Die Macht der frommen Männer

Senegal
Islamische Bruderschaften und ihre Führer üben im Senegal großen Einfluss aus. Doch die Nähe zur Politik hat auch ihre Schattenseiten.

Eine Alltagsszene in Dakar: Ein Auto hält an, die Seitenscheibe fährt herunter, kleine Jungs strecken eine Blechdose der offenen Scheibe entgegen. Zuerst müssen sie eine Sure des Korans aufsagen, dann fallen ein paar Münzen in die Dose, das Auto fährt weiter. Allein in Senegals Hauptstadt soll es ungefähr 30.000 bettelnde Kinder geben – dabei ist das Betteln seit 2005 gesetzlich verboten.

Senegal ist mit seinen knapp 15 Millionen-Einwohnern ein armes Land mit hoher Geburtenrate. Im Durchschnitt bekommen Frauen fünf Kinder. Die Mehrheit der Bevölkerung arbeitet in den Städten im informellen Sektor – als Fahrer eines Eselkarrens, ambulanter Kaffee- oder Handykarten-Verkäufer, Taxifahrer, Wächter, Putzfrau oder Handwerker. Sie verdienen meist nur das Nötigste für sich und ihre Familie. Im kleinen formellen Sektor ist es oft nicht besser. Der staatlich festgelegte Mindestlohn liegt bei 47.700 CFA-Francs (rund 91 Euro) monatlich. Auf dem Land wird meist für den Eigenverbrauch geackert; ein wenig Geld kommt dazu, wenn der überschüssige Ertrag verkauft wird.

Die bettelnden Jungen, oft nur vier, fünf Jahre alt, machen die Armut im Land sichtbar. Sie sind aber zugleich Ausdruck einer religiös begründeten Praxis, die zunehmend in die Kritik gerät: Sie sind Schüler eines Marabouts, eines religiösen muslimischen Führers. 94 Prozent der Senegalesen sind Muslime. Die große Mehrheit gehört einer Sufi-Bruderschaft an; die Mouriden und die Tidjane sind die beiden größten. Jede wird von einem Generalkalifen geführt, dem Chef der Marabouts. Und jeder Marabout hat eine Gefolgschaft von Talibés – Schüler, die ihm als Erwachsene Treue geschworen haben. Nicht jedes Mitglied einer Bruderschaft hat allerdings einen Marabout.

Es gehe im Verhältnis zwischen ihnen um einen symbolischen und einen materiellen Austausch, sagt der Historiker Mamadou Diouf. Der Talibé unterwerfe sich dem Marabout. Er arbeite für ihn, entrichte regelmäßig Geld an ihn oder arbeite für ihn auf dessen Feldern. Im Gegenzug kann er sich an den Marabout wenden, wenn er ein Problem hat. „Wenn sein Sohn krank ist und ins Krankenhaus muss, kommt der Marabout dafür auf.“

Die tiefe Religiosität im Land zeigt sich nicht nur im Gebetsruf des Muezzins von den unzähligen Moscheen. Es gibt kaum ein Taxi ohne Bild eines Gründers der Bruderschaften oder ohne einen religiösen Spruch. Studenten erinnern sich vor ihren Prüfungen zitternd an die Baraka, den Segen, den ihr Marabout für sie gesprochen hat. Am Abend versammeln sich junge Männer, um Gedichte ihrer großen Führer zu singen.

Die Bindung an einen Marabout beginnt in der Kindheit. Obwohl Kinder im Senegal die Schule bis zum 16. Lebensjahr besuchen müssen, tun das laut dem UN-Kinderhilfswerk Unicef rund 600.000 Mädchen und Jungen nicht. Viele gehen dafür auf eine Koranschule, eine Daara. Die Eltern vertrauen ihr Kind einen Marabout an, der für seine religiöse Ausbildung sorgt. Die Kinder leben bei ihm und der Kontakt mit der Familie wird sehr sporadisch. Oft können die Eltern den Marabout nicht bezahlen. Auf dem Land arbeiten die Kinder deshalb auf seinen Feldern. In den Städten gehen die Jungen betteln, während die Mädchen mit Hausarbeiten beschäftigt werden.

 Eltern vertrauen ihre Kinder einem Marabout an

Nichtstaatliche Organisationen, darunter die Initiative „Stop à la mendicité“ (Stopp dem Betteln), versuchen die Leute davon zu überzeugen, solchen Kindern kein Geld zu spenden, das der Marabout ihnen abnehmen kann, sondern nur etwas zum Essen oder Kleider. Senegals Präsident Macky Sall hat im vergangenen Juni ein hartes Durchgreifen gegen die bettelnden Kinder angekündigt. Das hatte bereits sein Vorgänger Abdoulaye Wade getan – mit demselben Ergebnis: Die Talibé-Kinder sind noch immer auf den Straßen unterwegs, statt eine Schule zu besuchen.

Zum einen hat der Staat zu wenig Geld und Personal, um die Kinder zu versorgen und zu den Eltern zurückzuschicken. Zum anderen stößt er auf erbitterten Widerstand der Marabouts. Selbst bei Misshandlungen knicken die Behörden ein. Vor einem Jahr kam ein junger Mann in eine Polizeistation der Stadt Diourbel im Zentrum des Landes. Er hatte sich aus einer Daara befreit, wo er mit 18 anderen Jungen angekettet gewesen war. Der Marabout, ein alter Mann, wurde festgenommen. Ein paar Tage später versammelte sich eine Menge vor dem Kommissariat, darunter viele angesehene Bürger der Stadt, und forderte, er solle freigelassen werden. Und er kam frei.

Woher kommt die Macht der Marabouts? Die Beziehungen zwischen den Sufi-Bruderschaften und der Politik sind sehr eng, erklärt der Historiker Diouf. In der Kolonialzeit habe sich ein hierarchisches System innerhalb der Bruderschaften etabliert mit dem Kalifen an der Spitze, der die Grenzen seines Gebiets – damals hatte jede Bruderschaft ein eigenes Territorium – und seine Gefolgschaft überwachte. „Er hatte die absolute Kontrolle über seine Anhänger und die Ressourcen seiner Bruderschaft und hatte deshalb Verhandlungsmacht gegenüber den französischen Kolonialherren“, sagt Diouf. Der Kalif habe für die Franzosen die Steuern eingetrieben und sie dafür aus den Angelegenheiten der Bruderschaft ferngehalten. Das stützte die Herrschaft der Franzosen und zugleich die Macht der Kalifen in ihren Territorien. Das habe zu einem politischen System geführt, „das bis heute stabil ist“; mit der Unabhängigkeit des Landes 1960 habe sich daran nichts geändert, sagt Diouf.

Zum System gehört, dass der Staat Streitfragen mit muslimischen Führern aushandelt. So lehnte der erste Präsident des Senegal, Léopold Sedar Senghor, das Ansinnen der Marabouts ab, dem Land eine islamische Verfassung zu geben; sie sieht vielmehr die Trennung von Staat und Religion vor. Dafür behielten die Bruderschaften die Sonderrechte für ihre heiligen Städte: Die Tidjane verwalten selbst Tivaouane und die Mouriden Touba. Die Einwohner der beiden Städte zahlen nur lokale Steuern, keine nationalen.

Lange waren Bruderschaften praktisch die Zivilgesellschaft, erklärt Diouf. Sie zeigten der Politik Grenzen auf und vermittelten in Konflikten zwischen dem Staat und seinen Bürgern – etwa im Streik der Lehrer im vergangenen Jahr. Diouf schildert ein weiteres Beispiel: „Ein Müllentsorgungsunternehmen ging bankrott und die Arbeiter erhielten über Jahre keinen Lohn. Es kam zu Gewaltausbrüchen. Ein Marabout mischte sich ein und bezahlte eine Abfindung für die Arbeiter aus seiner Tasche.“

In den Städten wächst die Kritik

Um auf diese Weise eingreifen zu können, sind Marabouts auf Geld angewiesen – sie müssen Geschäfte machen. Und das tun sie. Touba ist die zweitgrößte Stadt des Senegal und das Zentrum der informellen Wirtschaft, zu der auch der illegale Handel mit geschmuggelten Medikamenten zählt. Sie sind frei erhältlich auf dem Sandaga-Markt im Zentrum Dakars, der in der Hand der Mouriden ist. Der Staat warnt vor solchen Arzneimitteln, das Geschäft wird aber toleriert. Ab und zu beschlagnahmt die Polizei Medikamente, aber dann passiert nichts mehr.

Bis Ende der 1990er sprach jede Bruderschaft zudem bei Wahlen eine direkte Empfehlung für einen Kandidaten aus – in der Regel alle dieselbe. Das tun sie nicht mehr offen, denn Politik und Gesellschaft haben sich demokratisiert. „Inzwischen ist eine richtige Zivilgesellschaft entstanden“, sagt der senegalesische Politik- und Islamwissenschaftler Bakary Sambe, darunter soziale Bewegungen oder Initiativen. Sie brächten die Leute dazu, selbst nachzudenken.

in den Städten wächst die Kritik an den Marabouts, sie gelten als geldgierig. Einer der Kritiker ist Fadel Barro, der 2011 die Protest- und Demokratiebewegung „Y’en a marre“ („Es reicht“) gegründet hat. Die Marabouts nähmen ihre Rolle als Schützer der Bevölkerung gegen den Staat nicht mehr wahr, sondern hätten sich korrumpieren lassen. „Y’en a marre“ hat dazu beigetragen, dass 2012 der von den Mouriden stark unterstütze Abdoulaye Wade als Staatspräsident abgewählt wurde. Der Wahlsieger Macky Sall wagte kurz nach seinem Amtsantritt zu sagen: „Die Marabouts sind normale Bürger.“ Doch er musste zurückrudern: „Heute macht er, was auch seine Vorgänger getan haben“, sagt Bakary Sambe. Er ist selbst Tidjane und warnt, die Bruderschaften dürften nicht zu nahe an der Politik sein: „Die ist bei den Jugendlichen total diskreditiert.“

Doch Fadel Barro sieht auch einen vielversprechenden Wandel: Insbesondere in Touba gebe es junge Marabouts, die etwas ändern wollten. Zu ihnen zählt Serigne Abdoul Aziz Mbacké. Er ist religiöser Führer und Nachfahre von Amadou Bamba, dem Gründer der Bruderschaft der Mouriden. Zwar unterstützt er die Rolle der Marabouts in der Politik: Sie seien die Verbindung zwischen Bevölkerung und dem Staat, und die Stabilität der Gesellschaft müsse bewahrt werden, vor allem angesichts des islamistischen Terrorismus. Die Werte der Mouriden, sich für die Gemeinschaft einzusetzen und nicht zu bereichern, seien jedoch verlorengegangen, räumt er ein.

Autorin

Odile Jolys

ist freie Journalistin in Dakar, Senegal, und berichtet aus Westafrika, unter anderem für den Evangelischen Pressedienst und „Neues Deutschland“.
Marabouts, die Kinder misshandelten, seien schwarze Schafe. Am System der Daraas will Aziz Mbacké trotzdem festhalten. „Der Staat gibt Millionen für die öffentlichen Schulen aus. Aber niemals hat er etwas für die Daaras gegeben. Was sollen die Marabouts machen? Für die meisten ist der Koranunterricht eine heilige Berufung“, sagt er.

Aziz Mbacké ist dabei, eine Spendenorganisation auf die Beine zu stellen, um den Talibé-Kindern das Betteln zu ersparen. „Das alte System funktioniert nicht mehr“, räumt er ein. „Aber wir akzeptieren nicht alles, was aus dem Ausland kommt. Wir sind anspruchsvoll im Blick auf moralische Werte.“ Die Lösungen für soziale Probleme seien innerhalb der Kultur, also im Islam der Sufi-Bruderschaften zu finden. Über die Modernisierung der Daaras gibt es Gespräche mit dem Staat, aber das Misstrauen in dessen Absichten ist groß.

Der Historiker Mamadou Diouf erinnert daran, dass die Kritik an den Marabouts nicht neu ist. Trotzdem hofft er auf Bewegungen wie „Y’en a marre“. Sie sollten Druck auf die Politik machen, damit korrupten Praktiken ein Ende gesetzt wird. Die Marabouts würden sich dann „schon anpassen“, meint er.

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erschienen in Ausgabe 3 / 2017: Indigene Völker: Eingeboren und ausgegrenzt
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