Partys mit minderjährigen Prostituierten, Sex gegen Lebensmittel: Vor gut einem Jahr war der Aufschrei riesig, die Öffentlichkeit schockiert und empört. Eine britische Zeitung berichtete Anfang Februar 2018 als Erste, dass Mitarbeiter der Hilfsorganisation Oxfam in Haiti und im Tschad arme Frauen sexuell missbraucht und damit ihre Machtposition in besonders widerwärtiger Weise ausgenutzt hatten. Schnell zog der Missbrauchsskandal weitere Kreise: In kurzer Folge räumten andere Hilfsorganisationen (NGOs) wie Ärzte ohne Grenzen, Save the Children, World Vision und das International Rescue Committee Fälle sexueller Belästigung und Ausbeutung ein. Unter den Opfern waren sowohl Hilfeempfängerinnen als auch eigene Kolleginnen. Neu war das alles nicht: Seit Jahrzehnten wird immer wieder berichtet, dass Friedenstruppen der Vereinten Nationen (UN) oder Beschäftigte privater NGOs solche Übergriffe begangen haben.
Die Vereinten Nationen und zahlreiche Hilfsorganisationen haben längst klare Regeln und ethische Richtlinien, die sexuellen Missbrauch ächten und verhindern sollen. Mitarbeitern, die sich ein solches Verhalten zu Schulden kommen lassen, werde sofort gekündigt, heißt es etwa darin. Doch tatsächlich wurden bis Februar 2018 solche Taten nur selten angezeigt – und wenn sie ans Licht kamen, hatten sie häufig keine oder zumindest keine strafrechtlichen Folgen für die Täter. Im Zuge der #MeToo- und der anschließenden #AidToo-Kampagne, in denen Frauen in sozialen Medien über ihre Missbrauchserfahrungen berichteten, änderte sich das: Der öffentliche Druck hat die Hilfsorganisationen und die Politik gezwungen zu handeln.
Ein Pass für humanitäre Helfer?
Und tatsächlich hat das vergangene Jahr dem Kampf gegen sexuellen Missbrauch in der humanitären Hilfe entscheidende Impulse verliehen. Auf Initiative des britischen Entwicklungsministeriums (DfID) beschworen im Oktober bei einem Gipfel in London 500 Vertreterinnen und Vertreter von Gebern, Entwicklungsbanken, Denkfabriken und NGOs noch einmal ihre Absicht, sexuellen Übergriffen besser als bislang vorzubeugen, Hinweisgeber zu schützen, die Opfer zu unterstützen, die Täter zu bestrafen – und aus ihren Erfahrungen zu lernen. Projekte und Kontrollmechanismen wurden verabredet. In Zusammenarbeit mit der internationalen Polizeibehörde Interpol will das DfID den NGOs die Überprüfung von Bewerbern durch eine zentrale Datenbank erleichtern. In Großbritannien wird über die Einführung eines „Passes“ für humanitäre Helfer nachgedacht, der unter anderem Informationen über die bisherige Beschäftigung enthält.
Bei dem Treffen in London verpflichteten sich zudem die größten Geber humanitärer Hilfe, darunter Deutschland, auf globale Standards zur Verhinderung sexueller Übergriffe. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) soll prüfen, inwieweit die Versprechen eingehalten werden. Bond, das Netzwerk von 450 britischen NGOs, hat sich auf 34 Maßnahmen verständigt, um dem Missbrauch von Hilfeempfängerinnen und Kolleginnen vorzubeugen – darunter eine engere Zusammenarbeit bei der Rekrutierung von Mitarbeitern und standardisierte Berichts- und Beschwerdemechanismen. Dieser „Charta“ haben sich NGO-Verbände in anderen Ländern angeschlossen, auch der deutsche Verband Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe (Venro).
Die Organisationskultur muss sich ändern
Doch natürlich kommt es jetzt darauf an, die Absichtserklärungen und Selbstverpflichtungen in die Tat umzusetzen. Entscheidend wird dabei sein, das Problem nicht nur in den Hauptquartieren der NGOs in New York, London oder Berlin abzuhandeln. Partner, Hilfeempfänger aus dem globalen Süden und Opfer von Übergriffen müssen ihre Erfahrungen einbringen und sagen dürfen, was aus ihrer Sicht wichtig ist. Denn bei sexuellem Missbrauch geht es um Machtfragen, die mit Hilfe von Ombudsleuten oder eines Strafregisters nicht zu lösen sind.
Der erste Schritt müsste sein, mehr Frauen sowie Vertreterinnen und Vertreter aus dem Süden in Entscheidungsgremien der NGOs im Norden zu bringen, um die Organisationskultur so zu verändern, dass sexistische Übergriffe nicht länger begünstigt oder stillschweigend geduldet werden. Verlässliche und transparente Kommunikationskanäle zwischen Helfern und Hilfeempfängern müssen sicherstellen, dass diejenigen, deren Schicksal die humanitäre Hilfe erleichtern will, mit ihren Anliegen und Beschwerden wirklich gehört werden. Das kostet Zeit und Geld, ist aber unerlässlich, wenn die NGOs verlorenes Vertrauen zurückgewinnen wollen. Im vergangenen Jahr sind die Voraussetzungen dafür geschaffen worden – 2019 ist ein gutes Jahr zu handeln.
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