Ali Rajab Bebabeba ist an Kenias Küste ein gesuchter Mann. Wenn irgendwo zwischen Lunga Lunga an der Grenze zu Tansania und der Insel Lamu im Nordosten die Ernte ausbleibt, das Geschäft stockt oder jemand aus unerklärlichen Gründen erkrankt oder stirbt, wird der Geisterheiler gerufen. „Irgendjemanden gibt es immer, der seine Handynummer weiß", sagt Hassan, ein Fischer, der in einem der Armenviertel nördlich der Hafenstadt Mombasa lebt. Die Bilanz von Bebabeba kann sich sehen lassen: Mehr als 400 Hexen und Hexenmeister soll der Mann bereits entlarvt haben. „Wenn er sie gefunden hat, überprüft er sie und flößt ihnen seinen selbstgebrauten Trank ein, der bricht ihre Macht." Mehrmals hat Hassan zugesehen, wie Zauberer überführt wurden: Unter einem Baum wurde grauhaarigen Verdächtigen rohe Papaya in den Mund gestopft, bis ihnen der Hals anschwoll. „Wenn einer nichts mehr runterkriegt, weiß Bebabeba, das ist ein Zauberer."
Inzwischen wird Bebabeba aber auch von der Polizei gesucht. Denn seit Jahren nimmt die Zahl derjenigen, die der Hexerei überführt werden, stetig zu. Fast alle Opfer, sagt Abdallah Salim, sind alt. „Sobald einem hier graue Haare wachsen, kann man damit anfangen, seine Tage zu zählen", ergänzt der 60-Jährige aus Kiembeni, einem kleinen Dorf im Norden von Mombasa. „Früher oder später werden alle Alten der Zauberei verdächtigt. „Mzee" wird er von den Dorfbewohnern genannt, der ehrenvolle Swahili-Titel, der den Alten und Weisen vorbehalten ist. Doch alt und weise zu sein, ist in Kiembeni lebensgefährlich geworden. „Freunde von mir färben ihre Haare, weil sie so viel Angst haben."
Im Landkreis, zu dem Kiembeni gehört, sind in den vergangenen zwölf Monaten mindestens siebzehn alte Männer und Frauen gelyncht worden. „Sieben waren es alleine in den vergangenen Wochen", bestätigt Landrat Patrick ole Ntutu. Am 26. Januar etwa wurde der 50-jährige Arthur Pendo nicht weit von seinem Haus entfernt gefunden. Er kam gerade von einem Fußballspiel zurück, als die Täter über ihn herfielen. „Wir haben vier nahe Verwandte festgenommen", sagt Polizeichef Peter Kattam. „Angeblich ist ein gemeinsamer Verwandter am Tag zuvor umgekommen, und ein Seher hat den Tätern gesagt, Pendo habe den Toten verhext."
Geschichten wie diese hört Marion Omar immer wieder. Die 26-Jährige arbeitet für Helpage, eine Organisation, die die Lebensumstände der Alten in Kenia verbessern will. Immer häufiger, sagt Omar, muss sie sich auch um das nackte Überleben der Alten kümmern. „Bis vor kurzem noch haben Alte die Traditionen an die nächste Generation weitergegeben, sie haben die großen Entscheidungen gefällt und die Gemeinschaft im Dorf zusammengehalten", erzählt sie. „Wir vertrauen alten Leuten, zum Beispiel in der Politik: Es fällt selbst mir als junger Frau nicht leicht, jemanden zu wählen, der in seinem Leben noch nicht bewiesen hat, wofür er steht." Doch diese Traditionen, die Omar noch aus ihrer Kindheit kennt, sind von der Entwicklung überholt worden. „Heute gibt es keine Dorfgemeinschaft mehr, jeder kämpft für sich selbst", hat sie beobachtet. Wer jung ist und irgendwie kann, zieht in die Stadt. Zurück bleiben nur die Ärmsten. „Und alte Leute sind die am leichtesten verwundbare Gruppe." Vor allem alleinstehende Frauen werden Opfer von Gewalt und Hexereivorwürfen. „Wenn man die Leute in den Dörfern fragt, warum sie jemanden der Hexerei verdächtigen, dann kommen immer dieselben Antworten", sagt Omar. „Die Frau hat rote Augen, sie lebt alleine, ihre Kleider sind zerrissen oder ihr Haus ist dreckig." Das fasst für Omar einen wichtigen Grund des Hexenwahns zusammen: Armut.
In den meisten Ländern Afrikas steigt die Zahl der Alten seit Jahren an. 2,8 Millionen Menschen über 55 leben laut Schätzungen von Helpage heute in Kenia, das sind gut acht Prozent der Bevölkerung. Der Staat sorgt nicht einmal für ein Zehntel der Alten, überwiegend Staatsdiener, die dünne Pensionen erhalten. Der Rest geht leer aus, selbst eine staatliche Krankenversorgung gibt es nicht. Die traditionelle Altersvorsorge hat für die heutige Generation der Alten versagt: Die Investition in die Kinder, die früher ihre Eltern im Alter mitversorgt haben, hat die Aids-Pandemie zunichte gemacht, die eine ganze Generation auslöscht hat. „Am Viktoriasee, wo es besonders viele Aids-Tote gibt, leben die Alten von der Hand in den Mund", erklärt Marion Omar. „Sie haben niemanden, der sich um sie kümmert und müssen zudem im hohen Alter noch für ihre Enkelkinder sorgen, von denen einige selbst HIV-positiv sind."
Die Zahl der Aids-Waisen ist fast so hoch wie die der Alten: Zwei Millionen gibt es, die Hälfte von ihnen lebt bei den Großeltern, die sie und sich vor allem mit Früchten vom eigenen Feld ernähren. In Zeiten von Dürren wie in diesem Jahr sind sie die ersten, die hungern und Hilfe brauchen. „Afrikas Gesellschaft hat sich so stark verändert, dass immer mehr junge Leute die Alten dann als nutzlose Schmarotzer empfinden", so Omar. Die Ankläger kämen häufig aus dem engsten Familienkreis, der sich einen direkten Nutzen von der Verbrennung oder Hinrichtung der „Hexe" verspricht. „Wenn die Frau tot ist, wird der Besitz, aber vor allem das Land, unter der Familie verteilt." In Regionen Kenias, in denen Erbteilung herrscht und das Land immer knapper wird, ist deshalb die Zahl der Hexenverfolgungen besonders hoch.
Die Mörder profitieren davon, dass der Glaube an Hexerei und schwarze Magie bis heute weit verbreitet ist. „Uni-Absolventen, reiche Geschäftsleute, Minister, sie alle glauben an Zauberei", sagt ein Professor von Nairobis Kenyatta-Universität, der seinen Namen nicht gedruckt sehen möchte. Auch er geht zu einem Zauberheiler wie Bebabeba, wenn ein Unglück seine Familie heimsucht. „Ich bin so aufgewachsen, und ich kann auch nichts schlechtes daran finden", sagt der bald 60-jährige Presbyterianer, der einen dunklen Anzug trägt und lange in den Vereinigten Staaten gelebt hat.
Nicht nur in Kenia häufen sich die Hexenmorde. Aus Uganda, Tansania, Mosambik, Burkina Faso, Nigeria und Südafrika kommen ähnliche Berichte. Die Lehrerin Malita Khoviwa etwa lebt in einem Dorf im Süden Malawis. Die 55-jährige hat im vergangenen Jahr drei Monate im Gefängnis verbracht, weil Nachbarn ihr schwarze Magie vorwarfen. „Eines Tages kam eine meiner Schülerinnen zu meinem Haus gerannt, eine 14-Jährige, die von ihren Eltern misshandelt worden war." Nur Stunden später tauchten die Eltern auf und warfen Khoviwa vor, sie habe das Kind verhext. „Sie hatten einen Hexendoktor befragt, der sie hierher geführt hat", erklärt die gebeugte Frau. „Das war nicht schwer, denn alle im Dorf hassen mich, weil ich als Lehrerin Geld verdiene und Dinge weiß, von denen die meisten Bauern noch nie gehört haben."
Die empörten Eltern ließen Khoviwa nicht hinrichten, sondern zogen mit ihr vor Gericht. Dort wurde sie der Hexerei für schuldig befunden - nach Kapitel 7.02, Paragraph 6 des Zauberei-Gesetzes. „Jeder, der zugibt oder durch seine Handlung beweist, ein Zauberer oder eine Hexe zu sein, muss 50 Pfund Strafe zahlen oder wird für bis zu zehn Jahre eingekerkert", heißt es in dem 1901 von der britischen Kolonialregierung eingeführten Gesetz, das bis heute in vielen ehemals britischen Kolonien volle Gültigkeit hat.
Khoviwa hatte Glück, nur zu drei Monaten Haft verurteilt zu werden. Das Stigma, das angebliche Hexen haben, ist so groß, dass sich selbst ihr eigener Sohn, ein Universitätsabsolvent, von ihr abgewandt hat. „Mein Vater ist 2005 ganz überraschend gestorben, von einem Tag auf den anderen hat er aufgehört zu reden und 24 Stunden später war er tot", sagt ihr Ältester Mylos. „Meine Mutter hat das nie erklären können. Ich und die ganze Familie sind überzeugt, dass sie ihn verhext hat."
Hexen und Zauberer sind in Malawi furchterregende Gestalten: Sie gelten als Menschenfresser, die sich vom Fleisch der Toten ernähren, die sie mit ihren Sprüchen umbringen. Um Feinde heimzusuchen, können sie sich unsichtbar machen, durch Wände gehen, sich in Katzen, Eulen oder Hyänen verwandeln und mit Hilfe eines „magischen Flugzeugs" fliegen. Ihre Gegenspieler sind die Zauberheiler: Sie beherrschen die weiße Magie und stellen Tränke und Talismane her, die die potentiellen Opfer vor der Kraft der Zauberei beschützen sollen. Nicht nur in Malawi sind Zauberheiler geachtete und reiche Männer. Sie haben ein Interesse daran, dass der Hexenglaube, ihre Geschäftsgrundlage, erhalten bleibt.
Im Kampf gegen die Hexenverfolgung ist ein angeblicher Zauberer inzwischen vor Malawis höchsten Gerichtshof gezogen: Medson Kachilika will erreichen, dass das 108 Jahre alte Zauberei-Gesetz ausgesetzt wird. „Es verletzt die in der Verfassung verbrieften Rechte auf freie Religionsausübung, Gedanken- und Gewissensfreiheit." Derzeit wartet er noch darauf, dass die Richter seinen Fall anhören.
Marion Omar hingegen setzt auf Abschreckung, um weitere Morde an Alten zu verhindern. „Bislang wurden die Morde, weil sie innerhalb der Familie stattfinden, oft gar nicht verfolgt", erklärt sie. „Wir sprechen mit der Polizei und fordern sie auf, Verdächtige festzunehmen und sie vor Gericht zu stellen, damit Exempel statuiert werden." Es ist meist einfach, die Verdächtigen zu finden, denn Reue gibt es kaum. „Sie fragen eher mich mit misstrauischem Unterton: Warum verteidigst du eigentlich die tote Hexe?" In Kisii im Westen Kenias ließ sich eine Gruppe von Mördern von einem großen Fernsehsender dabei filmen, wie sie fünf angebliche Hexen aus ihren Hütten schleppten und lebendig verbrannten. Obwohl alle Gesichter deutlich zu sehen waren, brauchte es einigen Druck, bis die Polizei zwanzig Verdächtige festnahm.
Organisationen wie Helpage setzen zudem auf eine wirtschaftliche Stärkung der Alten, um sie aus der Isolation zu holen. Sie unterstützen sie bei der Gründung kleiner Läden, bauen Plumpsklos und Wasserpumpen und zahlen jenen, die Aids-Waisen betreuen, kleine Stipendien aus. „Wir helfen auch anderen im Dorf, etwa bei der Versorgung mit Moskitonetzen", berichtet Omar. „Denn wenn ein Kind an Malaria stirbt, dann gibt es sofort wieder die Verdächtigung: Das war eine Hexe." Das Grundproblem, das viele Alte irgendwann alleine auf dem Land ihr Dasein fristen, kann Omar indes nicht lösen. Zwar wäre es in den Städten sicherer, sagt sie, weil der Glaube an Magie dort eher im Verborgenen ausgelebt werde. „Aber dort gibt es andere Probleme. Die Mieten sind zu teuer, das Essen kostet zu viel, und man hat keinen Acker, den man bewirtschaften kann." Bis heute gehen deshalb selbst wohlhabende Alte zurück auf das Land ihrer Ahnen, sobald ihr Arbeitsleben endet.
Trotz ihrer Bemühungen und obwohl sie erst 26 ist, hat Marion Omar Angst davor, eines Tages alt zu sein. „Nicht weil ich fürchte, als Hexe verfolgt zu werden", sagt sie - sondern wegen des sozialen Absturzes. „Was wird mit mir passieren, wenn ich 55 bin, und meine Kinder können sich nicht um mich kümmern? Das ist eine sehr erschreckende Vorstellung."
Marc Engelhardt arbeitet seit 2003 als freier Afrika-Korrespondent für epd, taz, Berliner Zeitung und den ARD-Hörfunk in Nairobi. Im Picus-Verlag ist gerade seine Reportagensammlung „Der Hüter der zerfallenden Bücher" erschienen.