Seit drei Monaten ist er der starke Mann in Äthiopien: Anfang April hat das Parlament in Addis Abeba Abiy Ahmed zum neuen Premierminister gewählt, und Beobachter fragen sich seither: Kann der 41-Jährige das Land am Horn von Afrika aus der nun schon zweieinhalbjährigen politischen Krise führen? In einer seiner ersten Reden bedankte sich Abiy Ahmed bei seiner Partei, der Ethiopian Peoples’ Revolutionary Democratic Front (EPRDF), die ihm so viel ermöglicht habe.
Die EPRDF vereint seit dem Ende der Mengistu-Diktatur 1991 im Vielvölkerstaat Äthiopien die ethnisch basierten politischen Parteien, die die Schwesterparteien der dominierenden Tigray People’s Liberation Front (TPLF) sind. Es heißt, Abiy Ahmed sei als 15-Jähriger wenige Monate vor dem Sturz von Mengistu mit den vorrückenden Kämpfern der TPLF mit nach Addis Abeba marschiert. Bemerkenswert ist, dass der neue Premierminister der ethnischen Gruppe der Oromo angehört, die sich bereits seit Jahrhunderten in Äthiopien und auch in der EPRDF von den Tigrays politisch und wirtschaftlich an den Rand gedrängt fühlen.
Im November 2015 begannen Proteste in der Oromia-Region, ursprünglich gegen die von der Regierung geplante Ausdehnung der Stadtgrenzen von Addis Abeba, welche die Umsiedlung dort lebender Oromo bedeutet hätte. Die Aufstände weiteten sich im Jahr darauf auf die Region der Amharen aus, das Militär wurde eingesetzt, und zum ersten Mal seit dem Beginn des EPRDF-Regimes schlossen sich Amharen und Oromo zu einer gesellschaftlichen oppositionellen „Koalition“ zusammen.
Nachdem bei einem religiösen Festival der Oromo in der Nähe von Addis Abeba mehr als 50 Menschen von Sicherheitskräften getötet wurden, erließ die Regierung das erste Mal seit 25 Jahren im Oktober 2016 Notstandsgesetze, die unter anderem die Versammlungsfreiheit und das Demonstrationsrecht einschränkten. Was als Protest gegen die Ausweitung von Addis Abeba begonnen hatte, entwickelte sich zu einem Ausbruch allgemeiner Unzufriedenheit mit dem Autoritarismus der Regierung und mit dem Mangel an wirtschaftlicher Teilhabe und politischer Beteiligung seit mehr als zweieinhalb Jahrzehnten.
Kurz nach der Erklärung des Notstands kündigte die Regierung Reformen an, von denen allerdings nur einige umgesetzt wurden. Im Februar dieses Jahres nahm Premierminister Hailemariam Desalegn schließlich seinen Hut und trat zurück. Schon am Tag danach rief die Regierung erneut den Notstand aus und schränkte bürgerliche Freiheiten erneut erheblich ein.
Anfang Juni hob Abiy Ahmed als frisch gekürter Premierminister diese zweiten Notstandsgesetze wieder auf. Für den neuen Mann ist das ein Etappensieg: Bis zum Parteitag im August muss Abiy seine Position in der EPRDF jedoch festigen, da ihn Hardliner in der Partei auf dem Parteitag zu seinem Kurs der Öffnung zur Rede stellen werden. Ob Abiy die Einschränkung individueller Rechte weiter lockert, bleibt abzuwarten. Immerhin hat er mittlerweile wichtige Vertreter der Opposition freigelassen und zum Dialog aufgefordert.
Der neue Premierminster ist seiner Partei treu ergeben
An seiner Treue zur Partei gibt es indes keine Zweifel – ebenso wenig an seinem politischen Standpunkt: Ohren für die Belange der Bevölkerung haben, ohne die Machtfrage anzutasten. Abiys beruflicher Werdegang führte ihn Mitte der 1990er Jahre in die damals neue Armee Äthiopiens, mit der er im Rahmen der UN-Mission für Ruanda auch ins Ausland gegangen ist. Weitere Stationen waren unter anderem der Sicherheitsapparat im Bundesland Oromia, aus dem er selbst stammt.
Von Bedeutung ist vor allem seine Tätigkeit als Direktor der Information Network Security Agency (INSA). Diese Behörde soll offiziell die Internetkriminalität vermindern, sammelt aber tatsächlich Internet- und Mobiltelefondaten von Bloggern, Oppositionellen und generell Andersdenkenden. Diese Daten übergibt sie der Polizei und der Staatsanwaltschaft, um Anklagen gegen Oppositionelle zu untermauern.
Mit ihrem Konzept des „Entwicklungsstaates“ hat die EPRDF-Regierung klargemacht, dass sie Wirtschaft, Politik und Gesellschaft lenken will. Die Regierung verbindet das Modell des Entwicklungsstaates mit dem äthiopischen Konzept der „revolutionären Demokratie“, das nicht auf einem liberalen Demokratieverständnis sowie individueller Beteiligung und der Vielfalt von Interessen und Ansichten basiert, sondern auf kollektiver und der Herstellung von Gemeinsamkeit über einen – häufig erzwungenen – Konsens. Die Idee einer „revolutionären Demokratie“ ist nicht zuletzt geprägt von marxistischen und maoistischen Auffassungen zu politischer Massenbewegung sowie von der historischen Erfahrung des langjährigen gewaltsamen Kampfes der TPLF.
Kontrolle über den Sicherheitsapparat
Für den äthiopischen Entwicklungsstaat sind wirtschaftliche Unterentwicklung und Armut der Feind Nummer eins. Die Regierungsführung ist durch informelle Kanäle gekennzeichnet, die direkt vom Zentralkomitee der TPLF zu den Ministerien laufen. Anordnungen, Beschlüsse und Strategiewechsel werden telefonisch den untergeordneten Dienststellen und Behörden mitgeteilt.
Das informelle Netzwerk von Parteizentrale, Inlandsgeheimdienst und Büro des Premierministers ist die Schaltzentrale des äthiopischen Staates. Seit Anfang Juni hat Abiy auch die Kontrolle über den Sicherheitsapparat, da er den Stabschef der äthiopischen Armee sowie den Chef des Geheimdienstes austauschen ließ. Durch diesen Personalwechsel hat Abiy seine Handlungsfähigkeit gezeigt.
Allerdings hat er die zwei Positionen mit Leuten besetzt, die aus den Reihen der EPRDF sind, also aus demselben Block wie die vorherigen Amtsträger. Schließlich wurde Abiy Ahmed nur mit den Stimmen der alten TPLF-Garde gewählt. Die Partei erhofft sich von ihm vor allem, dass er das Land stabilisiert und besonders die Oromo beruhigt. Wenn er das schafft und die gewaltsamen Proteste in Oromia eindämmt, dann wird er als Führer der Regierungspartei und des Sicherheitsapparates ernst genommen – sonst nicht.
Abiy kommt bei der Bevölkerung gut an
Seit seiner Wahl ist Abiy in einige äthiopische Bundesländer und auch ins benachbarte Ausland gereist. Die Reisen innerhalb Äthiopiens dienen dem Kennenlernen und sollen der Bevölkerung den guten Willen der Regierung zeigen. Abiy kommt bei der Bevölkerung gut an, spricht fließend drei äthiopische Sprachen, ist eloquent und kann mit einer Mischung von privaten Geschichten und erfreulichen politischen Botschaften aufwarten.
Autoren
Sophie Habermann
Die Autoren sind der Redaktion bekannt. Sie schreiben unter Pseudonym und haben sich von 2006 bis 2015 beruflich in Äthiopien aufgehalten.Wenn Abiy Reformen initiieren will, dann muss er die Kernfiguren in Staat und Partei davon überzeugen, dass sie keine Nachteile fürchten müssen, weder jetzt noch in Zukunft. Die alten Guerillakämpfer sind unter extremen Entbehrungen an die Macht gekommen. Sie haben das Land zu einem afrikanischen Machtzentrum entwickelt und möchten weder ihr aufgebautes Vermögen und ihre politische Macht bedingungslos teilen noch gar sie abgeben.
Das Ausland unterstützt Äthiopien großzügig
Die „Geberländer“, von denen Äthiopien Entwicklungshilfe erhält, ermahnen die Regierung zwar, unterstützen sie aber weiter großzügig. Bei seinem Kurzbesuch Anfang März in Äthiopien hatte der ehemalige US-Außenminister Rex Tillerson die Regierung aufgefordert, die Notstandsgesetze aufzuheben, was in der Zwischenzeit geschehen ist, und das Land politisch zu öffnen. In den äthiopischen Staatsmedien wurde dieser Teil des Besuchs verschwiegen. Andererseits sind für die wichtigsten „Geberländer“ USA, Großbritannien, China und Deutschland die Armutsbekämpfung und das wirtschaftliche Wachstum Äthiopiens wichtig, vor allem für London. So lange Äthiopien wirtschaftlich wächst und die Armut erfolgreich bekämpft, hat bisher besonders Großbritannien die äthiopische Regierung unterstützt.
Vor allem für die USA ist Äthiopien außerdem wichtig im Kampf gegen den islamistischen Terror, etwa in Somalia. Das spiegelt sich in den stetig steigenden amerikanischen Entwicklungsgeldern für Addis Abeba in den vergangenen zehn Jahren. Wenn Abiy in Äthiopien Stabilität bewahrt, wird Washington ihn weiterhin unterstützen.
Für Deutschland ist Äthiopien als Transitland für Flüchtlinge und Migranten Richtung Europa wichtig. So hat die Europäische Union mit deutscher Zustimmung ein Migrationsabkommen unterzeichnet, nach dem Ausländerbehörden der EU-Mitglieder äthiopische „Immigrationsbeamte“ einladen können, um die Identität von Asylbewerbern klären zu lassen.
Äthiopien hat die Geber durchschaut
Mit anderen Worten: Äthiopien hat seinen Platz gefunden und hat die westliche Gebergemeinschaft durchschaut. Für den Westen sind die Menschenrechte zwar nicht unwichtig, aber Äthiopiens wirtschaftliche Entwicklung und die Sicherheit am Horn von Afrika im Kampf gegen den Terror sind wichtiger. Äthiopien tritt entsprechend selbstbewusst auf und hat in den vergangenen Jahren stetig steigende Entwicklungsgelder erhalten.
Mit den Protesten seit Ende 2015 haben die Demonstranten mehr wirtschaftliche, aber auch mehr politische Teilhabe gefordert. Es ist von großer Bedeutung für die Zukunft des Landes, wie sich der neue Premierminister und die westlichen Geber dazu positionieren. Es wäre nicht gut für Äthiopien, wenn die Regierung und viele ihrer Geber so wie in der Vergangenheit wirtschaftliches Wachstum auf Kosten der bürgerlich-politischen Menschrechte anstreben.
Neben der Aufhebung der Notstandsgesetze ist die Freilassung des Oppositionellen Andargachew Tsige Ende Mai ein weiteres Zeichen, dass Abiy Ahmed behutsam einen Kurswechsel einschlagen könnte. Es scheint, als ob sich Abiy mit der Freilassung in der Parteihierarchie und im Sicherheitsapparat durchgesetzt hat. Andargachew ist ein Vertreter des bewaffneten oppositionellen Kampfes, mit dem die Regierung bisher jeglichen Dialog ausgeschlossen hatte. Das und die Aufhebung der Notstandsgesetze könnten ein erster Schritt sein auf einem möglichen Weg von der Krise zur Hoffnung in Äthiopien.
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