Arbeiter beim Bau eines Hauses in Kigali vor der Kulisse der ruandischen Hauptstadt (Archivbild)
Genf, Berlin (epd). Am Abend des 6. April 1994 erschütterte ein lauter Knall vom Flughafen her Ruandas Hauptstadt Kigali. Wer damals dabei war, erinnert sich an eine fast unwirkliche Ruhe in den Minuten nach dem Abschuss des Flugzeuges, in dem der ruandische Präsident Juvénal Habyarimana saß. Unmittelbar danach begann das Morden. "Überall war Tod, Tod, Tod", sagt Esther Mujawayo. "Wie alle Überlebenden denke ich heute: Es ist ein Wunder, dass ich noch da bin."
Mujawayo ist Tutsi, das allein machte sie für die Hutu-Extremisten zum Opfer. "Jeden Tag haben sie "gearbeitet", wie sie das Töten zynisch genannt haben. Und sie haben sichergestellt, dass fast jeder erwachsene Hutu zum Täter wurde." Nach nur 100 Tagen waren Hunderttausende Tutsi ermordet. Auch Hutu starben, die ihre Nachbarn, Freunde oder Verwandten vor den mit Hacken, Macheten und Gewehren bewaffneten Todesschwadronen schützen wollten. Die Zahl der Opfer wird auf bis zu eine Million geschätzt. Von vielen ist bis heute unbekannt, wo sie begraben oder verscharrt liegen.
"Der Völkermord kam nicht plötzlich"
Mujawayo verlor ihren Mann, ihre Eltern, ihre Schwester. Ihr selbst gelang mit ihren drei Töchtern die Flucht in den letzten von UN-Blauhelmen bewachten Ort, das Hotel des Mille Collines, wo sie und die anderen Flüchtlinge Trinkwasser aus dem Pool schöpften. "Der Völkermord kam nicht plötzlich", sagt sie. Monatelang hatten die Drahtzieher Waffen verteilt, Kämpfer trainiert, Todeslisten geschrieben. Und es gab eine Vorgeschichte, die weiter zurückreicht.
1959, Mujawayo war ein Jahr alt, da floh sie zum ersten Mal auf dem Rücken ihrer Mutter. Es geschah während des ersten Pogroms der Hutu gegen die Minderheit der Tutsi. "Unser Haus wurde niedergebrannt, alles war geplündert, unsere Kühe gestohlen, wir hatten nichts mehr - doch kein Täter wurde bestraft, der Staat hat geschwiegen." Nach der Unabhängigkeit von Belgien 1962 folgen weitere Pogrome. 1973 flog Mujawayo aus der elften Klasse, weil die Regierung allen Tutsi den Schulbesuch verweigerte.
Akten bis heute unter Verschluss
Auch 1994 war die Lage wieder angespannt, der mit den Rebellen von Paul Kagame geschlossene Friedensvertrag war umstritten, gerade unter extremistischen Hutu-Politikern. Auch deshalb gilt als wahrscheinlich, dass sie Habyarimana abschießen ließen, um den Frieden zu verhindern und einen Vorwand für den Massenmord zu haben. Abschließend geklärt sind die Umstände bis heute nicht. In einem aber ist sich Philipp Rotmann, stellvertretender Direktor beim Global Public Policy Institute, sicher: Der Völkermord war absehbar: "Man wusste viel mehr als man sich das heute wahrscheinlich denkt."
Rotmann zufolge gilt das auch und gerade für die deutsche Politik. Deutschland war demnach im Jahr vor dem Völkermord nicht nur der größte Entwicklungshilfegeber des ostafrikanischen Landes. "Deutschland hatte auch eine von nur einer Handvoll militärischer Beratergruppen in Ruanda, es war also nicht so, dass Ruanda ein vollkommen unbekanntes Land gewesen wäre." Während die Bundeswehr die ruandische Armee beriet, die später am Völkermord beteiligt war, mehrten sich Warnungen über die Vorbereitungen des Genozids. Rotmann: "Einige dieser Informationen sind vor Ort und auf dem Berichtsweg unterdrückt worden, auch das ein Thema, das bei weitem noch nicht im Detail aufgearbeitet worden ist."
Denn das Auswärtige Amt hält die entsprechenden Akten bis heute unter Verschluss. Einem unter Federführung der Grünen-Abgeordneten Margarete Bause entstandenen Fraktionsantrag, die deutsche Rolle im Genozid wissenschaftlich aufzuklären, schloss sich im Bundestag nur die Fraktion der Linken an. In einer Anhörung Anfang April räumte die für die Region zuständige Referatsleiterin Sonja Kreibich im Ministerium zwar die Möglichkeit der Akteneinsicht ein, schränkte aber ein, das hänge nicht zuletzt davon ab, wer darum bitte.
Politischer Wille fehlt
Die Freigabe der Dokumente ist nach Ansicht von Experten aufwendig, könnte aber Lehren für die Verhinderung künftiger Völkermordverbrechen liefern. "Wir brauchen eine effektivere Krisenfrüherkennung, die ganz speziell auf Massenverbrechen ausgerichtet ist", fordert Jens Stappenbeck, Geschäftsführer der Organisation Genocide Alert. "Gerade weil Völkermorde systematisch vorbereitet werden müssen, lassen sie sich generell auch systematisch verhindern." Bisher allerdings fehlen dafür oft der politische Wille und die nötigen Ressourcen, in Deutschland und weltweit.
Die Überlebende Esther Mujawayo lebt heute in Nordrhein-Westfalen, wo sie als Traumatherapeutin Opfer von Völkermorden betreut, etwa Jesidinnen aus dem Irak. "Ich habe versucht zu akzeptieren, dass das bei uns passiert ist, aber gedacht, es ist eine Lektion für andere. Aber dann siehst Du, dass es wieder und wieder passiert - das ist eine große Frustration." Zumindest für Ruanda ist sie optimistisch, kann sich vorstellen, wieder dort zu leben. "Vielleicht hat die internationale Gemeinschaft nicht aus unserer Geschichte gelernt, aber wir Ruander, wir haben gelernt."
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