Die Angst geht um, dass aus den Kriegen im Nahen Osten Terroristen zu uns kommen. Wie berechtigt ist das?
Die Gefahr ist wahrscheinlich etwas gewachsen. Bis vor ein, zwei Jahren hatten wir es in Deutschland, Belgien und Frankreich im Wesentlichen mit hausgemachtem Terrorismus zu tun. Die Täter waren hier geboren oder zumindest zur Schule gegangen und sozialisiert worden – auch wenn sich manche dann ideologisch auf religiös-terroristische Bewegungen im Nahen Osten bezogen haben. So war es etwa bei den schweren Anschlägen in Paris im November 2015. Aber seit ein, anderthalb Jahren kommen auch Täter aus dem Nahen Osten her, um Anschläge zu verüben. Wir hatten ein paar Einzelfälle, wo sich zwischen Flüchtlingen oder Zugewanderten Kader des Islamischen Staats (IS) versteckt haben – zum Beispiel ein Syrer, der mit mehreren Identitäten unterwegs war, auch mit Dokumenten, die der IS auf erbeuteten Formularen ausgestellt hatte. Inzwischen gibt es neben den bei uns sozialisierten Tätern nun eine zweite Gruppe von potentiellen Tätern. Manche von diesen sind mit der Absicht hergeschickt worden, Anschläge zu verüben, andere sollen hier angeworben werden.
Der hausgemachte Terrorismus ist aber weiter der größere Teil?
In Frankreich, Belgien und Deutschland bisher ja. Die Täter sind Menschen, die in Europa geboren oder im Wesentlichen hier aufgewachsen, zur Schule gegangen und auch radikalisiert worden sind. Manche sind allerdings als Kämpfer in Syrien oder anderen Kriegen im Nahen Osten gewesen. Wenn sich jemand in Dinslaken-Lohberg radikalisiert und dann zum Kämpfen in den Dschihad nach Syrien geht, entsteht eine Art Brücke zwischen Dschihadisten hier und dort.
Teilen Sie die These des französischen Experten Olivier Roy, wonach der dschihadistische Terrorismus bei uns Ausdruck einer nihilistischen Jugendkultur und weder politisch noch religiös begründet ist?
Das teile ich mit Einschränkungen. Bei uns hat die Quelle dieser Gewalt tatsächlich nichts mit Religion oder Politik zu tun, sondern mit gescheiterten Biografien. Das ist zum Teil anders in den USA und Großbritannien, etwa bei den Libyern hinter dem jüngsten Anschlag in Manchester. Bei uns haben die typischen Täter eine Ausbildung abgebrochen, sind Kleinkriminelle, frühere Pizzaboten oder unfähige Drogenhändler. Oft sind ihre Familienbindungen schwach und sie haben Gewalterfahrungen, bevor sie sich radikalisieren – etwa Kneipenschlägereien, Jugendbanden, Raubüberfälle. Dann wenden sie sich einer Ideologie zu, die ihre Gewalt rechtfertigt, überhöht und politisch oder religiös auflädt. Das passiert oft relativ spät und kann extrem schnell ablaufen: In ein paar Monaten werden Leute, die vorher gekifft oder viel Alkohol getrunken haben, zu Salafisten, für die der Islam und die Sitten aus der Zeit des Propheten das Ideal sind. Die Bekehrung ist oft nur oberflächlich und stützt vor allem das Selbstbild, dass sie eben keine Loser sind, sondern jetzt zur Avantgarde der Menschheit gehören.
Dafür bietet der IS die passenden Bilder und Ideologien?
Ja, im Unterschied zum Beispiel zu Al Qaida. Auf deren Videos im Internet sind häufig alte Männer mit langen Bärten, die stundenlang irgendetwas aus dem Koran rezitieren. Das ist für die Gruppe gescheiterter junger Männer, von der wir reden, schwer verdaulich. Dagegen kommt IS-Propaganda wie Katastrophenfilme aus Hollywood daher: Schnelle Schnitte, viel Explosionen und dann ein bisschen Religion darüber gegossen. Im Kern sind das Appelle an Männlichkeit, Stärke, Heldentum und Opferbereitschaft. Diese Sekundärtugenden sind nicht spezifisch religiös; wir finden die genauso im rechtsextremen und neofaschistischen Spektrum. Das spricht junge Männer an, die sich stark fühlen wollen.
Aber folgt der IS nicht einer gezielten Strategie, Selbstmordanschläge im Westen zu verüben?
Ja, aber das widerspricht dem nicht. Da treffen sich Verlierertypen in Westeuropa einerseits und eine professionelle Aufstandsbewegung in Syrien und dem Irak andererseits. Der IS will die politischen Kosten für die westlichen Länder erhöhen, die ihn mit Luftschlägen oder Spezialtruppen bekämpfen. Er kann die westlichen Luftwaffen und Soldaten nicht direkt angreifen und zeigt mit Terrorismus, dass er zurückschlägt. Er hofft, dass die westlichen Länder sich aus seiner Region zurückziehen, aber das wird scheitern. Außerdem wollte der IS bis vor kurzem auch Kämpfer in Europa und anderswo anwerben; etwa bis zu 40 bis 50 Prozent der IS-Kämpfer waren Ausländer. Die kann man leichter instrumentalisieren als Einheimische, weil sie zum Beispiel keine Rücksicht auf Verwandte in den Dörfern nehmen müssen.
Die Friedensforscher sind besorgt
Wenig optimistisch fällt diesmal das jährliche Gutachten aus der deutschen Friedensforschung aus. Die Kriege in Syrien, Libyen, ...
Gegen die hausgemachte Komponente sind Sozialprogramme im weiten Sinn nötig. Sozialarbeiter helfen nicht viel, wenn junge Leute chronisch arbeitslos sind. Integration hat mit dem Arbeitsmarkt zu tun, mit Bildung und damit, dass manche Menschen schwer eine Wohnung finden. So haben einige das Gefühl, nicht dazu zu gehören. Programme zur Deradikalisierung sind nützlich, helfen aber in der Breite nur, wenn Menschen zugleich eine echte Lebensperspektive bekommen. Das gilt für den Rechtsextremismus wie für den islamischen Extremismus, der nur eine kulturell anders geprägte Spielart desselben Phänomens ist.
Und ist es richtig, zugleich den IS militärisch zu bekämpfen?
Den IS zu bombardieren gewinnt Zeit, löst aber das Problem nicht. Die Stärke des IS beruht auf der Schwäche der Staaten in Syrien, dem Irak, Libyen, Jemen und anderswo. Im Irak und in Syrien hatten Teile der sunnitischen arabischen Bevölkerung das Gefühl, dass der IS das kleinere Übel ist als die eigenen Regierungen. Als im Irak Präsident Maliki 2010 die Wahlen verloren hatte und die schiitische Karte zog, um an der Macht zu bleiben, als er auf sunnitische Jugendliche schießen ließ, die gegen Korruption und für bessere Stromversorgung demonstrierten, als er den Vizepräsident und den Finanzminister, beide Sunniten, zum Tode verurteilen ließ – da hätte klar sein müssen: So züchtet man Dschihadisten. Man muss die Sunniten politisch integrieren. Das Problem ist: Wie bekommt man die Politiker dazu, das zu tun?
Und gibt es überzeugende Ideen, wie man von außen den Aufbau legitimer Staaten in der Region voranbringt?
Es gibt Kriege wie Syrien, Libyen oder Afghanistan, für die man nur ziemlich abstrakte Vorschläge machen kann, wie man zum Frieden kommt – wo man ansetzen soll, weiß niemand wirklich, weil die Gesellschaften inzwischen zerfallen sind und es einfach zu viele bewaffnete Gruppen gibt. Aber im Fall des Irak oder Palästinas weiß man, wie es ginge. Nur fehlt im Land der politische Wille, das umzusetzen. Und dann kann man von außen leider nicht viel tun.
Wir müssen mit den Krisenherden und der von dort ausgehenden Terrorgefahr auf absehbare Zeit leben?
Ja. Gleichgültig was wir im Nahen Osten tun, die Terrorgefahr wird mindestens noch fünf oder zehn Jahre bestehen bleiben. Auch wenn der IS in der Defensive ist, wird er weiter nachweisen wollen, dass er noch nicht besiegt ist. Was ihn zur Strecke bringt, ist eher, dass er in manchen Regionen politischen Selbstmord begangen hat: Er hat auch die eigene Basis, sunnitische Araber, schlimmer drangsaliert, als die jeweiligen Regierungen es getan hatten. In einigen Gebieten, wo er zunächst eine gewisse Unterstützung hatte, herrscht er jetzt nur noch mit Zwang und Repression und wird wahrscheinlich die Kontrolle verlieren. Das schwächt den IS mehr als irgendetwas anderes.
Wenn die Gefahr bleibt, dass der IS Terroristen bei uns einschleust, muss man dann besser kontrollieren, wer hier einreist – gerade Flüchtlinge?
Man muss Menschen in Not die Tür öffnen und darf sie nicht ihrem Schicksal überlassen, sollte aber schon wissen, wer sie sind. Entscheidend ist dafür nicht die Zahl der Flüchtlinge, sondern die Kompetenz der Behörden. Damit ist es manchmal nicht weit her – etwa wenn sich ein Bundeswehr-Offizier als syrischer Flüchtling ausgeben kann, ohne Arabisch zu können. Ich hätte auch nichts gegen biometrische Verfahren zur Identifikation der Einreisenden. Und darüber hinaus muss man Flüchtlinge wirklich integrieren und ihnen eine Lebensperspektive bieten. Das ist für die Flüchtlinge wichtig, aber auch für die deutsche Gesellschaft: Eine Minderheit von marginalisierten Fremden können wir uns einfach nicht leisten. Natürlich können wir das schaffen, aber das erfordert große Anstrengungen.
Das Gespräch führte Bernd Ludermann.
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