Zehn Kinder und eine Frau sitzen über ein Buch gebeugt auf dem Boden einer Hütte. Die Mädchen und Jungen sind ganz bei der Sache, sie reden und fragen durcheinander. Der KwaFaku-Leseclub in der Kapstadter Township Philippi lädt jeden Samstag die Kinder aus der Nachbarschaft ein, zwei Stunden zu lesen, Geschichten zu hören und darüber zu sprechen. Jeder kann kommen, organisiert wird das Treffen von jungen Erwachsenen aus der Township. Sie möchten den Kindern die faszinierende Welt von Geschichten und Büchern erschließen. Denn diese Welt kennen die meisten Heranwachsenden hier nicht.
Südafrikanische Kinder können nur sehr schlecht lesen – das hat Ende 2017 die internationale Grundschul-Leseuntersuchung (IGLU) gezeigt. Sie testet alle fünf Jahre die Lesefähigkeit von Viertklässlern in 50 Ländern. Südafrika ist das Schlusslicht, hinter Marokko und Ägypten: Rund acht von zehn Grundschülern können nach dem Lesen eines Textes nicht sagen, was sie davon verstanden haben. „Die Gründe dafür sind vielschichtig“, sagt Carole Bloch, die sich seit 20 Jahren mit dem Thema beschäftigt. Sie leitet die Organisation PRAESA (Project for the Study of Alternative Education in South Africa) und untersucht zusammen mit der Universität Kapstadt, wie Kinder im vielsprachigen Südafrika lesen lernen. PRAESA entwickelt zudem Materialien, Trainings und Initiativen wie den KwaFaku-Leseclub.
Bloch macht vor allem die Sprachpolitik im südafrikanischen Bildungswesen für die Misere verantwortlich. Seit 1996 hat Südafrika elf offizielle Landessprachen: Englisch und Afrikaans, wie schon zu Zeiten der Apartheid, und neun afrikanische Sprachen, von denen Xhosa und Zulu am weitesten verbreitet sind. Fast 80 Prozent der Südafrikanerinnen und Südafrikaner haben eine afrikanische Sprache als Muttersprache. Unterrichtet wird aber größtenteils auf Englisch. Das bedeutet: Die Mehrheit der Kinder ist in der Schule von Anfang an benachteiligt. Zwar lernen die meisten Mädchen und Jungen die ersten drei Jahre in ihrer Muttersprache oder einer anderen afrikanischen Sprache, die sie gut kennen, ab der vierten Klasse müssen sie aber komplett zu Englisch wechseln.
Lernmethoden sind nicht modern
Lesen werde den Kindern in ihrer Muttersprache nicht ausreichend beigebracht, sagt Bloch. „Und Englisch haben sie auch nicht gut genug gelernt, um es als Unterrichtssprache benutzen zu können.“ Zudem werde in Südafrika nach der phonetischen Methode unterrichtet. Die Kinder üben, wie sie Buchstaben und Wörter aussprechen müssen. Gut lesen kann, wer flüssig die Laute produziert. Mit der Bedeutung der Worte und Sätze beschäftigen sie sich nicht.
Azwihangwisi Muthivhi vom Institut für Bildung an der Universität Kapstadt teilt die Kritik. Er unterrichtet angehende Lehrer und forscht zu Lernprozessen von Kindern im Grundschulalter. „Die Lehrmethoden entsprechen nicht wirklich einer modernen Herangehensweise“, sagt er. „Wir befinden uns gerade in einer Übergangsphase.“ Neue Lehrpläne gibt es bereits. Sie schreiben vor, jetzt nach einer bedeutungsbasierten Methode das Lesen zu unterrichten. Das heißt: Jetzt sollen die Lehrer den Kindern nicht nur beibringen, wie sie die Buchstaben, Wörter und Sätze aussprechen müssen, sondern mit ihnen auch über die Bedeutung des Gelesenen sprechen. „Doch manche Lehrer sind skeptisch“, sagt Muthivhi. „Sie glauben nicht, dass sich die Methode für afrikanische Sprachen eignet.“
Auch die viel zu großen Klassen mit 40 oder 50 Kindern verhindern, dass sie wirklich Lesen lernen. Über das Gelesene zu sprechen, ist so unmöglich. „Das ist aber notwendig, wenn die Kinder auch verstehen sollen, was sie lesen“, sagt Carole Bloch. Aus Erfahrung weiß sie, dass viele Lehrerinnen und Lehrer selbst nicht viel lesen. Somit können sie auch keine Begeisterung dafür weitergeben. Auch von ihren Eltern werden die Mädchen und Jungen kaum motiviert. „Nur rund fünf Prozent der südafrikanischen Eltern lesen ihren Kindern vor“, sagt Bloch. Und so wachsen die meisten Mädchen und Jungen ohne Lese- und Schreibkultur auf.
Exzellente Schulen sind teuer
Es gibt in Südafrika auch exzellente Schulen. Sie befinden sich in wohlhabenden Gegenden und werden immer noch vor allem von weißen Kindern besucht. Schwarze Kinder können ebenfalls auf diese Schulen gehen, doch dafür müssen die Eltern in der Lage sein, die hohen Gebühren zu bezahlen. In der großen Mehrheit der Schulen auf dem Land und in den Townships geht es hingegen noch immer so zu wie zu Zeiten der Apartheid, der Rassentrennung: große Klassen, Lehrer, von denen ein Teil schlecht ausgebildet ist und selbst nicht gut Englisch spricht, baufällige Gebäude mit schlecht funktionierenden Sanitäranlagen. Und das nach fast 25 Jahren, in denen der Afrikanische Nationalkongress (ANC) regiert.
Zwar gibt der südafrikanische Staat sechs Prozent seines Bruttoinlandsproduktes für Bildung aus, das ist mehr als der EU-Durchschnitt von fünf Prozent. Doch das Geld bewirkt wenig – wegen der weit verbreiteten Korruption, Missmanagement an den Schulen und unfähiger Mitarbeiter auf allen Ebenen. Regelmäßig wird über Skandale berichtet: ganze Klassenstufen bleiben monatelang ohne Schulbücher, Lehrergehälter werden weiterbezahlt, obwohl die Person längst nicht mehr als Lehrer arbeitet oder die sanitären Anlagen sind so verwahrlost, dass sie die Gesundheit der Kinder gefährden.
Zudem hat die Zentralregierung die Verantwortung für die Schulbildung an die Provinzen abgegeben. Die bestimmen über Lehrer, Schulgebäude und Infrastruktur. So funktionieren die Schulen in einigen Provinzen wie Westkap besser, in anderen wie Limpopo oder Ostkap schlechter. Nur die Lehrpläne werden zentral geregelt. „Der größte Erfolg des Post-Apartheid-Bildungssystems ist, dass jetzt alle Kinder wenigstens in die Grundschule gehen“, sagt Ayesha Meer von Equal Education, einer Bewegung aus Schülern, Lehrern und Eltern, die für eine gleich gute Ausstattung an allen Schulen im Land kämpft. Mit Erfolg: In der Provinz KwaZulu-Natal hat ein Gericht am Ende einer Kampagne beschlossen, dass die Provinzregierung Schulbusse für die gesamte Region stellen muss, und in der Provinz Gauteng hat das Bildungsministerium ein Extrabudget für bessere sanitäre Anlagen veranschlagt.
Kinder lernen in einer Sprache, die sie nicht verstehen
Azwihangwisi Muthivhi und Carole Bloch führen den Misserfolg vieler Schüler in erster Linie auf die Vernachlässigung der afrikanischen Sprachen zurück. Sie fordern einen bilingualen Unterricht, in dem die Muttersprachen der Kinder länger im Unterricht verwendet werden. Zwar gebe es Beschlüsse, die Sprachen an den Schulen zu fördern, doch das seien „reine Lippenbekenntnisse“, meint Bloch. Bildung basiere auf Sprache, betont Muthivhi. „Und unsere Kinder lernen in einer Sprache, die sie nicht verstehen.“ Dass trotzdem konsequent an Englisch als einziger Sprache der Bildung und des wirtschaftlichen Erfolges festgehalten wird, ist für ihn ein koloniales Erbe, das immer noch in den Köpfen der Menschen festsitzt – auch in denen der ANC-Regierung.
Im Bildungsministerium der Zentralregierung (Ministerium für primäre und sekundäre Bildung) hat man inzwischen begriffen, dass das Lesen und Verstehen von Texten wichtig ist. Es gibt Forschungsprojekte, es werden Berichte verfasst und verschiedene Kampagnen angekündigt, etwa unter dem Motto „Only a reading nation is a winning nation“. Das Ministerium veröffentlicht auf seiner Website Tipps und Hinweise für Schulen, wie man Leseclubs gründet und die richtigen Bücher dafür auswählt. Auch die Eltern werden aufgefordert, ihren Kindern mehr vorzulesen. Konkrete Ansprechpartner, Termine oder Schulungen finden sich nicht. Die gibt es bei zahlreichen Leseinitiativen von nichtstaatlichen Organisationen, die sich über Spenden und Fördergelder finanzieren.
Sie heißen Nal’ibali, help2read, Shine oder FunDza und spenden Bücherkisten für Schulen, veranstalten Lesungen in Bibliotheken, stellen Lesepaten, bieten Workshops für Eltern oder schicken Freiwillige an die Schulen. Oder sie sammeln Geld, um Kinderbücher in afrikanischen Sprachen zu veröffentlichen. Denn davon gebe es viel zu wenig, meint Carole Bloch und präsentiert ein Sortiment von bunten Büchern in verschiedenen Sprachen, die sie und die Initiative Nal’ibali veröffentlicht haben. Die Muttersprachen der Kinder sind für sie der Schlüssel.
Im Leseclub wird Xhosa gelesen und gesprochen
Autorin
Katja Hanke
ist freie Journalistin in Berlin und spezialisiert auf Bildungsthemen.Einer, der gute Bildung selbst in die Hand nimmt, ist Werner Cloete aus Stellenbosch. Der Chemie- und Mathematiklehrer hat eine Schule gegründet. Zuvor hatte er elf Jahre lang an einer Schule für Wohlhabende unterrichtet. In seiner Freizeit gab er Kindern in einer Township Nachhilfe. Anfang des Jahres hat nun der Unterricht in seiner „Calling Academy“ begonnen, einer High School für Jungen mit Englisch als Unterrichtssprache. Sie hat zwei achte Klassen mit je 30 Schülern. Hier sollen auch Kinder aus Familien mit niedrigem Einkommen gut unterrichtet werden. Rund 400 Euro bezahlen die Eltern pro Jahr. „Das kann sich auch die alleinerziehende Kellnerin oder Haushälterin leisten“, sagt Cloete, der für die Schule auch einen staatlichen Zuschuss bekommt. Den größten Teil der Ausgaben finanziert er aber über Sponsoren.
Die Schule – ein kleines Gebäude mitten im Grünen – hat einen Empfang, zwei Klassenzimmer und Cloetes Büro, derzeit ein „Multifunktionsraum“. Gerade hatten zehn Schüler und eine Lehrerin darin eine Besprechung. Als sie herauskommen, scherzt Cloete mit den Jungen auf Xhosa, lacht, klopft auf Schultern. Er ist Freund und Lehrer zugleich. An diese Art von Umgang müssten sich viele erst gewöhnen, sagt er, und auch daran, dass diese Schule sie fordert. Cloete und seine drei Kollegen und Kolleginnen kümmern sich um jeden Schüler. Nur den Schulstoff zu vermitteln, reiche nicht aus. Die meisten Schüler kommen aus schwierigen Verhältnissen, wachsen nur mit der Mutter auf, bei den Großeltern oder bei der Tante, in einem Haus ohne Platz zum Lernen und ohne jegliche Erfahrung damit. Deshalb lernen sie erst einmal, wie man lernt. Auch die Familie bezieht Cloete mit ein.
Besonders stolz ist Cloete auf die Extra-Angebote seiner Schule wie Programmieren, Unternehmertum und den Kurs „Väter der Zukunft“. Die soziale Verantwortung liegt ihm als Protestanten am Herzen. „Ich möchte Bildung in einer christlichen Umgebung bieten“, sagt er. Mitglieder verschiedener Gemeinden unterstützen ihn dabei. Zehn Männer betreuen als Mentoren je sechs Schüler und treffen sich einmal pro Woche mit ihnen. Im nächsten Jahr möchte Cloete zwei weitere Räume mieten: Dann hat die Calling Academy zwei achte und zwei neunte Klassen. Im Jahr darauf sollen wieder zwei Klassen dazukommen. So soll die Schule langsam wachsen und in vier Jahren, so hofft er, werden es einige seiner Schüler als Erste in der Familie an die Universität schaffen.
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