Viele Kolumbianer haben in der Wahlnacht des 17. Juni die Hoffnung verloren, dass der vor bald zwei Jahren begonnene Friedensprozess nach über fünfzig Jahren Bürgerkrieg zu einem guten Ende finden könnte. Denn der Sieger der Stichwahl ums Präsidentenamt, der politisch kaum erfahrene 42-jährige Iván Duque vom rechtskonservativen Centro Democrático, gilt als Marionette des ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe, der von 2002 bis 2010 regierte.
Uribes Nachfolger im Präsidentenamt von 2010 bis 2018, Juan Manuel Santos, hatte bis Mitte 2016 das 310 Seiten starke Friedensabkommen mit der Guerilla der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (Farc) ausgehandelt und erhielt dafür den Friedensnobelpreis. Doch Uribe startete eine schmutzige und von Falschmeldungen geprägte Kampagne, so dass der Vertrag in der vorgesehenen Volksabstimmung im Oktober 2016 abgelehnt wurde. Santos einigte sich daraufhin mit der Farc auf einige Änderungen am Abkommen und brachte es ohne neue Volksabstimmung durch den Kongress, das aus zwei Kammern bestehende Parlament. Duque, der von Uribe bestimmte Präsidentschaftskandidat, hat im Wahlkampf angekündigt, er werde diesen Vertrag in der Luft zerreißen.
Trotz des Friedensvertrags ist der Krieg nach mehr als 200.000 Toten und sechs Millionen Vertriebenen noch nicht zu Ende. Zwar hat die Farc – sie war einst die stärkste Guerilla Kolumbiens und hatte zuletzt 7000 Kämpfer und noch einmal so viele Milizionäre – inzwischen ihre Waffen abgegeben. Ihre militärischen Strukturen sind aufgelöst, sie ist zur politischen Partei geworden.
In den Gegenden aber, die vorher zum Teil Jahrzehnte von der Farc kontrolliert wurden und in denen die wichtigsten Koka-Anbaugebiete liegen, kämpfen nun verschiedene bewaffnete Gruppen um die Vorherrschaft: die linke Guerilla des Nationalen Befreiungsheers (ELN), rechte paramilitärische Verbände, bewaffnete Gruppen von Drogenkartellen und abtrünnige Farc-Kämpfer, denen der Friedensvertrag nicht weit genug geht. Und natürlich lockt alle das Geld, das mit Kokain verdient werden kann. Die Stärke des ELN wird auf bis zu 2000 Kämpfer geschätzt, die der Farc-Dissidenten auf zwischen 1200 und 3000. Auf der anderen Seite dürften rechte und rein kriminelle Verbände zusammengenommen mindestens genauso viele sein.
Unter diesem Kleinkrieg leidet die Zivilgesellschaft besonders. Durchschnittlich jeden dritten Tag wird in Kolumbien ein Menschenrechtler oder ein Vertreter von Basisorganisationen ermordet; seit dem Januar 2016 waren es weit über dreihundert. Auch in den Städten rumort es. Grund dafür ist die wirtschaftliche und politische Krise im östlichen Nachbarland Venezuela. Fast eine Million Menschen sind von dort über die Grenze gekommen. Sie finden keinerlei staatliche Infrastruktur vor, die sie auffangen könnte. Zehntausende schlafen auf öffentlichen Plätzen und suchen sich am Tag Gelegenheitsarbeit, die in der Regel weit unter dem gesetzlichen Mindestlohn bezahlt wird. In den Städten entlang der Grenze blüht der Schmuggel.
Dass in solch unsicheren Zeiten mit Iván Duque der politische Ziehsohn eines rechten Haudegens Präsident wird, dämpft die Hoffnung auf Frieden. Zwar zeigt sich Duque seit seinem Amtsantritt am 7. August gemäßigter als im Wahlkampf und will den Vertrag mit der Farc nicht mehr annullieren, sondern nur noch modifizieren. Doch abgesehen davon, dass dies rechtlich nicht einfach sein wird, ist schon der Versuch politisch riskant. Er wird nicht nur den Widerstand der Farc hervorrufen, sondern könnte auch noch mehr ehemalige Kämpfer frustrieren und in die Arme der bewaffneten Dissidenten treiben.
Ein Friedensabkommen mit dem ELN wiederum, über das seit zwei Jahren zäh verhandelt wird, scheint mit Duque als Präsident unmöglich zu sein. Anders als die zentralistisch organisierte Farc besteht diese Guerillaorganisation aus eher autonom operierenden regionalen Einheiten, die sich zum Teil an der kubanischen Revolution, zum Teil an der militanten Befreiungstheologie der 1960er und 1970er Jahre orientieren. Gemeinsam ist ihnen die Ablehnung neoliberaler Politik und eines Wirtschaftsmodells, das sich auf die Ausbeutung von Bodenschätzen stützt. Die kolumbianische Elite sehen sie als Marionette eines US-Imperialismus, ihr Vertrauen in die Regierung ist deshalb gleich null.
In ihrem Operationsgebiet sucht das ELN eine enge Abstimmung mit Basisorganisationen und versteht sich als deren bewaffneter Arm. Die Grenzen zwischen Zivilgesellschaft und Informanten der Guerilla, deren Milizionären und den Vollzeitkämpfern sind oft fließend. Die ELN-Einheiten an der Pazifikküste und im Grenzgebiet zu Venezuela lehnen Verhandlungen ab und haben die Gespräche mit der Regierung Santos immer wieder mit Überfällen und Entführungen sabotiert.
Autor
Toni Keppeler
ist freier Journalist und berichtet für mehrere deutschsprachige Zeitungen und Magazine aus Lateinamerika.Ähnlich wahrscheinlich ist, dass Duque damit scheitert, den Friedensvertrag mit der Farc zu ändern. Die meisten Vereinbarungen sind längst in Gesetze gegossen, die nach Klagen dagegen von den zuständigen Gerichten bestätigt worden sind. Nur der Kongress kann die wesentlichen Regelungen mit neuen Gesetzen wieder rückgängig machen. Duques Partei Demokratisches Zentrum aber ist sowohl im Repräsentantenhaus als auch im Senat weit von einer Mehrheit entfernt.
Den neuen Präsidenten stören vor allem zwei Bestimmungen des Vertrags: die garantierten Sitze der Farc im Repräsentantenhaus und im Senat und die Sondergerichte für Kriegsverbrechen und die für Geständige vorgesehenen reduzierten Strafen. Duque will ehemals hochrangige Guerilleros nicht im Kongress sitzen sehen, sondern für viele Jahre im Gefängnis: „Wir können Farc-Kommandanten nicht erlauben, Politik zu machen. Das wäre eine Katastrophe“, sagte Duque im Wahlkampf vor Journalisten.
Im Friedensvertrag aber ist festgeschrieben, dass die Farc unabhängig von ihrem Wahlergebnis in den zwei Legislaturperioden nach Vertragsabschluss in beiden Kammern jeweils mindestens fünf Sitze bekommt. Außerdem dürfen nur die Sondergerichte zur Aufarbeitung der Kriegsverbrechen hochrangige Vertreter der ehemaligen Guerilla verurteilen. Die Parlamentssitze verurteilter ehemaliger Farc-Kämpfer fielen dann allerdings nicht unter den Tisch, sondern würden von anderen Ex-Guerilleros eingenommen.
Insgesamt sollen mögliche Kriegsverbrechen von über 6000 ehemaligen Farc-Kämpfern, 1800 Militärs, 44 Regierungsbeamten und sechs Zivilisten untersucht werden; derzeit finden die ersten Anhörungen statt. Die Strafen dafür dürfen acht Jahre nicht überschreiten, Gefängnishaft soll durch eine Art Hausarrest mit damit verbundenem Sozialdienst ersetzt werden. Voraussetzung für diese reduzierten Strafen ist, dass die Verurteilten geständig sind, dem Gericht alle ihnen bekannten Informationen zur Verfügung stellen und bereit sind, ihre Opfer oder deren Angehörige zu entschädigen.
Duque hat zwar gesagt, dass „wir mit der Basis der Guerilla großzügig sein müssen“. Für die Kommandanten aber verlangt er richtige Haftstrafen. Er will, dass im Krieg begangene Drogendelikte von der Sondergerichtsbarkeit ausgenommen und von der normalen kolumbianischen Justiz behandelt werden. Die Farc hat selbst zugegeben, dass sie die Pflanzungen von Kokabauern geschützt und sich unter anderem mit sogenannten Kriegssteuern finanziert hat, die sie Drogenhändlern abgepresst hat. Die Regierung und die US-Drogenbehörde DEA werfen der ehemaligen Guerilla vor, sie sei direkt am Kokainhandel beteiligt gewesen. Den Militärs will Präsident Duque diese Sondergerichte ersparen. Ihre Kriegsverbrechen sollen nach seinem Willen von eigens für sie geschaffenen Tribunalen aufgeklärt werden.
Man kann solche Ankündigungen als markige Wahlkampfversprechen ohne Folgen betrachten. Duque, ein studierter Jurist, weiß selbst, dass für die Farc alles beim Alten bleiben wird. Im kolumbianischen Recht ist nämlich festgeschrieben, dass selbst im Fall einer Gesetzesänderung immer die für den Angeklagten günstigste Regelung angewandt werden muss, ganz unabhängig davon, ob sie noch in Kraft ist oder nicht. Eventuelle Gesetzesverschärfungen liefen also, was die Farc betrifft, ins Leere. Militärs hingegen würden im Fall, dass sie eigene Gerichte bekommen, von eventuellen Erleichterungen profitieren.
Aber auch ohne Änderung der rechtlichen Bedingungen kann die neue Regierung Schaden anrichten. So ist das im Friedensvertrag vereinbarte Programm für die ländliche Entwicklung bislang kaum angelaufen und dürfte auch von Duque nicht gefördert werden. Der vorgesehene freiwillige Wechsel vom Koka-Anbau hin zu legalen Produkten ist bislang kein Erfolg. Bis Ende März diesen Jahres haben gerade einmal 62.000 Bauern – sie bewirtschaften rund 15 Prozent der mit Kokasträuchern bestandenen Flächen – die dafür versprochenen Übergangszahlungen beantragt. Die Anbaufläche ist derweil weiter gewachsen: nach Zahlen des UN-Büros für Drogen- und Verbrechensbekämpfung allein im Jahr 2017 von 146.000 auf 180.000 Hektar. Die Drogenbehörde der USA geht gar von über 200.000 Hektar aus. Die Kokainproduktion sei im vergangenen Jahr um 19 Prozent auf 921 Tonnen gestiegen.
Duque will diesen Trend umkehren, indem die Bauern gezwungen werden, den Anbau umzustellen. Die Anbauflächen der Bauern, die nicht von den Kokapflanzungen lassen wollen, sollen aus Flugzeugen heraus mit dem Herbizid Glyphosat besprüht werden. 2015 waren diese Umwelt und Menschen gefährdenden Flüge verboten worden; sie hatten immer wieder zu gewaltsamen Konflikten geführt. Auch jetzt ist mit Widerstand zu rechnen: In den wichtigsten Koka-Anbaugebieten längs der pazifischen Küste, im Grenzgebiet zu Ecuador und in den Dschungelgegenden im Südosten des Landes hat bei der Präsidentschaftswahl nicht Duque die meisten Stimmen bekommen, sondern sein Widersacher Gustavo Petro. Dieser ehemals linke Guerillero ist ein Verfechter des Friedensvertrags mit der Farc und der freiwilligen Umstellung von Koka auf legale Pflanzen.
Auch über die Eingliederung der ehemaligen Farc-Kämpfer ins zivile Leben gibt es Streit. Duque will, dass sie sich zerstreuen, und will deshalb nur individuelle Lösungen finanziell fördern. Die Farc dagegen bevorzugt kollektive Projekte, um ihre Leute zusammenzuhalten. Dafür hat sie über hundert Handwerks- und Landwirtschaftsbetriebe gegründet. Staatliche Unterstützung dafür gab es nicht.
Es ist nicht klar, welche dieser Pläne Duques eigene sind und welche ihm sein politischer Ziehvater Uribe eingeflüstert hat. Die ersten Wochen seiner Amtszeit jedenfalls waren ruhiger, als man hätte erwarten können. Dies mag daran liegen, dass Uribe derzeit mit ganz anderen Problemen beschäftigt ist: Der Oberste Gerichtshof des Landes ermittelt gegen ihn wegen Bestechung und Behinderung der Justiz. Uribe soll in einem Verfahren, in dem es um die Aufklärung seiner angeblichen Verbindungen zu rechten Todesschwadronen ging, Zeugen bestochen haben; andere Zeugen wurden während des Verfahrens ermordet. Zudem hat das US-Außenministerium im Mai lange geheim gehaltene Dokumente öffentlich zugänglich gemacht, nach denen Uribe in den Jahren 1992 bis 1995 direkte Kontakte zu Drogenkartellen unterhielt.
Der Mann, der Duque zum Präsidentschaftskandidaten gemacht hat und als der eigentlich Mächtige hinter ihm gilt, wird sich deshalb in absehbarer Zeit kaum ins politische Tagesgeschäft einmischen können. Für den neuen Präsidenten eröffnet sich so ein Freiraum, in dem er ein eigenes Profil gewinnen kann. Wie dieses aussehen wird, ist noch nicht heraus.
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