Die VEM ist internationaler geworden: gemeinsames Abendmahl beim Kirchentag auf Borkum.
Mehr als 200 Jahre lang war christliche Mission eine Einbahnstraße: Geld, Know-how und Missionare gingen in den Süden, um den Menschen dort das Evangelium zu verkünden. „Zeugen sein bis ans Ende der Erde …“, wie es in der Apostelgeschichte heißt. Ausschließlich weiße Missionare und ihre Frauen schickten evangelische Missionsgesellschaften in Deutschland und ganz Europa aus, um die biblische Botschaft unter „Eingeborenen“ zu verbreiten und mit ihr die westliche Zivilisation – von Namibia bis China, vom Libanon bis Westpapua.
Mission im 18. und 19. Jahrhundert verlief von Norden nach Süden. Das änderte sich erst in den 1970er- und 1980er-Jahren: Mit der beginnenden Globalisierung wandelte sich nicht nur das Verständnis von der „Dritten Welt“ hin zur „Einen Welt“, sondern auch die Missionstheologie. Ehemalige Tochterkirchen wurden zunächst zu Partnerkirchen und dann bei einigen Missionswerken – nämlich 1996 bei der Wuppertaler Vereinten Evangelischen Mission (VEM) und 2012 bei der Stuttgarter Evangelischen Mission in Solidarität (EMS) – zu gleichberechtigten Mitgliedern. Das war revolutionär, denn das alte patriarchale Machtgefälle wurde aufgekündigt: Die Geschwister im Süden sollten nicht mehr Objekte der Mission sein, sondern gleichberechtigte Akteure.
Die VEM in Wuppertal, 1971 hervorgegangen aus der Rheinischen Mission und der Bethel-Mission, setzte als erste dieses neue Denken in Deutschland um. „In einer zerrissenen Welt“ wolle man „zu einer anbetenden, lernenden und dienenden Gemeinschaft zusammenwachsen, Gaben, Einsichten und Verantwortung teilen“ – so heißt es in der 1993 von allen VEM-Kirchen aus Afrika, Asien und Deutschland in Ramatea (Botswana) verabschiedeten neuen Satzung, die 1996 in Bielefeld ratifiziert wurde.
Gleichberechtigung aller Mitglieder aus Afrika, Asien und Deutschland
Das löste unter anderen protestantischen Kirchen in der Ökumene zunächst eher Skepsis als Anerkennung aus. Denn das Kernstück der neuen „Gemeinschaft von Kirchen in drei Erdteilen“ ist die völlige Gleichberechtigung aller mittlerweile 39 Mitglieder aus Afrika, Asien und Deutschland, den drei Regionen der VEM: Alle sind in den Leitungsgremien vertreten und tragen je nach ihren Möglichkeiten auch finanziell zum Haushalt bei. Entscheidungen über Projekte, Programme, Finanzen und Strukturen werden gemeinsam getroffen.
„Das wird niemals funktionieren!“ oder „Wie können die Deutschen bloß freiwillig ihre Kontrolle über die Finanzen aufgeben?“, Regine Buschmann erinnert sich noch lebhaft an die Bedenken von damals. Auch weil sie sie als ökumenische Mitarbeiterin in Tansania durchaus teilte. Anfangs jedenfalls. Die Diakonin und heutige Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel war von 2008 bis 2016 Moderatorin und damit höchste Repräsentantin der neuen VEM, als Nachfolgerin der Bischöfe Zephania Kameeta (Namibia) und Soritua Nababan (Indonesien), dem Moderator der ersten Stunde.
„Ich kenne die VEM wie meine Westentasche“, sagt Buschmann. Schon vor ihrer Berufstätigkeit in Tansania war sie 1983–84 dort eine der Pionierinnen des Freiwilligenprogramms. Heute ist es für sie einer der „Leuchttürme“ der VEM. Denn längst kommen auch junge Leute aus Afrika und Asien im Süd-Nord-Austausch nach Deutschland oder gehen in andere Mitgliedskirchen des Südens. Anschließend bleiben viele im Netzwerk Junge Erwachsene weltweit miteinander und mit der VEM verbunden. Für diese Generation, aufgewachsen in einer digitalisierten Welt, sind kulturelles Lernen und eine Globalisierung ihres Glaubens selbstverständlich.
Die Internationalisierung der VEM von 1996 hatte eine gut 20-jährige Vorgeschichte. An deren Beginn steckte das interkulturelle Lernen noch in den Kinderschuhen und traditionelle Denk- und Verhaltensmuster standen auf dem Prüfstand: „Zum ersten Mal saßen Afrikaner und Asiaten mit am Entscheidungstisch eines deutschen Missionswerkes“, sagt Buschmann. Das Ergebnis war der Strukturwandel der VEM, der noch weitergeht. Einiges hat sich aber kaum verändert, meint Buschmann. So seien etwa die evangelischen Landeskirchen Rheinland und Westfalen als größte Geldgeber „immer noch die deutschen Elefanten-Kirchen“ mit entsprechend großem Einfluss und Geltungsbedürfnis.
Für viele Kirchen ist Armut Alltag
Die finanzielle Ungleichheit ist im Jahresbericht dokumentiert. Die sieben deutschen VEM-Mitglieder haben 2018 etwa 5,8 Millionen Euro zum knapp 15 Millionen Euro zählenden Gesamthaushalt beigetragen, die Mitglieder aus Afrika und Asien zusammen 219.000 Euro. Weitere Haushaltseinnahmen verzeichnet der VEM unter anderem durch Spenden, Zinserträge und Gewinne aus dem Weltladen in Wuppertal. Für viele Kirchen ist Armut Alltag. VEM-Vorstandsmitglied Jochen Motte veranschaulicht das am Betrag von etwa 115.000 Euro, den die rheinische Kirche pro Jahr für ein Pfarrgehalt aufwendet: Damit könne man fast die Hälfte der Pfarrerschaft in der kleinen methodistischen Kirche von Sri Lanka bezahlen, die 120 Euro Monatsgehalt bekommen.
Andere Mitgliedskirchen liegen im Mittelfeld. So hätten die drei gastgebenden indonesischen Kirchen 2018 bei der VEM-Vollversammlung auf Sumatra erstmals die Gesamtkosten für Unterkunft und Verpflegung für rund 100 ausländische Gäste übernommen, nur die Reisekosten kamen aus Wuppertal. „Das wäre vor 20 Jahren noch völlig undenkbar gewesen“, so Motte. Und Regine Buschmann spricht von einem „guten Wettbewerb: Jetzt sagen die anderen, wenn Indonesien das vormacht, können wir nächstes Mal nicht zurückstehen“.
Aus Sicht von Jochen Motte haben mittlerweile alle Mitglieder gelernt, mit der finanziellen Ungleichheit zu leben. Wichtig sei das Grundprinzip: „Alle tragen zum Gemeinsamen bei“, je nach Vermögen, und alle haben Mitspracherecht. Viele sprechen auch von der „VEM-Familie“, wie die gebürtige Indonesierin Irene Girsang. Als Tochter des ersten ausländischen Asienreferenten in der Wuppertaler Zentrale kennt sie die VEM seit langem und ist in zwei Kulturen beheimatet. „Es ist gut, dass heute alle eine Stimme haben, egal wie viel sie geben“, meint Girsang, die für Internationale Frauenprogramme verantwortlich ist. „Aber das Bewusstsein ist noch immer sehr präsent, dass die Deutschen das meiste Geld geben.“
Autorin
Solche „Safe Spaces“ sind eine gute Sache, findet Irene Girsang, für die es normal ist, dass es in der VEM auch bei den Themen Sexualethik oder Gender unterschiedliche Zugänge gibt und teils jahrelange Diskussionsprozesse. Ein Beispiel ist die Frauenordination, die mittlerweile bis auf eine kleinere Kirche von allen eingeführt wurde. Und so plädiert Girsang für gegenseitigen Respekt in allen Fragen: „Viele Kirchen tun sich sogar noch mit dem Thema Scheidung schwer, die dürfen doch nicht einfach als rückständig angesehen werden“, fordert sie. Gleichzeitig erlebt sie, dass auch die für Deutsche eher ungewöhnliche Form der schrittweisen Enttabuisierung in Safe Spaces Spuren hinterlässt: „Ich bin sicher, dass den Kirchen langsam bewusst wird, dass sie sich zur Homosexualität verhalten müssen.“
In aller Öffentlichkeit dagegen vollzieht sich die schrittweise personelle Internationalisierung der VEM. Die Abteilung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung etwa hat heute je einen ökumenischen Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin im asiatischen Regionalbüro in Sumatra (Indonesien) und im afrikanischen Regionalbüro in Daressalam (Tansania). Ähnlich international vernetzt arbeiten die anderen Abteilungen, ausgerichtet an den fünf programmatischen Säulen Advocacy, Diakonie, Entwicklung, Evangelisation und Partnerschaften.
Ein Afrikaner als Generalsekretär in der Wuppertaler Zentrale
Internationalisierung auch im Generalsekretariat: Mit dem Tansanier Fidon Mwombeki zog 2006 erstmals in der deutschen Missionsgeschichte ein Afrikaner als Generalsekretär in die Wuppertaler Zentrale ein. Sein Nachfolger allerdings ist mit Volker Dally seit 2016 wieder ein Deutscher, ebenso wie der Geschäftsführer es durchgängig war. „Das ist alternativlos, um so ein Unternehmen in Deutschland zu führen“, merkt Regine Buschmann pragmatisch an.
Ähnliche Erfahrungen macht die Evangelische Mission in Solidarität (EMS) in Stuttgart, die sich als bisher einziges deutsches Werk 2012 nach dem Vorbild der VEM ebenfalls internationalisiert hat. Sie versteht sich als Netzwerk von 23 evangelischen Kirchen und fünf Missionsgesellschaften in Europa, Afrika, Asien und dem Nahen Osten. Ihre 28 Mitglieder arbeiten juristisch gleichberechtigt in allen Leitungsgremien und Tätigkeiten zusammen, ein „Geben und Nehmen auf Augenhöhe“, wie der damalige EMS-Generalsekretär Bernhard Dinkelaker (1996-2012) bei der Verabschiedung der neuen Satzung sagte.
Der Mission nach wie vor eng verbunden, meint Dinkelaker heute, dass sich die EMS-Gemeinschaft „als ökumenisches Lernfeld im Geist der ‚Einheit in Vielfalt‘ bewährt“ und „Abhängigkeitsmuster der Vergangenheit“ überwunden habe. Das sei etwa bei einer „Zerreißprobe“ wie dem Umgang mit Homosexualität deutlich geworden, in dem sich auch die EMS für das Gespräch in Safe Spaces entschieden hat, aber auch etwa bei Korruptionsvorwürfen gegen eine Kirche oder der kontroversen Diskussion über Geschlechtergerechtigkeit, sexuelle Gewalt oder HIV/AIDS. Alle hätten „an dem Willen festgehalten, die Gemeinschaft nicht aufs Spiel zu setzen“.
Anders als die VEM hat die EMS keine Regionalbüros, sondern setzt auf Vernetzung im Rahmen von Projekten etwa zwischen den Kirchen verschiedener Länder wie Korea und Südafrika. Und in der Stuttgarter Zentrale gibt es bisher nur zwei Mitarbeitende mit „nicht deutschem Pass“, wie Geschäftsführer Rudolf Bausch es formuliert. Aber genau wie bei der VEM werden alle Entscheidungen gemeinsam getroffen, obwohl auch hier nur ein Bruchteil der Finanzen von Kirchen im Süden aufgebracht werden kann. „Das hat sich gut eingespielt“, so Bausch. Wichtig sind ihm darüber hinaus die interkulturellen Lernprozesse – etwa ein mehrjähriges Bibelleseprojekt „Mit den Augen anderer“, an dem sich seit 2004 rund 250 Gruppen aus 15 Ländern beteiligt haben.
Zur Internationalisierung gebe es „keine Alternative“, schrieb Jochen Motte 1996 als junger Theologe in einem Aufsatz der Zeitschrift für Mission. In seinem Fazit heute schwingen Stolz und Bescheidenheit gleichermaßen mit. „Wir sind nicht das perfekte Modell“, sagt Motte, „aber es funktioniert, und wir haben die ökumenische Landschaft bereichert.“
Für Regine Buschmann geht es dabei auch um „viele tolle Menschen“ aus aller Welt, die sie als Familie empfindet. Als sie vor einiger Zeit eine lebensgefährliche Infektion hatte und eine Beinamputation drohte, kam eine Abordnung von Bischöfen und Kirchenführern von einem VEM-Treffen hinüber ins Krankenhaus und hat an ihrem Bett gesungen und gebetet. „Diese Invasion von lila tragenden Männern, das war wie eine Globalisierung des Glaubens für mich“, sagt Buschmann. Und das Bein blieb dran.
Neuen Kommentar hinzufügen