Wenn Antennen den Regen vertreiben

Frühwarnsystem in Peru
Mit Sensoren und Kameras wollten Schweizer Gletscherforscher ein Dorf in den Anden vor gefährlichen Schlamm­lawinen warnen. Sie hatten nicht bedacht, wovor sich die Einwohner am meisten fürchten.

Zunehmend grau und immer weniger weiß sind die imposanten 5000er und 6000er Gipfel in der Cordillera Blanca, der weißen Kordillere, in Peru. Die Erderwärmung lässt die Gletscher rapide abschmelzen, der Wasserhaushalt in den Tälern kommt durcheinander. Das Gletscherwasser kann gefährlich werden: Es lässt neue Bergseen entstehen; Fels- oder Eisstürze bringen diese zum Überlaufen und können Schlammlawinen auslösen.

Das geschah im peruanischen Carhuaz am 12. April 2010. „Ich war mit meiner Mutter beim Frühstück, als ich auf einmal ein Geräusch hörte, als ob ein Flugzeug abstürzen würde“, erinnert sich der Bauer Maurino León aus dem Dorf Obrajes wenige Kilometer vor Carhuaz. „Als ich rauslief, sah ich, wie herunterstürzende braune Wassermassen Bäume ausrissen, Fische tot in die Luft warfen.“

Oben am Gletscher Hualcán auf 6100 Meter Höhe war ein Eisbrocken in den Gletschersee mit der Nummer 513 gefallen und hatte die Schlammlawine ausgelöst. Deren Wucht lässt sich heute noch am Ortsausgang von Carhuaz erahnen: Da liegen metergroße Steine, die die Schlammfluten herangeschwemmt hatten, als ob es Kieselsteine wären. Damals gab es Gott sei Dank keine Todesopfer, es war Sonntag Vormittag, die meisten Leute waren auf dem Markt. Wenn die Lawine nachts gekommen wäre, meint Maurino León, wäre Carhuaz nicht so glimpflich weggekommen.

Gefahrenmeldung in Echtzeit

Die Gefahr von Schlammlawinen steigt, je mehr die Gletscher abschmelzen. Die Forscher der Universität Zürich hatten deshalb eine gute Idee, um dieses Risiko für die Bewohner von Carhuaz zu mindern: Ein Frühwarnsystem am Gletschersee meldet in Echtzeit in die Stadt Carhuaz hinunter, wenn sich oben Verdächtiges tut. Damit hätten die Betroffenen 30 Minuten Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen.

Die Universität Zürich startete zusammen mit der peruanischen Ausführungsorganisation CARE im November 2011 das Projekt „Glaciares“ in Peru. Finanziert wurde es von der Schweizer Direktion für Entwicklungszusammenarbeit (DEZA). In drei Regionen werden seitdem die wissenschaftlichen Kenntnisse der Gletscherforschung der ländlichen Bevölkerung näher gebracht und zum Schutz vor den Risiken des Klimawandels angewendet.

Das Projekt begann in Carhuaz, wo anderthalb Jahre zuvor die Schlammlawine heruntergekommen war. 2013 und 2014 installierten die Geographen der Uni Zürich Sensoren, Videokameras und Solarpanels an der Lagune Nr. 513 und der darunterliegenden Hochebene Pampa Shonguill; dort wird das Trinkwasser für die Gemeinde Carhuaz gewonnen. CARE machte Aufklärungsarbeit in den Gemeinden und bildete die Verantwortlichen im Rathaus in der Bedienung des Frühwarnsystems aus. Sobald ein Eisbrocken in die Lagune fällt, melden Audio-Sensoren dies an die Zivilschutzstelle im Rathaus; mittels Videokameras kann man das Geschehen am Berg unten am PC verfolgen und die Anwohner rechtzeitig warnen.

Der verantwortliche Glaziologe Christian Huggel von der Universität Zürich betont, das Frühwarnsystem sei ein Pilotprojekt in Lateinamerika. Zunächst schien alles perfekt zu laufen: Im Juli 2015 übergab die DEZA in einer feierlichen Zeremonie die Verantwortung für das Frühwarnsystem an die Gemeinde Carhuaz. Dort amtierte seit sechs Monaten ein neuer Bürgermeister, Jesús Caballero aus dem nahen Dorf Ecash. Bereits bei der Übergabe war zu spüren, dass er nicht nur erfreut war über das Geschenk der Schweizer, das noch sein Amtsvorgänger organisiert hatte: „Ich hatte kein ausgebildetes Personal, das mir garantieren konnte, dass das System auch funktioniert“, erinnert er sich. Den von den Schweizern ausgebildeten Zivilschützer hatte Caballero, wie bei Amtswechseln in Peru üblich, zusammen mit dem übrigen Personal ausgewechselt. Für sich selbst konnte der neue Bürgermeister aus dem Geschenk keine politischen Lorbeeren gewinnen.

Spätestens im April 2016 konnte niemand leugnen, dass das SAT genannte Frühwarnsystem bei der Bevölkerung nicht auf Gegenliebe stieß: Bewohner des nahen Dorfes Hualcán stahlen die Kameras des SAT an der Lagune und in der Zwischenstation Shonguill. Die Gemeinde Carhuaz erhob zwar Klage, die Staatsanwaltschaft stellte die Untersuchung gegen unbekannt jedoch schließlich ein.

Konnte dieser Vorfall noch als kriminelle Tat einiger weniger abgetan werden, so wurde die Abneigung gegen das SAT ein paar Monate später offensichtlich. Trotz Schulungen und Aufklärungsveranstaltungen glaubten die Menschen in Carhuaz, dass hinter den Apparaten, die die Fremden auf den Berg gebracht hatten, etwas ganz anderes steckte: „Viele glaubten, das Frühwarnsystem würde den Regen vertreiben und das käme den Minenbetreibern, dem Kalkbergwerk und den Blumenzüchtern zugute, die profitierten, wenn es nicht regnet“, meint Maurino León, der Bauer aus Obrajes.

Das Misstrauen in den Dörfern gegen Leute von außen, zumal weiße Europäer, ist groß. „Wenn die etwas bringen, dann haben die doch ein Eigeninteresse“, gibt der Bauer Artemio Giraldo die Stimmung der Leute wieder. Dass das Frühwarnsystem ihr eigenes Leben retten könnte, geriet dabei in den Hintergrund.

Die schlimmste Befürchtung wurde wahr

Das Team der Gletscherforscher von der Universität Zürich brachte Fachleute verschiedenster Disziplinen zusammen. Der Soziologe Luis Vicuña koordinierte die soziale Komponente des Projektes. Bei seinen Interviews mit Anwohnern nach der Installation der Apparate war ihm bereits aufgefallen, dass nicht eine mögliche Schlammlawine den Bauern den Schlaf raubte, sondern etwas ganz anderes: „Die Leute hatten Angst, dass ihnen das Wasser fehlte für ihre Felder“, sagt Vicunha.

Artemio Giraldo beschreibt drastisch, wie wichtig der Regen für ihn ist: „Wenn wir nicht ernten, was sollen wir dann essen? Was können wir auf dem Markt verkaufen?“ Wie alle Bauern hier hat er weniger als einen Hektar Land, auf dem er Mais, Kartoffeln, Bohnen für den Selbstverbrauch anbaut. In seinem Stall züchtet er zudem Meerschweinchen, eine Delikatesse in der Region.

Und Artemio Giraldos schlimmste Befürchtung wurde im Herbst 2016 wahr: Es regnete weder im September noch im Oktober. Die Bauern konnten ihre Kartoffeln nicht aussäen. Als auch im November noch kein Regen fiel, machte die Mär die Runde in den Dörfern: Die fremden Apparate sind schuld, sie vertreiben den Regen.

Ähnliche Gerüchte waren schon früher in den Anden aufgetaucht. Als Forscher aus den USA in den 1980er Jahren Eiskerne aus dem Gletscher holten, wurde gesagt, dass der Amerikaner das Herz des Gletschers mitgenommen habe. Und die Meteorologen des peruanischen Wetterdienstes berichten, dass mehrmals schon ihre Niederschlagsmessgeräte abgebaut wurden.

Als Ende November 2016 immer noch kein Regen fiel, machten die Bauern mobil. Sie zwangen ihren Bürgermeister Jesús Caballero, in aller Frühe zur Lagune 513 hochzugehen. Viele von ihnen kamen aus der dem Tal gegenüberliegenden Gemeinde Ecash, auf deren Gelände gar keine Apparate aufgestellt waren. Allerdings leidet Ecash besonders unter der Trockenheit, weil sie auch kein Schmelzwasser abbekommen – und es ist die Heimatgemeinde des Bürgermeisters Jesús Caballero. Die erzürnten Bauern durften auf seine Unterstützung zählen.

Der jedoch hoffte, so erzählte er im Januar 2017, dass er die Bauern vom Segen des Frühwarnsystems überzeugen könnte. Im Youtube-Video sieht man, wie er vor der Kulisse kahler Felsen in Quechua auf die im Kreis sitzenden Bauern einredet und sie von ihrem Vorhaben abbringen will. Aber gegen die Logik der Bauern kam er nicht an: „Sie wollten die Probe aufs Exempel machen, die Apparate abbauen und schauen, ob es dann regnet. Aber wie willst du in der Regenzeit, wenn es jeden Tag regnen kann, das Gegenteil beweisen?“, verteidigt sich Jesús Caballero.

Der Bürgermeister kapitulierte. An dem Morgen bauten die Bauern die Anlagen ab und brachten sie ins Tal hinunter. Wenige Tage später fiel der ersehnte Regen. Seitdem sind die Bewohner von Carhuaz weniger geschützt vor dem Risiko einer Schlammlawine. Und einige fühlen sich in ihrem Glauben bestärkt, Antennen und sonstige Apparate würden den Regen verjagen.

Die Gegenwehr hat die Experten überrascht

Für die Projektverantwortlichen ist der Abbau der technischen Komponente ihres Vorzeigeprojektes ein herber Rückschlag, auch wenn zwei weitere Frühwarnprojekte in anderen Landesteilen Perus erfolgreich weiter laufen. „Wir wussten zwar, dass es in den Dörfern Unstimmigkeiten gab, aber diese heftige Mobilisierung hat uns überrascht“, kommentiert Christian Huggel.

Luis Vicuña dagegen ist überzeugt, dass mit einer ausführlichen ethnographischen Befragung vor Projektbeginn – und nicht, wie in Carhuaz gesehen, nach abgeschlossenem Projekt – Vorkommnisse wie der Abbau der Gerätschaften vermieden werden könnten. Das koste aber Zeit und Geld. Zumindest beim jetzt anstehenden Projekt im Cañete-Tal soll nun die soziale Analyse vor dem Einsatz der Technik stattfinden.

Autorin

Hildegard Willer

ist freie Journalistin und lebt in Lima (Peru).
Der Vorfall in Carhuaz hat im Team des Gletscherprojektes eine Diskussion in Gang gesetzt, wie man lokales Wissen besser verstehen und eigene wissenschaftliche Kenntnisse besser vermitteln kann. Waren die Bauern von Carhuaz einfach nur abergläubisch oder verbigt sich dahinter eine eigene, andine Rationalität? Oder waren lokalpolitische Faktoren ausschlaggebend, dass aus dem Glauben eine politische Bewegung wurde?

Martin Jaggi sitzt in Lima und verantwortet das Gletscherprojekt für die DEZA. Auch bei der DEZA hätten sie den Vorfall eingehend diskutiert. Die Zusammenarbeit mit der Gemeinde Carhuaz habe man eingestellt. „Vor allem tut es uns leid, dass die Bevölkerung nun weniger gut geschützt ist“, sagt Jaggi. Und auch wenn der finanzielle Schaden von rund 50.000 Franken beträchtlich sei, so sei doch wichtiger, welche Lehren man aus dem Vorfall ziehen kann: „Wir müssen sicherlich, zusammen mit unseren Partnern, die Analyse des lokalen und politischen Kontexts verfeinern“, sagt er.

Das Scheitern des Frühwarnsystems in Carhuaz kann einen Ausblick geben auf das, was noch kommen wird. Extreme Wetterlagen als Folge des Klimawandels werden vermehrt soziale und politische Konflikte schüren. Für die Entwicklungszusammenarbeit ebenso wie für die Wissenschaft sollte das ein Ansporn sein, sehr genau hinzuschauen, was die Menschen vor Ort bewegt und wie sie ihre Umwelt deuten.

Permalink

... war es wohl nicht gerade, was sich die DEZA da erlaubt hat. Dennoch: Interkulturelle Kompetenz und die Beteiligung der Betroffenen wäre unabdingbar für den Erfolg des Projektes gewesen.

*Begriff in der EZA für Projekte, welche entweder keinen Nutzen für die Betroffenen haben oder sogar massive soziale oder ökologische Schäden verursachen.

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erschienen in Ausgabe 4 / 2017: Die Versuchung des Populismus
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