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Danilo Ramos

Wer sich gut führt, darf mit dem Ehepartner zusammen im „Liebesraum“ schlafen. Den Raum haben die Insassen gestaltet.

Brasilien
Keine Wachen, keine Waffen, keine Gewalt: In zwei Gefängnissen im Südosten von Brasilien ist alles anders als in den üblichen berüchtigten Haftanstalten des Landes. Die Häftlinge nutzen das als Chance für einen Neuanfang.

"Ab hier kann ich nicht weiter“, sagt Bruno Adriano Barcelar. Der 36-Jährige deutet auf den niedrigen Zaun, der die Strafanstalt umgibt, in der er seine 17 Jahre Haft absitzt. Das Hindernis wäre ohne weiteres zu überwinden, zumal die Gefangenen sich frei bewegen können und es weder Wachpersonal noch Kameras gibt. „Ich habe mittlerweile begriffen, dass ich meine Freiheit eingebüßt habe, weil ich irgendwann eine Grenze überschritten habe. Das wird mir nie wieder passieren“, fasst er seine Erfahrungen im Gefängnis zusammen, in dem er wegen versuchten Mordes sitzt.

Barcelar ist einer von 177 Insassen in einer Einrichtung der Associação de Proteção e Assistência aos Condenados (Vereinigung zum Schutz und zur Unterstützung von Strafgefangenen), kurz APAC, in Itaúna, einer Stadt im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais im Südosten des Landes. Dort betreiben die Häftlinge ihr Gefängnis in Eigenregie, ein Verfahren, das die Vereinten Nationen als einen der effizientesten Wege der Resozialisierung bewertet haben: Sie putzen, kochen, organisieren die Apotheke und erledigen die Sicherheits- und Schließaufgaben – sogar am Tor, das direkt auf die Straße hinausführt.

Dieses Gefängnis, das ohne Schusswaffen und staatliches Wachpersonal auskommt, macht weder mit Aufständen noch mit Todesfällen von sich reden. Auch die organisierte Kriminalität, ansonsten allgegenwärtig im problembelasteten Gefängnissystem Brasiliens, hat hier nichts zu melden. Das will etwas heißen in diesem Land mit der drittgrößten Gefängnispopulation der Welt, dessen Häftlinge vielfach unter Misshandlung und Folter leiden, wie internationale Menschenrechtsorganisationen immer wieder beklagen. Allein im Jahr 2016 kamen in brasilianischen Gefängnissen 379 Menschen gewaltsam ums Leben, wie aus einer Dokumentation der brasilianischen Presse hervorgeht.

„Freiheitsentzug sollte eigentlich nur heißen, dass man nicht kommen und gehen kann, wie man will. Aber das traditionelle Gefängnissystem raubt den Menschen auch alle anderen Rechte, einschließlich ihrer Würde“, sagt Barcelar, der vorher in einem „normalen“ Knast war. Das Essen sei oft ungenießbar, das mache die Leute aggressiv. „Ich habe in einer Zelle, die für zehn Personen vorgesehen war, mit dreißig Insassen auf dem Boden geschlafen. Beim Gehen musste ich die Hände hinter dem Rücken verschränken und den Kopf gesenkt halten. Hier darf ich erhobenen Hauptes umhergehen. Das hat mir einen völlig neuen Horizont eröffnet.“

Die APAC-Methode wurde 1972 von Mário Ottoboni entwickelt, einem Rechtsanwalt aus São Paulo. Er gründete eine gemeinnützige Gesellschaft, die in derzeit 143 Haftanstalten in Brasilien die APAC-Prinzipien zumindest teilweise umsetzt. Voll etabliert ist sie in 49 Anstalten mit einer Gesamtkapazität von 5000 Insassen, die dort recuperandos genannt werden, was so viel wie „Wiedereinzugliedernde“ heißt. Dieses brasilianische Modell, das auf der christlichen Lehre fußt, wurde bereits in zwölf Länder exportiert, darunter Chile, Kolumbien, Südkorea, die Niederlande, Italien und Portugal.

Von den bestehenden Einrichtungen befinden sich 38 im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais, der das APAC-Programm offiziell in sein Vollzugssystem übernommen hat und die Einrichtungen auch finanziert. Seit 2004 bemüht sich die Trägergesellschaft aller APAC-Einrichtungen, die Fraternidade Brasileira de Assistência aos Condenados (Brasilianische Vereinigung zur Unterstützung von Gefangenen), kurz FBAC, bei der brasilianischen Bundesregierung darum, das Modell für das gesamte Land zu übernehmen, bisher jedoch ohne Erfolg.

Einfache Dinge, die im üblichen brasilianischen Strafvollzug unvorstellbar sind,  sind in den APAC-Einrichtungen selbstverständlich: etwa dass die Häftlinge mit Namen angesprochen werden und nicht bloß eine Nummer sind, warme Duschen, ein eigenes Bett oder die Erlaubnis, mit Messer und Gabel zu essen. „In anderen Gefängnissen sind sie häufig mit Blendgranaten und Tränengas auf uns losgegangen. Wir wurden wie Tiere im Käfig gehalten, wir hatten ständig Angst. Hier habe ich das Gefühl, mich darauf vorzubereiten, als besserer Mensch in die Gesellschaft zurückzukehren“, sagt lächelnd recuperando Maicon Wayson Viana, 25. Er hat bereits vier Jahre seiner Haft wegen Mordes im konventionellen Strafvollzug abgesessen und ist nun in der APAC-Einrichtung von Itaúna, die Ende der 1980er Jahre als die erste ihrer Art eröffnet wurde.

Die meisten Einrichtungen bestehen aus drei Abteilungen: einer geschlossenen, in der die recuperandos innerhalb eines bestimmten Bereichs bleiben müssen; einer halboffenen, in der jene, die schon eine gewisse Zeit verbüßt haben, in Werkstätten auf dem Gelände des Gefängnisses arbeiten; und einer offenen, dem letzten Stadium des Vollzugs, wo es den recuperandos erlaubt ist, tagsüber außerhalb zu arbeiten. Nur über Nacht müssen sie in die Anstalt zurückkehren. Das brasilianische Strafrecht schreibt vor, dass diese drei Gruppen keinen Kontakt untereinander haben dürfen, um den Austausch von Informationen zu unterbinden, die die Bandenbildung begünstigen könnten.

Die Zahlen sprechen für sich: Im konventionellen Strafvollzug beträgt die Rückfallquote laut Cármen Lúcia, der Präsidentin des brasilianischen Bundesgerichtshofs, 75 Prozent, in den APAC-Einrichtungen nur zwischen 7 und 23 Prozent. Ein Häftling im APAC-System kostet den Staat nach Angaben der brasilianischen Strafvollzugsbehörde pro Monat 1100 Real (etwa 250 Euro), deutlich weniger als ein Insasse des konventionellen Strafvollzugs, der mit 2400 bis 3400 Real (etwa 550 bis 780 Euro) zu Buche schlägt. Der Grund: In den APAC-Gefängnissen müssen keine Wachen, Köche, Wäscherinnen und anderes Personal bezahlt werden, da die Gefangenen alles selbst machen.

In den APAC-Einrichtungen sitzen im Schnitt 200 Personen ein. Insgesamt befinden sich nach Angaben der Strafvollzugsbehörde in Brasiliens völlig überfüllten konventionellen Haftanstalten, die für rund 368.000 Personen ausgelegt sind, mehr als 726.000 Gefangene. „Im normalen System, das praktisch eine Schule für Verbrecher ist, wäre ich garantiert rückfällig geworden. Ich hätte nie so viel erreicht wie heute, ich hätte weder etwas gelernt noch mich persönlich weiterentwickelt“, sagt Renato da Silvia Junior, 28 Jahre, der wegen Mordes im geschlossenen System einsitzt. Er verbüßt hier eine Haftstrafe von sieben Jahren, auf die zwei Jahre offener Vollzug und fünf Jahre Bewährung folgen sollen.

Der junge Mann befindet sich seit 2017 im APAC-System und hat seitdem seinen Schulabschluss gemacht, Englisch und Spanisch gelernt und beendet gerade einen Kurs über Sicherheit am Arbeitsplatz. Für dieses Jahr hat er sich vorgenommen, den Test für die Hochschulzulassung zu bestehen, um dann an der Fernuniversität Psychologie zu studieren. „Hier habe ich zu träumen gelernt. Ich schreibe ein Buch über meine Lebensgeschichte, und wenn ich entlassen werde, will ich eine Werkstatt eröffnen, um Kindern den Umgang mit Glas zu vermitteln, den ich hier gelernt habe“, sagt er. Im normalen Strafvollzug ist dieses Material verboten, ebenso natürlich die benötigten Werkzeuge.
Alle APAC-Einrichtungen folgen gewissen Prinzipien. Der strikt geregelte Tagesablauf beginnt um sechsUhr in der Frühe und endet um zehn Uhr abends. Er ist lückenlos ausgefüllt mit Unterricht, Arbeit, Gottesdienst und Gruppentherapie. Alle recuperandos in der geschlossenen Abteilung sind mit Handarbeiten beschäftigt, was gut für die Konzentration und das Nachdenken ist.

Blumen, Gemüsegärten und Haustiere

Im halboffenen Vollzug beschäftigen sich die recuperandos mit Gemüseanbau, Nutztierhaltung, Pflanzenzucht, Tischlerarbeiten, Ziegelherstellung, Schlosserarbeiten, Backen, Kochen und der Produktion von Autoteilen. In der offenen Abteilung ist die Hauptarbeit schließlich Straßenreinigung. „Sie haben ihre Hände benutzt, um Verbrechen zu begehen, nun tun sie gute Dinge mit ihnen“, sagt Denio Marx von der APAC-Trägergesellschaft. „Im Grunde wenden wir nur konsequent das brasilianische Strafrecht an, demzufolge allen Häftlingen Bedingungen geboten werden müssen, die ihnen auf dem Weg der Resozialisierung helfen.“

Autorin

Sarah Fernandes

ist Journalistin und Geografin in Brasilien. Sie berichtet über Menschenrechte und entwicklungspolitische Themen in Lateinamerika und Asien.
Die APAC-Einrichtungen sind so angelegt, dass sie Ruhe ausstrahlen und das Nachdenken fördern. Es gibt Blumen und Gemüsegärten, Haustiere und Gemeinschaftsräume, die der Begegnung dienen. Alles ist tipptopp in Schuss, wofür die recuperandos selbst sorgen. Jede Woche gibt es Gruppensitzungen, in denen über Werte und Pflichten gesprochen wird.

„Dort habe ich Gelegenheit, die Menschen, denen ich Unrecht getan habe, um Verzeihung zu bitten und mir selbst zu verzeihen“, sagt Barcelar, der im nächsten Monat in den offenen Vollzug wechseln wird. „Im Gefängnis geht es dauernd darum, wie man die verlorene Zeit aufholen will, wenn man erst einmal entlassen ist. Ganz anders bei mir. Dank APAC habe ich die Schule abgeschlossen, einen Beruf erlernt und eine Familie gefunden, alles Dinge, die mir draußen auf der Straße nicht möglich waren. Wenn ich rauskomme, werde ich ein besserer Mensch sein“, resümiert Barcelar, der eine Ausbildung zum Elektriker macht.

Sämtliche Aktivitäten in den APAC-Einrichtungen orientieren sich an den zwölf Prinzipien des Programms: Integration in die Gemeinschaft; Wiedereingliederung, indem man anderen bei der Wiedereingliederung hilft; Arbeit; Spiritualität; kostenloser Rechtsbeistand; Gesundheitsversorgung; soziales Lernen; Stärkung der Verbindungen zur eigenen Familie; freiwilliges Engagement; sorgsamer Umgang mit dem Lebensraum; Vertrauensaufbau durch die Übernahme von Verantwortung; und schließlich die „Reise der Befreiung mit Christus“, eine Reihe von Gesprächsrunden, bei denen es darum geht, persönliche Konflikte aufzuarbeiten und zu verstehen, warum man ein Verbrechen begangen hat.

„Die ersten Tage im konventionellen Gefängnis verbringt man normalerweise erst einmal gemeinsam mit anderen Gefangenen in einem Einführungsbereich, der sogenannten Sicherheitszelle, in der es gewöhnlich dunkel und stickig ist. Das hinterlässt viele seelische und körperliche Narben – wie diese hier, die habe ich mir dort in einem Kampf zugezogen“, sagt Silva und deutet auf eine verheilte Schnittwunde in seinem Gesicht. „Eine Sicherheitszelle haben wir hier auch“, fährt er fort. Wenn der recuperando ihre schwere Eisentür öffnet, gelangt er in eine Kapelle, in die er sich in freien Momenten zum Nachdenken zurückziehen kann.

Der Rat für Sicherheit und Solidarität der Häftlinge, der sich um die Einhaltung der Vorschriften und um Konflikte kümmert, empfiehlt den recuperandos, regelmäßig diesen Raum aufzusuchen. Wer sich nicht an die Regeln hält – vom korrekten Bettenmachen bis zum guten Umgangston –, verliert seine Freizeitvergünstigungen. Bei schwerwiegenderen Verstößen wird der Fall einem Richter vorgelegt, der die sofortige Rückverlegung des Insassen in den Regelvollzug verfügen kann. Nichts fürchten die recuperandos mehr. Um ins APAC-Programm aufgenommen zu werden, muss der Gefangene schriftlich versichern, dass er die Regeln akzeptiert.

Die APAC-Einrichtung von São João del-Rei liegt 200 Kilometer von Itaúna entfernt. Sie ist nicht nur besonders groß, sondern auch insofern einzigartig, dass recuperandos, damals noch Insassen eines nahe­gelegenen regulären Gefängnisses, sie selbst errichtet haben. „Selbst die Zementsteine der Mauern haben wir selbst gemacht. Wir sind sehr stolz darauf“, sagt Ronan do Carmo, der hier in der geschlossenen Abteilung einsitzt.

Eine der Besonderheiten der Anstalt ist ihre Tischlerei, die hochwertige Bauernmöbel herstellt. Von den Einnahmen dieser und anderer Produkte erhalten die Gefangenen und ihre Familien 90 Prozent. Der Rest fließt in einen Fonds, aus dem die recuperandos gemeinschaftliche Anschaffungen wie einen neuen Fernsehapparat oder Bücher für die Bibliothek finanzieren.

„Einige der Insassen habe ich bereits als Kinder unterrichtet, wir haben schon viel zusammen durchgemacht“, sagt die Lehrerin und Mathematikern Debora Resende Lara. „Hier habe ich sie wiedergetroffen, und nun erlebe ich, wie sie schöne Dinge wie Möbel und Häkelarbeiten herstellen. Das ist für sie alle eine große Leistung.“ Resende Lara gehört zu dem 54-köpfigen Kollegium einer Schule, die eigens für die vier Gefängnisse von São João del-Rei eingerichtet wurde, zu denen auch die APAC-Anstalt gehört. „Einer meiner Schüler hier hat während der Haft eine Ausbildung zum Sportlehrer abgeschlossen. Heute ist er wieder in Freiheit und einer meiner Kollegen.“

80 Frauen und zwei Babys

Der Frauentrakt, ebenfalls von recuperandos errichtet, befindet sich in unmittelbarer Nähe. Er beherbergt 80 Frauen und zwei Babys, die laut dem brasilianischen Strafgesetz bis zum Alter von zwei Jahren bei der Mutter bleiben dürfen. In Brasilien geraten Frauen meist wegen Drogendelikten ins Gefängnis, häufig auf Anstiftung ihrer Partner. Das wirft ein Schlaglicht auf das viel kritisierte brasilianische Drogengesetz, das vor allem kleine Dealer bestraft und laut Experten einer der Hauptfaktoren für die seit zehn Jahren anhaltende Überfüllung der brasilianischen Gefängnisse ist.

„Wie oft habe ich schon erlebt, dass eine Mitinsassin ein Stück Stoff, Papier oder sogar Brot benutzt hat, wenn sie ihre Tage bekam, weil der Staat keine Hygieneartikel zur Verfügung stellt. Hier kommt so etwas nicht vor. Wir verbüßen unsere Strafe, aber mit Würde“, sagt Poliana Helena, die hier zusammen mit ihrem Mann einsitzt, der für die Torkontrolle zuständig ist. „Unser Sohn kann uns einmal die Woche besuchen und nicht bloß alle zwei Monate, wie das andernorts üblich ist.“

Die Angehörigen der APAC-Insassen werden nicht den umstrittenen und demütigenden Durchsuchungen unterzogen, wie sie im Normalvollzug üblich sind. Dort müssen sich Besucher, selbst Kinder, für die Inspektion ausziehen. Erwachsene Frauen müssen sich zur Überprüfung, ob sie nichts in ihrer Vagina einzuschmuggeln versuchen, ohne Unterwäsche über einen Spiegel kauern. Diese verbotenen und als ineffizient betrachteten Durchsuchungsmethoden sind nach wie vor Alltag in den meisten brasilianischen Gefängnissen, wie Menschenrechtsorganisationen beklagen. In den APAC-Einrichtungen beschränken sich die Personenkon­trollen auf den Einsatz von Metalldetektoren.

„Als ich hier ankam, war ich im achten Monat schwanger, aber ich wusste nicht, wie lange es noch dauern würde, weil ich auf der Straße gelebt und Crack geraucht hatte. Während der Schwangerschaft nahm ich eine Überdosis und versuchte mich umzubringen. Wenn ich nicht hier gelandet wäre, wäre ich nicht mehr am Leben, mein Sohn auch nicht“, sagt Leslaine Estefania de Souza, die Mutter dreier Kinder, die zu drei Jahren Haft verurteilt wurde. „Ich möchte die Gelegenheit nutzen, die mir APAC bietet, meine Sucht zu besiegen und meinen Traum zu verwirklichen: studieren und Lehrerin werden. So viel liegt hinter uns, ich will mir jetzt eine neue Zukunft aufbauen.“

Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.

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erschienen in Ausgabe 11 / 2018: Eingebuchtet
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