Dem Schmerz ein Gesicht geben

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Kolumbien
Mehr als 50 Jahre Bürgerkrieg haben in Kolumbien schwere seelische Wunden geschlagen. Zwei junge Frauen helfen dabei, sie zu heilen.

Maggy López ist zuversichtlich. Die junge Psychologin ist davon überzeugt, dass sich etwas zum Besseren verändern kann – trotz des unvorstellbaren Leids in mehr als 50 Jahren Bürgerkrieg in Kolumbien. Der Konflikt zwischen der Regierung und den linksgerichteten Farc-Rebellen, der im vergangenen Jahr mit dem Abkommen von Havanna beendet werden konnte, hat die Ungerechtigkeit und Ungleichheit in der Gesellschaft vertieft. Unzählige Menschen wurden getötet, gefoltert, vergewaltigt, verstümmelt. Mehr als 60.000 Kolumbianerinnen und Kolumbianer sind verschwunden. Die große Mehrheit der Opfer bleibt mit ihren Verletzungen, vor allem den seelischen, allein – obwohl ihnen im Friedensabkommen von Havanna Hilfe und Entschädigung zugesichert wird. 

López kennt viele solcher Schicksale. Die temperamentvolle Frau mit den wilden Locken bietet ehrenamtlich Hilfe für Angehörige von Verschwundenen an. Deren Familienmitglieder sind teilweise schon seit Jahrzehnten, teilweise erst seit wenigen Monaten verschwunden. Zumeist staatliche oder parastaatliche Organe entführen Menschen, oft um sie zu foltern und zu töten. Der Verbleib der Opfer wird meist jahrelang nicht aufgeklärt, häufig erfahren die Angehörigen nie, was ihren Liebsten widerfahren ist. Im Völkerrecht ist das erzwungene Verschwinden als Verbrechen gegen die Menschlichkeit definiert und eine der schwersten Menschenrechtsverletzungen.

Die Angehörigen suchten lieber den Austausch untereinander, als eine Entschädigung oder andere staatliche Programme in Anspruch zu nehmen, erklärt López. Zwar gebe es ein Recht auf Entschädigung. „Aber der Prozess auf Anerkennung des Opferstatus ist langwierig, verletzend und stigmatisierend.“ Zudem könne kein Geld den Menschen ihren Schmerz nehmen. Angehörige von Verschwundenen haben die Selbsthilfegruppe um López ins Leben gerufen. „Sie haben sich zusammengeschlossen, um zu reden, zu weinen und um sich an ihre Liebsten zu erinnern“, sagt die Psychologin. „Hier können sie sich öffnen. Mit meiner Ausbildung unterstütze ich sie dabei.“

Schmerz, Enttäuschung und Morddrohungen

Martha Giraldo kennt den Schmerz über einen Verlust und die Enttäuschung, vom Staat ausgegrenzt zu werden. Ihr Vater ist vor mehr als zehn Jahren verschwunden und ermordet worden. Sein Leichnam wurde zwar gefunden, doch seitdem kämpft sie dafür, dass die Tat aufgeklärt und die Täter verhaftet und vor Gericht gestellt werden. Für dieses Engagement hat die groß gewachsene Frau schon selbst Morddrohungen erhalten. Als sie mit ihrer heute fünfjährigen Tochter Anna schwanger war, drangen Männer mit paramilitärischen Abzeichen auf den Uniformen in ihre Wohnung ein und drohten: „Wenn du die Suche nach deinem Vater nicht lässt, bringen wir dein Kind um, sobald es auch nur das Licht der Welt erblickt.“

Auch im vergangenen Monat bekam sie wieder einen Drohanruf. Aber Giraldo lässt sich nicht von ihrem Weg abbringen, auch wenn sie Angst hat und manchmal eingeschüchtert ist. „Du willst einfach nur alles vergessen“, sagt sie. „Aber das geht nicht. Und ich habe gelernt, dass das wichtig ist: Du sollst nicht vergessen.“ Über diese Erkenntnis hat sie einen Weg gefunden, mit dem Verlust ihres Vaters umzugehen: Giraldo engagiert sich bei der Organisatin Movice, einer Vereinigung von Opfern staatlicher Gewalt, die politisch und juristisch ihre Rechte geltend machen wollen.

Das Erinnern ist die Basis, auf der sie arbeiten. „Niemand soll vergessen werden“, so Giraldo, „das ist die Grundlage für Gerechtigkeit.“ Und erst die Gerechtigkeit bietet die Chance, über den Schmerz hinweg zu kommen. „Obwohl jeder Verlust schmerzhaft ist, sind wir Menschen in der Lage, ihn zu verarbeiten. Das gehört zum Leben dazu“, meint die junge Frau. „Doch wenn eine geliebte Person verschwindet und die Täter nicht gefasst werden, reißt die Wunde bei jedem weiteren Fall wieder auf. Zur Heilung musst du abschließen können.“

Hoffnung und einen neuen Lebensentwurf entwickeln

Auch die kolumbianische Gesellschaft hat durch den Krieg Wunden davongetragen. „Misstrauen ist unser größtes Problem. Denn wenn du nicht weißt, auf welcher Seite dein Nachbar steht, kannst du niemandem vertrauen“, sagt Giraldo. Maggy López fängt auf der persönlichen Ebene an, um den sozialen Zusammenhalt wieder zu stärken: Wieder Vertrauen lernen, zuhören, Hoffnung entwickeln und einen neuen Lebensentwurf gestalten. Menschen reagierten ganz unterschiedlich auf traumatische Erlebnisse, erklärt López. Sie erlebt Leid, Wut, Schmerz, Ohnmacht und Traurigkeit. Ihr ist es wichtig, dass diese Reaktionen alle erlaubt sind. Manche Menschen wollen reden, „ihr Innerstes nach außen kehren“, andere lieber nicht.

Ihre Angebote sind deshalb so verschieden wie die Menschen, die in die Selbsthilfegruppe kommen. „Wir malen, reden, singen, spielen Theater und lachen viel“, sagt López. „Statt den Betroffenen psychische Krankheiten zu attestieren schaffen wir geschützte Räume, in denen sie ihre Würde und ihre Handlungsfähigkeit zurückgewinnen können.“

Giraldo nennt eine weitere Folge von Leid: den körperlichen Schmerz. Viele Opfer des Krieges, vor allem Angehörige von Verschwundenen, sind ständig krank. „Die eine klagt über ein Rückenleiden, eine andere über einen stechenden Schmerz im Bein, wieder einer anderen tun immer die Augen weh“, sagt sie. „Kein Arzt kann ihnen helfen. Sie schlucken Medikamente und alles wird noch schlimmer.“

Die körperlichen Beschwerden sind häufig ein Ausdruck seelischer Qualen. Die eigene Situation zu verstehen, sei der erste Schritt zur Gesundung, erklärt Giraldo. Und die hänge immer auch mit Gemeinschaft zusammen. Eine Person aus einer Krisenregion leide seelisch viel länger als jemand, der in einem sicheren Umfeld lebt. Wenn zum Verlust eines geliebten Menschen Unsicherheit und existenzielle Ängste hinzukommen, verstärke dies den Schmerz. Das Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen und sich Ziele zu setzen, das ist Giraldos Ansatz, um seelisches Leid zu überwinden.

Einen Sinn in dem Erlebten sehen

Viele der Opfer, die sich artikulieren und organisieren, sind Frauen – sie sind in vielen Familien für das Zusammenleben zuständig. Männer arbeiten häufig tagsüber, während die Frauen die Familie versorgen. Auch die Gruppe von López hat mehr weibliche Mitglieder. „Das bedeutet nicht, dass Männer nicht leiden“, sagt sie. „Wir besuchen deshalb die Familien, damit auch die Männer reden lernen.“ Bei einem ihrer Besuche erzählt ein Vater, wie sich sein Leben nach dem Verschwinden seines Sohnes in einem einzigen Augenblick vollkommen verändert hat. „Das musst du erstmal akzeptieren“, sagt er kopfschüttelnd und fügt hinzu: „Du musst lernen, damit umzugehen. Du musst einen Sinn in dem Erlebnis sehen und deinem Leben wieder ein Ziel geben.“

Bei ihren Besuchen leitet López die Familien an, Wandbilder zu nähen, auf denen sie ihre Geschichte in Bildern ausdrücken. Sie lernen, ihren Schmerz zu teilen. Erlebnisse und Ängste, die sich nicht in Worte fassen lassen, werden in Symbolen dargestellt: wilde Tiere, dunkle Stellen oder Feuer weisen auf Furcht hin, Personen ohne Gesicht können Bedrohungen anzeigen. Hoffnung und erlösende Momente erscheinen in Form von Vögeln oder Schmetterlingen. Es geht nicht darum, Ereignisse korrekt darzustellen, sondern darum, dem persönlichen Leid im geschützten Raum der Familie einen Ausdruck zu verleihen.

Martha Giraldo findet symbolische Rituale ebenfalls wichtig, auch als Grundlage dafür, die Wahrheit herauszufinden. Bei einem solchen gemeinsamen Gedenken stellten Mitglieder von Movice Stühle als Erinnerung für ihre verschwundenen Angehörigen an verschiedene Orte der Stadt. Die leeren Stühle zeigen, dass hier überall Menschen fehlen. „In Kolumbien wird die Geschichte nicht von den Opfern geschrieben, sondern von den Verbrechern“, sagt sie. Erinnern ist unverzichtbar, damit die Straftaten vor Gericht kommen.

Autorin

Ani Diesselmann

ist promovierte Linguistin und Philosophin, lebt seit 2013 in Kolumbien und arbeitet dort als Journalistin und Menschenrechtsbeobachterin.
„Ich werde immer das Gedenken an meinen Vater hochhalten, damit er nicht umsonst gestorben ist“, sagt sie bestimmt. „Das Erinnern gibt den Opfern Würde zurück. Von vielen Verschwundenen wissen wir, dass sie schlimm gefoltert worden sind. Das kann man bei den Exhumierungen herausfinden.“ Giraldo ist sicher, dass sie mit dem Verschwinden des Vaters und der Trauer niemals abschließen kann. Sie blickt lange ins Leere und fügt dann hinzu: „Aber ich hoffe, irgendwann wieder eine innere Ruhe zu finden.“ Um das zu erreichen, möchten manche Opfer den Tätern verzeihen. Maggy López versteht das. „Aber es darf niemand für andere sprechen. Denn es ist auch in Ordnung, nicht verzeihen zu können oder zu wollen.“

Giraldo beschäftigt das ebenfalls. Sie glaubt, dass sie vielleicht in Zukunft fähig ist zu verzeihen: „Wenn du verstehst, dass es nicht deine Schuld war, dass es nichts mit dir persönlich zu tun hat.“ Das kollektive Verzeihen kann eine Möglichkeit sein, vom individuellen Leid Abstand zu nehmen: Das Erlebte wird nicht nur als persönliches Schicksal begriffen, sondern als Ansporn, in einer Gruppe von Betroffenen einen Beitrag zum Friedensprozess zu leisten. Durch den Austausch ähnlicher Erfahrungen können sich die Betroffenen aus der Isolation lösen. Das ist sowohl das politische Ziel von Movice als auch der Selbsthilfegruppe um López.

„Als Opferverband wollen wir deutlich machen, dass unser Schicksal nicht privat ist. Wir fordern Aufklärung, Strafen für die Täter und Entschädigung. Damit erleben wir uns selbst als Subjekte mit Rechten und Würde“, betont Giraldo. Deshalb ist es der Organisation Movice wichtig, dass sich alle gleichermaßen an politischen Entscheidungen beteiligen können. Und noch etwas bewegt die junge Frau: „Die Welt soll wissen, warum diese Dinge hier in Kolumbien passieren, warum es die Gewalt gibt. Die Welt soll verstehen, dass wir keine schlechten Menschen sind. Unsere Kultur ist nicht an sich gewalttätig.“ Sie hat sich zum Ziel gesetzt, von der Gewalt und dem Konflikt zu berichten, und nicht aus Angst zu schweigen. „Zu erzählen bedeutet, einen Schritt zum Friedensprozess beizutragen.“

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erschienen in Ausgabe 8 / 2017: Wenn die Seele krank ist
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