Zu teures Eisbein in der Colonia Tovar

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Hildegrad Willer

Den Kirchplatz der Colonia Tovar besuchen derzeit nur ­wenige Touristen. Das bekommt vor allem die ­Gastronomie zu spüren.

Auswanderer in Venezuela
Knapp 400 Menschen sind vor 170 Jahren aus Südbaden nach Venezuela ausgewandert. Heute leidet die Colonia Tovar wie das ganze Land unter einer schweren Wirtschaftskrise. Spenden aus der alten Heimat helfen.

Am Marktstand von Isabel Rudmann hält sich der Andrang in Grenzen. Die 58-Jährige verkauft selbst angebautes Gemüse, Honig, eingemachte Pfirsiche und Gebäck auf dem Weihnachtsmarkt der Colonia Tovar westlich der venezolanischen Hauptstadt Caracas. Vor zwei Jahren war das noch anders. „Damals wärst Du hier sonntags mit dem Auto nicht durchgekommen“, erinnert sie sich. Heute kaufen nur wenige ihre Adventskränze aus Pinienzweigen – eine Tradition, die sie von ihren südbadischen Vorfahren bewahrt hat.

„Isch net guet Venezuela“, sagt Rudmann in ihrem  alemannischen Dialekt. Das lateinamerikanische Land befindet sich seit gut drei Jahren trotz reicher Erdölvorkommen in einer tiefen Wirtschaftskrise. Die Inflation im dreistelligen Bereich macht Alltagsartikel unerschwinglich. Im Gegensatz zu den Landsleuten in den Städten müssen die meisten Menschen in Colonia Tovar zwar nicht hungern, da sie Landwirtschaft betreiben. Aber auch hier sind Zucker, Nudeln und importiertes Saatgut immer schwerer zu bekommen – und der Rückgang der Besucherinnen und Besucher macht dem Ort zu schaffen.

Isabel Rudmann ist eine Nachfahrin der Auswanderer, die aus verschiedenen Dörfern des Kaiserstuhls im Dezember 1842 Richtung Venezuela aufbrachen. Präsident José Antonio Páez hatte den Kartographen Agustín Codazzi damit beauftragt, europäische Siedler nach Übersee zu holen. Codazzi wurde am Kaiserstuhl fündig, in Endingen. Der Graf von Tovar stellte das Land in Venezuela zur Verfügung. Am 8. April 1843 erreichten die Deutschen den Ort im Küstengebirge, der später Colonia Tovar genannt wird. Gut hundert Jahre lang galt die Regel, dass die Familien nur untereinander heiraten durften. Wer einen Venezolaner oder eine Venezolanerin ehelichte, musste die Colonia Tovar verlassen. Noch als Rudmann vor 30 Jahren ihren Eltern ihren spanischstämmigen Bräutigam vorstellte, „mussten die sich erst daran gewöhnen“.

Tourismuszone mit Schwarzwaldklischee

Bis Mitte des vergangenen Jahrhunderts blieb die Kolonie vom Rest des Landes weitgehend abgeschottet. 1963 ließ die Regierung eine Straße von Caracas nach Colonia Tovar bauen und erklärte den Ort zur Tourismuszone. Dank der Nähe zur Hauptstadt und den Industriestädten Valencia und Maracay und des gemäßigten Klimas auf 1700 Höhenmetern hat sich das Dorf als Ausflugsziel für die venezolanische Mittelschicht fest etabliert, es wurde zu einer der reichsten Gemeinden des Landes.

Die Venezolaner lieben das Schwarzwaldklischee: Ein Fachwerkhaus reiht sich an das andere, die Hotels heißen Edelweiß, Bergblick und Schwarzwald, die Restaurants Wurttemberg, Oberbergen und Kaiserstuhl. Auf der Hauptstraße des rund 10.000 Einwohner zählenden Ortes bieten edle Restaurants und billigere Imbissketten deutsche Wurstwaren, Bier und Schwarzwälder Kirschtorte an. Die Geschäfte im Dorfkern von Colonia Tovar sind fest in der Hand der „Colonieros“ – der Nachfahren der ausgewanderten Endinger oder später eingewanderter Deutscher.

„Uns ging es in der Colonia Tovar immer recht gut“, sagt Caroline Redneris. Gemeinsam mit ihrem Mann aus der Nähe von Endingen betreibt sie ein Hotel mit Restaurant, das ihre Eltern erbaut hatten. Sie waren nach dem Zweiten Weltkrieg nach Venezuela eingewandert. Die Gaststube ist mit viel Holz eingerichtet, die Speisekarte „gut bürgerlich“: Würste, Sauerkraut und Eisbein. Serviert wird im Dirndl, aus dem Lautsprecher klingt deutsche Volksmusik.

Teure Gerichte zum Selbstkostenpreis

Das Restaurant ist gut besucht, aber niemand muss wie früher für sein Schnitzel Schlange stehen. „Viele Geschäfte machen gar nicht mehr auf, weil es sich nicht lohnt. Wir halten den Betrieb noch am Laufen, aber wir verdienen nichts mehr daran“, sagt Redneris. Ihre Gerichte verkauft sie  zum Selbstkostenpreis. Doch auch so ist das Essen keineswegs billig: 750.000 Bolivares kostet ein Mittagessen für zwei Personen samt Getränken. Das sind 7,50 Euro für den, der Devisen hat und auf dem Schwarzmarkt wechseln kann. Für viele Venezolaner ist das unerschwinglich.

Beide Söhne der Redneris machen eine Ausbildung in Deutschland. Der eine studiert, der andere lernt Koch in einem Hotel am Kaiserstuhl, ganz in der Nähe von Endingen. Damit steht er in der Tradition von inzwischen gut 20 jungen Colonieros, die in Endingen und Umgebung eine Berufsausbildung absolviert haben. In den 1960er Jahren kam erstmals eine Delegation aus Endingen in die Colonia Tovar, seitdem besucht man sich regelmäßig gegenseitig. Ein Freundeskreis und eine Stiftung kümmern sich in Endingen um die Partnerschaft.

Das tut auch Sarah Misle. Ihr Vater absolvierte als einer der ersten Colonieros in den 1970er Jahren in Endingen eine Lehre, heiratete eine Endingerin und kehrte nach Colonia Tovar zurück. „Bereits 2005 war mir klar, dass ich in Venezuela keine Zukunft habe“, sagt die heute 31-Jährige. Den letzten Ausschlag für die Entscheidung, das Land zu verlassen, gab ein versuchtes Kidnapping. Ein Jahr später folgten ihre Eltern. Inzwischen lebt die Familie Misle wieder in Endingen, und Sarah Misle organisiert Hilfslieferungen für ihren Geburtsort. „Die Großzügigkeit der Leute in Endingen ist immens“, erzählt die Finanzberaterin. Sie hat bereits 300 Kilo Medikamente an die Colonia Tovar geschickt. Denn in Venezuela sind nicht nur Lebens-, sondern auch Arzneimittel knapp und unerschwinglich. Da die venezolanische Regierung sich bis heute weigert, einen offiziellen Notstand auszurufen, sind private Spenden die einzig mögliche Art der Unterstützung.

Autorin

Hildegard Willer

ist freie Journalistin und lebt in Lima (Peru).
Die Bevölkerung der Colonia Tovar ist politisch gespalten. Im Ortskern wohnen die alteingesessenen rund 5000 Colonieros, die die wirtschaftliche Macht haben und eher der politischen Opposition zuzurechnen sind. Zur Gemeinde gehören aber auch viele kleine Weiler, in denen meist ärmere nicht-deutschstämmige Venezolaner leben. Sie haben bislang  mehrheitlich für die linksnationalistische Regierungspartei PSUV, die „Chavistas“,  gestimmt. 13 Jahre lang stellten diese den Bürgermeister im Rathaus. Erst bei den Kommunalwahlen im Dezember 2017 wendete sich das Blatt, und der Kandidat der beiden Oppositionsparteien COPEI und MAS, Esteban Bocaranda, eroberte den Bürgermeistersessel.

Colonia Tovar bildet damit eine Ausnahme. Denn die Chavistas sitzen in ganz Venezuela fest im Sattel, die Opposition ist zerstritten und schwach. Zur wirtschaftlichen Not gesellt sich eine tiefe Resignation. Die meisten jungen Colonieros wollen weg. Viele suchen neue Perspektiven in Südamerika – alleine schon wegen der Sprache, den Visumserleichterungen und den geringeren Reisekosten.

Doch auch Sarah Misle in Endingen wird gefragt, wie man nach Deutschland auswandern kann.  Das ist nicht so einfach: Mindestens ein Elternteil muss Deutscher sein, damit die Kinder die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten können. Und streng genommen waren die Vorfahren der Colonieros Untertanen des Großherzogtums Baden. Als das 1871 Teil des Deutschen Reiches wurde, dachte in der Colonia Tovar niemand daran, sich als deutsche Bürgerin oder als deutscher Bürger zu registrieren.

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erschienen in Ausgabe 2 / 2018: Diaspora: Zu Hause in zwei Ländern
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