Die Kinder der Toten

Jemen
Viele Jungen und Mädchen haben im Krieg im Jemen ihre Eltern verloren. Sie müssen die Schule abbrechen und arbeiten, um ihre Familie mit zu ernähren.

Musa Mursheds Vater ist im Sommer 2018 bei einem mutmaßlichen Luftangriff gestorben. Seitdem muss der Elfjährige seine Familie versorgen: „Die Arbeit auf dem Fischmarkt von Hudaida ist zu schwer für meinen Sohn, aber wenn er nicht arbeiten geht, werden wir vielleicht verhungern“, sagt Musas Mutter Salwa.

Musa lebte als ältestes von vier Geschwistern mit seiner Familie in dem kleinen Ort Mandhar am Rand von Hudaida, doch als dort im Juni 2018 die Kämpfe zwischen den Huthis und der von Saudi-Arabien unterstützten Regierung von Präsident Abd Rabbo Mansur Hadi ausbrachen, verließ die Familie ihr Haus und floh ins Stadtinnere von Hudaida , wo es sicherer war als in Mandhar.
„Nur wenige Meter von unserem Haus entfernt wurde heftig gekämpft, manche Häuser wurden zerstört und Nachbarn vor unseren Augen getötet“, berichtet Salwa von ihrem früheren Zuhause in Mandhar. „Uns blieb keine andere Wahl als die Flucht inmitten der Kampfhandlungen. Wir nahmen nichts mit und riskierten unser eigenes Leben und das unserer Kinder.“

Nach vier Stunden Fußmarsch kam die Familie sicher in Hudaida  an. Im Haus eines Verwandten im Zentrum der Stadt fanden sie eine erste Bleibe. Die größte Schwierigkeit für die Familie bestand nun darin, Arbeit zu finden.

Da Ali Murshed, der Hauptverdiener der Familie, in Mandhar als Fischer gearbeitet hatte, begann er nach der Ankunft in Hudaida  den Kollegen auf dem Fischmarkt Al-Mihwat beim Verkauf zu helfen. Nur mühsam konnte er damit seine Familie über Wasser halten. Denn der Verkauf von Fisch rechnete sich nicht, weil das Rote Meer vor Hudaida gefährlich ist und in den vergangenen vier Jahren viele Fischer zum Ziel von Luftangriffen wurden.

Als Anfang August 2018 Bomben auf Al-Mihwat fielen, kamen über zwanzig Fischer ums Leben, darunter Ali Murshed; rund sechzig weitere wurden verletzt. Ali Mur-sheds Frau Salwa erinnert sich noch genau daran, wie sie die Bomben hörten, als sie beim Mittagessen saßen. „Wir hätten aber nie gedacht, dass mein Mann eins der Opfer sein könnte, denn das schien eine sichere Gegend jenseits der Kämpfe zu sein“, erzählt sie. „Dann kamen Nachbarn zu uns und sagten, mein Mann sei unter den Opfern. Seinen Leichnam konnten wir allerdings nicht sehen, weil er verbrannt war.“

Musas Traum, Buchhalter zu werden, ist geplatzt

Ihre Kinder erschreckte und traumatisierte die Nachricht vom Tod ihres Vaters zutiefst; Salwa beruhigte sie und half ihnen, die schlimme Wahrheit zu akzeptieren. Zehntausende Menschen wurden seit 2015 im Jemen getötet oder verwundet, darunter nach UN-Angaben mindestens 17.700 Zivilisten.

Autor

Nasser Al-Sakkaf

schreibt als freier Journalist im Jemen für mehrere internationale Zeitungen, Zeitschriften und Webseiten wie Middle East Eye, IRIN, Al Jazeera English und Newsweek Middle East.
Nach Ali Mursheds Tod wurde sein Sohn Musa zum Familien-ernährer: „Damit wir genug zu essen haben, hörte mein Sohn Musa unmittelbar nach dem Tod meines Mannes mit der Schule auf und ging auf demselben Fischmarkt arbeiten, auf dem sein Vater getötet worden war“, berichtet die Mutter des Jungen.

Im Gespräch erzählt Musa, dass er auf dem Markt bei den Freunden seines Vaters arbeitet und den Fisch von den Booten zu den Verkaufsständen trägt. Eine Arbeit, die er zwar nicht mag, zu der er sich aber als ältester Sohn der Familie verpflichtet fühlt.

Früher hat Musa davon geträumt, Buchhalter zu werden, doch dieser Traum ist zerplatzt. „Niemand auf der Welt möchte gern die Schule aufgeben und eine so schwere Arbeit annehmen wie ich. Aber wenn ich nicht arbeiten gehe, hat meine Familie nicht genug zu essen. Essen ist wichtiger als Schule, und so habe ich mich fürs Arbeiten entschieden“, erklärt der Elfjährige. Auch seine Geschwister haben die Schule abgebrochen. „Ich kann nämlich die Gebühren nicht bezahlen, und wir denken sowieso an nichts anderes als Essen.“ Er sei den Freunden seines Vaters dankbar, dass sie ihn bei sich arbeiten lassen. Außer Musa arbeiten noch eine Menge andere Kinder auf diesem Fischmarkt, darunter auch Kinder von Verstorbenen.

Musa gibt zu, dass es ihn beunruhigt, genau dort zu arbeiten, wo sein Vater ums Leben kam: „Der Fischmarkt ist ein gefährlicher Ort, und ich habe Angst, dasselbe Schicksal zu erleiden wie mein Vater, aber mir bleibt keine andere Wahl.“

Die humanitäre Krise im Jemen ist nach wie vor die schlimmste weltweit. Laut UN-Angaben steht das Land infolge des seit fast vier Jahren andauernden Krieges und des wirtschaftlichen Niedergangs kurz vor einer Hungersnot und einer sich verschärfenden Versorgungskrise in allen Bereichen. Schätzungsweise vier Fünftel der Bevölkerung – 24 Millionen Menschen, davon 14,3 Millionen akut notleidend – brauchen humanitäre Hilfe oder Schutz. Dass die Lage sich weiter zuspitzt, zeigt sich an der Zahl der Menschen in akuter Not, die gegenüber dem Vorjahr um gut ein Viertel gestiegen ist.

Jeden Tag bitten neue Kinder den Fischer um Arbeit

Jaber Morie, 13, ebenfalls Halbwaise, verlor seinen Vater im Jahr 2017 bei einem mutmaßlichen Luftangriff der saudisch geführten Koalition auf das Viertel Al-Honood mitten in Hudaida . Seitdem müht er sich ab, seine Familie mehr schlecht als recht durchzubringen. „Als Kind der Hauptverdiener zu sein, ist eine große Anforderung, man findet ja keine einträgliche Arbeit“, sagt Morie. „Ich bekomme gerade mal 1000 Rial (ca. 3,60 Euro) pro Tag, und das reicht nicht, um sechs Familienmitglieder mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen.“

Der 13-Jährige, der als Verkäufer von Kinderspielzeug auf den Straßen von Hudaida  arbeitet, selbst jedoch keine Spielsachen besitzt, hat mit der Schule aufgehört, um seine Familie zu unterstützen. „Ich bin der einzige Sohn, und wenn ich nicht arbeiten gehe, wer wird meiner Familie dann helfen? Die Arbeit hat Vorrang.“

Maysour Aswad, einer der Fischer von Al-Mihwat, bestätigt, dass Kinder zu Dutzenden auf dem Fischmarkt arbeiten. „Nachdem in den letzten Jahren einige unserer Kollegen ums Leben gekommen sind, helfen wir nun den Kindern, die zu Hauptverdienern geworden sind, ihre Familien mit Essen zu versorgen“, berichtet er. „Jeden Tag kommen neue Kinder auf den Markt und fragen nach Arbeit, aber nur wenige haben Glück, während viele sich aufs Betteln in den Straßen verlegen.“

Ohne Schulbildung haben ­Kinder es später sehr schwer

Die Psychologin Sayun Fadhel in Taiz fürchtet, die Tatsache, dass viele Kinder zur Erwerbsarbeit gezwungen sind, werde sich nachteilig auf deren Zukunft auswirken. „Kinder, die an einem Ort zusammen mit Erwachsenen arbeiten, werden ihrer Kindheit beraubt und laufen Gefahr, ein psychisches Trauma zu erleiden“, sagt sie.

In einer kürzlich veröffentlichten Stellungnahme von UNICEF hieß es: „Der jemenitische Bildungssektor befindet sich in einem beängstigenden Zustand. Von sieben Millionen Kindern im schulpflichtigen Alter haben zwei Millionen die Schule bereits abgebrochen.“

Sayun Fadhel ist sich sicher, dass die Generation dieser Kinder unter den Folgen der fehlenden Schulbildung und der Erwerbsarbeit in jungen Jahren zu leiden haben wird: „Ich hoffe, dass internationale Hilfsorganisationen den jemenitischen Kindern helfen und sie dabei unterstützen werden, ihre Schulausbildung abzuschließen.“

Die verwitwete Salwa hofft indes, dass ihre Familie eine Quelle regelmäßigen Einkommens findet, damit ihre Kinder wieder zur Schule gehen können. „Ich wünsche mir nichts sehnlicher als eine gute Zukunft für meine Kinder, und die wird es ohne eine gute Schulbildung nicht geben.“

Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller

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erschienen in Ausgabe 6 / 2019: Arznei und Geschäft
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