sichere Drittstaatenregelung mit Guatemala, Honduras und El Salvador. Guatemala stufen die USA seit Juli als sicher ein, El Salvador seit Mitte und Honduras seit Ende September – und verweisen antragsstellende Asylsuchende an entsprechende Behörden in den drei Ländern. Das grenzt an Absurdität, stammt doch die überwiegende Mehrzahl der fliehenden Menschen aus diesen drei Staaten, die in Armut und Gewalt versinken. Das nördliche Dreieck, wie die Region auch genannt wird, ist das tödlichste Gebiet der Welt, das sich nicht offiziell im Krieg befindet.
Das wissen auch die Geflüchteten: Sie werden keinesfalls in El Salvador Schutz suchen, sondern weiter nach Mexiko ziehen. Dort werden sie vom Militär aufgegriffen. Dann wartet ein undurchsichtiger Bürokratieprozess auf sie, der sechs Monate und länger dauern kann. Eine lange Zeit, während der die Antragssteller nicht wissen, wie sie ihr Überleben sichern können. Sie werden in Mexiko bleiben. Zusammen mit den über 3000 in Tapachula festsitzenden afrikanischen Migranten, die, statt nach Europa zu fliehen, mit dem Flieger nach Brasilien und Ecuador gekommen sind und nun gen Norden wollen. Doch auch ihre Hoffnungen von einem Leben in den USA werden stetig kleiner.
Immerhin haben beide Gruppen Aussicht auf eine Arbeitserlaubnis für den Südosten Mexikos: Für sein ambitioniertes und umstrittenes Megainfrastrukturprojekt Tren Maya – über tausend Kilometer Zugstrecke und über ein Dutzend neuer Dörfer sollen gebaut werden – braucht der Präsident preiswerte ausländische Arbeiter. In einem Strategiepapier der Abgeordnetenkammer vom September 2019 ist vermerkt: Der Tren Maya diene dazu, Arbeits- und Entwicklungsmöglichkeiten zu schaffen, „um den Migrationsfluss auf seinem Weg gen Norden aufzufangen“.
Ana Elena Barrios vom Menschenrechtszentrum Fray Matías de Córdova in Tapachula zeichnet ein tristes Bild der Lage: „Vor der Wende gab es zumindest noch einen klitzekleinen Weg. Es gab Licht am Ende des Tunnels. Heute stoßen wir auf Granit“, sagt sie. Jede Woche ist die Psychologin mit persönlichen Berichten von 40 Geflüchteten konfrontiert. Sie versucht, ihnen Hilfe anzubieten, die immer wirkungsloser scheint. „Eigentlich geht man davon aus, dass das Asylverfahren oder das Verfahren zur temporären Aufenthaltsgenehmigung Prozesse zur Wiederherstellung von Menschenrechten sind, nachdem diese in ihren Herkunftsländern systematisch verletzt worden sind. Stattdessen sind beide eine Verlängerung der Gewalt. Die Migrantinnen sind hier in Gefahr“, sagt sie aufgebracht im Sitzungsraum des Zentrums. Zwar ist Tapachula nicht Ciudad Juárez, doch ist auch dort das organisierte Verbrechen an vielen Punkten präsent.
Für Flüchtlinge aus afrikanischen und zentralamerikanischen Ländern sind die Chancen, in den Norden zu kommen, geringer denn je. Das neue mexikanische Migrationsregime – ein Mix aus Militarisierung, bürokratischen Hürden und internationalen Abkommen – stülpt sich ihnen gewaltsam über.
Neuen Kommentar hinzufügen