Ehrenamt und freiwillige Tätigkeit haben wieder Konjunktur – nicht nur in den westlichen Industrienationen, wo sie schon seit einem guten Vierteljahrhundert im Zusammenhang mit der Debatte über die Zivilgesellschaft diskutiert werden. Auch entwicklungspolitisch wächst ihre Bedeutung. In der Agenda 2030 der Vereinten Nationen wird freiwillige Tätigkeit als ein übergreifender Mechanismus anerkannt, der zur Verwirklichung der Globalen Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals) beitragen kann. Das Potenzial ist groß: Das Freiwilligenprogramm der Vereinten Nationen (UN Volunteers) schätzt die Zahl der freiwillig tätigen Menschen auf mehr als eine Milliarde.
Wer zählt als Freiwilliger? Das ist weniger eindeutig zu bestimmen als gemeinhin angenommen. Anhand von vier Kriterien kann man verschiedene Arten solcher Tätigkeiten unterscheiden. Das erste ist der Grad der Freiwilligkeit: Er kann von völliger Selbstbestimmung über empfundene soziale Verpflichtungen bis hin zu erzwungenem Engagement reichen. Zweitens spielt die Art der Belohnung eine Rolle. In manchen Fällen sind das rein immaterielle Anreize wie der Stärkung des Selbstwertgefühls, in anderen werden zumindest die Spesen erstattet oder eine allgemeine Aufwandsentschädigung gezahlt. Als drittes unterscheidet man, ob freiwillig Tätige in eine Organisation eingebunden sind oder sich informell engagieren. Das vierte Kriterium bezieht sich auf die Begünstigten: Dazu kann die Allgemeinheit gehören, Freunde und die Familie, aber auch maßgeblich die Freiwilligen selbst.
Als reine Form der Freiwilligkeit gilt eine Tätigkeit, die auf altruistischer Eigeninitiative beruht, im formalen Rahmen stattfindet und generell der Allgemeinheit zugutekommt. Das gilt weltweit – darüber scheint Übereinstimmung zu herrschen. Das heißt allerdings nicht, dass diese reine Form der Freiwilligkeit auch überall die vorherrschende ist. In Russland und anderen Staaten des früheren Ostblocks ist beispielsweise Freiwilligenarbeit nicht nur vergleichsweise wenig ausgeprägt, sondern sie findet auch vorwiegend informell statt und begünstigt Familienmitglieder, den Freundeskreis oder allenfalls die Nachbarschaft. Das wird weithin als eine Spätfolge davon gewertet, dass zuvor in der Sowjetunion Menschen gezwungen wurden, sich an Aktionen der sozialistischen Massenbewegungen zu beteiligen.
Kosten und Nutzen
Entlang der vier Kriterien bewerten Freiwillige die Kosten und den Nutzen einer Tätigkeit; das beeinflusst ihre Entscheidung, ob und wo sie sich engagieren. Auf der Kostenseite fließen Überlegungen über den Zeitaufwand, die empfundene Mühe sowie alternative Verwendungsmöglichkeiten für die eigene Zeit ein. Auf der Nutzenseite stehen das Gefühl der Befriedigung, die daraus entsteht, Gutes getan zu haben, sowie der Gewinn an sozialem Ansehen, an beruflichen Erfahrungen oder an Kontakten. Dies sind zumindest ein Teil der Faktoren, die zu freiwilliger Tätigkeit motivieren.
Es gibt mehrere Erklärungen dafür, was Menschen zu freiwilliger Arbeit bewegt. Manchmal entsteht das Bedürfnis spontan – zum Beispiel nach Naturkatastrophen. Einer der Hauptgründe ist aber schlicht, dass man gefragt wird. Dies setzt eine gewisse Mobilisierungs- und Rekrutierungsfähigkeit von gemeinnützigen Einrichtungen voraus.
Weiter hängt die Bereitschaft zu freiwilligen Engagement stark von persönlichen Charakteristika ab. International vergleichende Studien heben hier vor allem das Bildungsniveau hervor: Je höher der Bildungsstand, desto größer die Bereitschaft zu ehrenamtlicher Tätigkeit. Auch ein höherer sozio-ökonomischer Status sowie die Beteiligung am sozialen Leben insgesamt fördern Freiwilligkeit. Berufstätige sind eher freiwillig engagiert als nicht Berufstätige, was sich auf pragmatische Motive zurückführen lässt, aber auch auf das Alter: Ältere Menschen sind weniger ehrenamtlich engagiert als Menschen, die noch voll im Berufsleben stehen. Durchgängig sind Menschen, die regelmäßig eine Religion ausüben, deutlich mehr geneigt, freiwillig tätig zu sein. Vor allem in westlichen Gesellschaften stellen Frauen eine Mehrzahl der Freiwilligen; in Kulturen, in denen eher konservative Werte vorherrschen, sind es dagegen Männer. Natürlich spielen auch eine altruistische Grundeinstellung sowie soziale und karrierebezogene Bedürfnisse eine Rolle.
Ungeklärt ist allerdings, inwieweit man Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern bei Ehrenamt und freiwilliger Tätigkeit mit einer Kombination dieser vier Faktoren erklären kann – oder ob andere Einflüsse wie Kultur, das Gesellschafts- und Regierungssystem oder der Wohlstand und die Ausprägung des Sozialstaates eine Rolle spielen. Gerade für den globalen Süden ist Freiwilligkeit noch wenig erforscht. Deshalb muss man sich fragen, inwieweit die bisherigen Erkenntnisse sich über westliche Industrienationen hinaus verallgemeinern lassen.
Karriereförderliche Erfahrungen
Fallstudien legen nahe, dass die Motive für ehrenamtlichen Einsatz weltweit ähnliche Muster aufweisen. Besonders deutlich ist, dass Freiwilligkeit häufig eher als pragmatisch selbstinteressiert denn als rein altruistisch eingestuft werden muss. Dies gilt besonders, aber nicht nur, für freiwilliges Nord-Süd-Engagement. Eine Befragung unter amerikanischen Studenten, die 2011 an einer medizinischen Mission in Mexiko teilnahmen, ergab, dass die Mehrzahl dies als Bereicherung ihres Lebenslaufes und als Pluspunkt für Bewerbungen um weiterführende Studiengänge ansah.
Frühere chinesische freiwillige Helfer bei den Olympischen Spielen in Peking haben berichtet, dass sich die dabei gesammelten Erfahrungen im Nachhinein als karrierefördernd erwiesen. Und bei einem Einsatz in der Malariabekämpfung in Nigeria erhofften sich die einheimischen Freiwilligen unter anderem auch finanzielle Vorteile und Aussichten auf bezahlte Beschäftigung; dies wog ihre Vorbehalte gegenüber freiwilliger Tätigkeit auf, die auf Einkommensverlusten und Beeinträchtigungen des Familienlebens beruhten.
Die Forschung geht übereinstimmend davon aus, dass Freiwilligkeit ein universelles Phänomen ist und die Motive dafür – mit Abstufungen – global ähnlich sind. Oft heißt es aber auch, dass es erhebliche Unterschiede zwischen dem globalen Süden und dem Norden gibt. Das kann zumindest teilweise daran liegen, dass fast alle empirischen Studien aus westlichen Industrienationen stammen und sich vorwiegend auf Freiwilligenarbeit beziehen, die von gemeinnützigen Organisationen vermittelt wird. Im Norden gibt es deutlich mehr dieser Organisationen als im globalen Süden; deshalb liegt der Schluss nahe, dass sich dort auch mehr Menschen ehrenamtlich betätigen.
Eine Forschergruppe im Center for Civil Society Studies an der Johns Hopkins University in Baltimore untersucht seit einigen Jahren freiwillige Arbeit in globaler Perspektive. Laut einer Studie aus dem Jahr 2001, die 24 Ländern betrachtet, wird der Großteil der freiwilligen Arbeit in sozialen Diensten (31 Prozent) und im Kultur-, Sport- und Erholungsbereich (27 Prozent) geleistet. Der Rest verteilt sich auf eine Reihe anderer Betätigungsfelder, unter denen das Gesundheitswesen, Stadt- und Wirtschaftsentwicklung sowie der Bildungsbereich mit je sieben bis acht Prozent hervorstechen.
Auffällige Unterschiede
Allerdings muss betont werden, dass unter den 24 berücksichtigten Ländern überproportional viele Industrienationen sind. Und es gibt auffällige Unterschiede zwischen einzelnen Ländern und Regionen. Zum Beispiel findet sich in Lateinamerika kaum ehrenamtliche Tätigkeit im Erholungsbereich, in Ost- und Westeuropa ist dieser Bereich dagegen sehr stark vertreten. In Schweden, einem Wohlfahrtsstaat, arbeiten nur acht Prozent aller Freiwilligen in sozialen Diensten, in Peru dagegen fast alle – hier werden Freiwillige kaum für andere Arbeitsfelder mobilisiert. In Belgien und Israel findet man kaum ehrenamtliche Tätigkeit im Bildungsbereich, in Brasilien arbeitet dort ein Fünftel aller Freiwilligen.
Daten aus neueren Untersuchungen derselben Gruppe zeigen auch große Unterschiede beim Ausmaß der von Organisationen vermittelten Freiwilligenarbeit. Wird sie in Vollzeitarbeitsplätze umgerechnet, dann ergibt sich: In Schweden wären sieben Prozent der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter damit beschäftigt, in Portugal und Spanien nur 1,3 beziehungsweise 1,5 Prozent. Der Durchschnitt liegt im globalen Norden bei 3,7 Prozent. Argentinien und Chile reichen fast an das europäische Niveau heran, das Mittel liegt in Lateinamerika mit 1,4 Prozent aber deutlich darunter. In Asien, Afrika und dem Nahen Osten ist der Durchschnitt noch etwas niedriger. Vergleichsweise weit abgeschlagen liegen Russland und Osteuropa: Hier wären mit der freiwillig geleisteten Arbeit nicht mehr als 0,3 Prozent der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter in Vollzeit beschäftigt.
Eine naheliegende Interpretation lautet: Das Ausmaß ehrenamtlicher Tätigkeit hängt stark davon ab, wo es eine starke Infrastruktur von gemeinnützigen Einrichtungen gibt; die ist besonders im industriellen Norden zu finden. Allerdings kann man dagegen einwenden, dass im globalen Süden eher informelle Hilfsleistungen freiwillig erbracht werden, die nicht von Organisationen mobilisiert werden und der Familie, dem Freundeskreis und der Kommune zugutekommen. Um sie ansatzweise zu erfassen, hat das Hopkins Center Hochrechnungen vorgenommen. Sie schätzen die von Freiwilligen geleistete Arbeit weltweit auf ein Volumen von rund 126 Millionen Vollzeit-Arbeitsplätzen. Da viele Freiwillige nur sporadisch oder für kurze Zeiträume tätig sind, ist das durchaus vereinbar mit der Schätzung von UN Volunteers, wonach etwa eine Milliarde Menschen ehrenamtlich tätig sind. Aber von der vom Hopkins Center errechneten Arbeitsleistung entfällt nur etwas über ein Viertel auf von Organisationen vermittelte Freiwillige – der größte Teil sind informelle Tätigkeiten.
Wie ändert sich das Bild, wenn informelle Hilfsleistungen berücksichtigt werden? In Ländern mit geringen und niedrigen mittleren Pro-Kopf-Einkommen wird dann viermal so viel freiwillige Arbeit geleistet; etwa 2,8 Prozent der Bevölkerung im Erwerbsalter wären in Vollzeit damit beschäftigt. In Ländern mit höheren mittleren Einkommen ist der Anstieg allerdings noch größer: Der Anteil versechsfacht sich auf etwa sechs Prozent. Und in Ländern mit hohen Pro-Kopf-Einkommen verdreifacht er sich auf rund 8,6 Prozent. Diese Hochrechnungen müssen mit Vorsicht betrachtet werden, aber sie legen nahe: Das Nord-Süd-Gefälle beim freiwilligen Engagement verringert sich zumindest nicht, wenn man informelle Tätigkeiten einbezieht.
Menschen im Süden haben deutlich weniger Freizeit
Wie ist das zu erklären? Zum einen müssen Menschen im globalen Süden erheblich mehr Zeit aufwenden als im Norden, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Sie haben auch längere Anfahrtswege zur Arbeit und müssen länger auf Dienstleistungen warten. Ihnen steht für ehrenamtliche Tätigkeit deutlich weniger Freizeit zur Verfügung als den Menschen im Norden. Zum anderen beeinflusst das Bildungsniveau nicht nur die individuelle Neigung zum freiwilligen Einsatz, sondern auch die sozialen Voraussetzungen dafür: Ein hoher Bildungsstand fördert die Organisationsfähigkeit in der Gesellschaft. So lässt sich vielleicht verstehen, warum viel mehr informelle freiwillige Arbeit in Ländern mit höheren mittleren Pro-Kopf-Einkommen geleistet wird als in Ländern mit niedrigeren mittleren Einkommen – höhere Einkommen und ein besseres Bildungsniveau gehen ja miteinander einher.
Autor
Stefan Toepler
lehrt Nonprofit und NGO Management im Fachbereich Verwaltungswissenschaften der Schar School of Policy and Government an der George Mason Universität, Virginia, USA. Von 2014 bis 2016 war er an einem Forschungsprojekt über Zivilgesellschaft in Russland an der Moskauer Higher School of Economics tätig.In einigen dieser Staaten lässt sich zugleich allerdings ein gegenläufiger Trend feststellen: Die Repression richtet sich vor allem gegen NGOs, die als Anwälte für Menschenrechte oder Umweltschutz tätig sind; mehr sozial als politisch engagierte Organisationen werden davon weitgehend ausgenommen. Teils werden sie sogar in das System der Sozialdienstleistungen eingebunden und gefördert. Ein Beispiel ist Russland. Moskau hat schon früh versucht, die politische Zivilgesellschaft einzuschränken, und die Restriktionen über die vergangenen zehn Jahre ausgebaut. Seit 2010 jedoch wurden auch Förderprogramme für sogenannte sozial orientierte NPOs aufgelegt und die rechtlichen Rahmenbedingungen für Wohltätigkeit und freiwillige Tätigkeiten verbessert.
Freiwillige Arbeit ist selten politisch brisant oder akut regimegefährdend. Autoritäre Regime halten es für notwendig, soziale Organisationen und freiwillige Vereinigungen in die Bereitstellung öffentlicher Güter einzubeziehen, um die Versorgung zu verbessern und die Bevölkerung zufrieden zu stellen. Deshalb wird freiwilliges Engagement auch in einem zunehmend autoritär geprägten Zeitalter weder großen Einschränkungen unterliegen noch an entwicklungspolitischer Bedeutung verlieren.
ZUM WEITERLESEN
Helmut Anheier, Stefan Toepler (Hg.), International Encyclopedia of Civil Society; Springer-Verlag, Heidelberg/New York 2010.
Jacqueline Butcher, Christopher Einolf (Hg.), Perspectives on Volunteering: Voices from the South; Springer-Verlag, Heidelberg/New York 2017.
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