Artikel 230 – wie lange noch?“ steht in schwarzer, ein wenig krakeliger Schrift auf buntem Untergrund, auf Französisch und Arabisch. Mit derlei Plakaten in den Farben des Regenbogens lassen sich prominente tunesische Schauspieler seit Anfang des Jahres demonstrativ ablichten, um sich mit der Organisation Mawjoudin („Wir sind da“) solidarisch zu erklären. Die kämpft für die Rechte jener, die Gleichgeschlechtliche lieben. Und fordert die Abschaffung des Paragrafen 230 im tunesischen Strafgesetzbuch, der homosexuelle Handlungen mit bis zu drei Jahren Haft belegt.
Seit dem vergangenen Jahr wühlt die Frage nach den Rechten sexueller Minderheiten die tunesische Gesellschaft mehr und mehr auf. Tastend sucht das Land in der Debatte seinen eigenen Weg in die Zukunft und wirft dabei immer neue Fragen auf. Dabei verlaufen die Fronten nicht immer nach den erwarteten Mustern. Wer sich säkular gibt, ist nicht unbedingt für die Rechte Homosexueller. Umgekehrt sind islamische Kräfte in dieser Frage nicht generell abwehrend.
Bis zum Sturz des Diktators Ben Ali im Jahr 2011 war das Thema weithin tabu. Erst danach haben sich mehrere Organisationen gegründet, die sich die Rechte Homosexueller auf die Fahnen geschrieben haben – zunächst die Initiative Damj („Inklusion“), die gegen Ausgrenzung und Stigmatisierung jeder Art kämpft, und 2014 auch Mawjoudin. Beide Organisationen traten zunächst eher zurückhaltend auf.
Wirklich Fahrt aufgenommen hat die Debatte erst nach der Gründung von Shams („Sonne“) im Mai 2015. Die Organisation tritt ganz ausdrücklich mit dem Ansinnen an, Homosexualität in Tunesien zu entkriminalisieren. Das hat es in dieser Schärfe in dem nordafrikanischen Land noch nicht gegeben.
Ein Vermächtnis des Kolonialismus
Das Verbot homosexueller Handlungen stammt noch aus der Kolonialzeit: Der Artikel 230 wurde im Jahr 1913 von der französischen Protektoratsverwaltung erlassen. Der tunesische Journalist und Soziologe Farhat Othman sieht das Verbot denn auch als ein Vermächtnis des Kolonialismus. Was viele heute für das Ergebnis eines rigiden Islam hielten, sei in Wahrheit dem kolonialen christlichen Erbe zu verdanken.
In der Praxis wird das Gesetz angewendet. Amnesty International berichtet, in Tunesien gebe es jedes Jahr rund 60 Festnahmen auf der Basis von Artikel 230. Wie viele der Festgenommenen tatsächlich zu Haftstrafen verurteilt werden, kann die Menschenrechtsorganisation nicht sagen. In der Gesellschaft sind gleichgeschlechtliche Beziehungen nach wie vor ein Tabu. Schwule müssen mit Unverständnis bis hin zu vereinzelten Übergriffen rechnen.
Eigentlich dürfte das nicht mehr so sein. Denn Anfang 2014 trat nach zähem Ringen zwischen säkularen und islamischen Kräften in Tunesien eine neue Verfassung in Kraft, die die individuellen Freiheitsrechte aller Bürger bekräftigt und als vorbildlich für die gesamte Region gilt. Artikel 23 und 24 betonen, dass der Staat das Privatleben seiner Bürger respektieren und ihre körperliche Unversehrtheit garantieren muss. Theoretisch also hat sich der Staat nicht um die sexuelle Orientierung seiner Bürger zu kümmern. Tatsächlich aber sind im Strafgesetzbuch homosexuelle Handlungen immer noch verboten.
Medienkampagne gegen Aktivisten
„Dieser Artikel muss weg“, fordert deshalb Yadh Krendel, der Gründer und Vorsitzende von Shams. Der eher schüchterne 28-Jährige, der im Hauptberuf Ingenieur ist, war selbst erstaunt über die Resonanz auf seine Initiative. Krendel hatte sein Anliegen zunächst auf Facebook präsentiert. „Ich habe dann so viel Zuspruch bekommen“, erzählt er, „dass ich den Schritt gewagt und eine eigene Organisation gegründet habe.“ Heute besteht Shams aus einem Kern von etwa zehn Aktivisten und einem größeren Kreis von Sympathisanten. Ihr Hauptziel ist es, Homosexuellen zu helfen und die Öffentlichkeit mit Diskussionsrunden und Aktionen über die Lage sexueller Minderheiten aufzuklären.
Die offizielle Registrierung von Shams war ein harter Kampf, doch nach langem Hin und Her bekam die Organisation im Mai 2015 die Genehmigung. Die Reaktionen auf die Gründung waren heftig. „Eine massive Medienkampagne brach über uns herein“, erinnert sich Yadh Krendel. Die Aktivisten wurden in vielen, wenn auch nicht allen Medien beschuldigt, „zur Unzucht zu ermutigen“. Homosexualität sei gegen den Islam und gegen tunesische Traditionen. Alle Mitglieder der Organisation von Shams erhielten Morddrohungen, viele bekamen Probleme mit ihren Familien. Der Großmufti verlangte die Schließung der Organisation. Dabei, so betont Krendel, verbiete der Islam die Homosexualität nicht. Aber auch er hat sich vorsichtshalber zeitweise nach Frankreich zurückgezogen und zieht die Fäden von Shams derzeit aus der Ferne. Das Hauptproblem sei, dass die Menschen einfach zu wenig über Homosexualität wüssten. Das sieht auch der Vorsitzende von Damj, Badr Baabou, so. Selbst viele Progressive könnten sich eine Entkriminalisierung der gleichgeschlechtlichen Liebe nicht vorstellen, meint er.
Das kommt nicht von ungefähr, denn öffentliche Debatten über Fragen der Sexualität und Moral sind neu für Tunesien. Zwar gilt es aufgrund seiner weitgehend modernen Rechtsprechung in Ehe- und Familienfragen als das liberalste arabische Land. So wurden zum Beispiel Scheidungen bereits 1956 legalisiert, rund 20 Jahre früher als in Frankreich, und seit 1973 ist Abtreibung bis zur zwölften Woche erlaubt. Diese Modernisierung geschah allerdings von oben. Sie war das Projekt einer französisch sprechenden Elite unter Diktator Ben Ali, die sich an Europa orientierte, aber die eigene Bevölkerung nicht mitnahm. Kontroverse Diskussionen über Fragen von Geschlechterrollen gab es nicht.
Unter der liberalen Oberfläche ist Tunesien daher konservativ geblieben. In einer Umfrage des Pew Research Center aus dem Jahr 2013 über Einstellungen zu religiösen und moralischen Fragen in der arabischen Welt ergaben sich für Tunesien im Vergleich zu anderen arabischen Länder wie etwa Ägypten auffallend konservative Einstellungen zu Ehescheidung, Abtreibung oder Sex vor der Ehe.
Yadh Krendel sagt, er habe zuallererst eine Debatte über Homosexualität anregen wollen. Das ist ihm auf jeden Fall gelungen. Bis in die höchsten Kreise des politischen Establishments wird seitdem diskutiert. Auch Rachid Ghannouchi, der Parteichef der islamischen Ennahda („Renaissance“), sah sich zu einer Äußerung gedrängt. In einem viel beachteten Interview mit dem französischen Fernsehsender France 24 signalisierte Ghannouchi im Frühjahr 2015 einen gewissen Spielraum in der Frage gleichgeschlechtlicher Beziehungen.
Zwar verstoße Homosexualität gegen islamische Gebote, meinte er damals, dennoch sei die sexuelle Orientierung Privatsache. „Was sich im Privaten abspielt, geht niemanden etwas an. Keiner hat das Recht, hier Vorschriften zu machen.“ Im Netz erntete Ghannouchi viel Spott für seine Aussage. Viele nahmen die Äußerungen des Politikers nicht ernst, weil er schließlich mit an der Regierung ist, aber keine Anstrengungen unternimmt, Artikel 230 zu streichen.
Outing nach massiven Drohungen der Polizei
Wie sich im weiteren Verlauf des Jahres zeigen sollte, ist Ghannouchis Haltung zum Thema in der Tat widersprüchlich. Denn im Herbst erhielt die öffentliche Debatte weitere Nahrung. Am 22. September wurde ein Student von einem Gericht in Sousse in erster Instanz nach Artikel 230 zu einer einjährigen Haftstrafe wegen Homosexualität verurteilt. Das Urteil gegen den jungen Mann mit dem Pseudonym Marwan hat viele Tunesier empört.
Marwan war als Zeuge in einem Mordfall vernommen worden und hatte sich nach massiven Drohungen der Polizei im Rahmen der Ermittlungen outen müssen. Danach musste er sich einem Analtest unterziehen und damit einer Methode, die laut Amnesty International unzuverlässig und erniedrigend ist. Dabei wird der Analbereich nach Spuren von Geschlechtsverkehr untersucht. Shams und andere nichtstaatliche Organisationen wie die Tunesische Menschenrechtsliga (Ligue Tunisienne pour la défense des droits de l’homme) und die Tunesische Vereinigung Demokratischer Frauen (Association Tunisienne des Femmes Démocrates) setzten sich für den Inhaftierten ein und forderten seine Freilassung sowie die Abschaffung der umstrittenen Tests.
Ein paar Tage nach dem Urteil gegen Marwan plädierte der damalige Justizminister Mohamed Salah Ben Aïssa öffentlich für eine Abschaffung von Artikel 230. Gegenüber dem tunesischen Radiosender Shems FM sprach sich der parteilose Jurist dafür aus, das Verbot gleichgeschlechtlicher Handlungen aus dem Strafgesetzbuch zu streichen, weil es nicht mit der neuen tunesischen Verfassung vom Januar 2014 vereinbar sei. „Es ist nicht mehr zulässig, die individuellen Freiheitsrechte, die Privatsphäre und die persönlichen Entscheidungen, auch die sexuellen, zu verletzen“, meinte der Jurist bei Shems FM.
Autorin
Claudia Mende
ist freie Journalistin in München und ständige Korrespondentin von „welt-sichten“. www.claudia-mende.deAngesichts der desolaten Wirtschaftslage und zunehmender Sicherheitsprobleme nach mehreren verheerenden Terroranschlägen setzt die Staatsspitze – ob säkular oder islamisch – auf Vertrautes, während die jungen Aktivisten weiter auf Änderungen drängen. So führt der tunesische Umbruch zunehmend zu einem Gegensatz von Jung und Alt. Die Jungen werden weitermachen. Sie wollen die Einlösung der Freiheitsversprechen aus der neuen Verfassung. Mit seinem „Nein“ hat der Staatspräsident die Debatte nur weiter befeuert.
Dennoch bewegen sich Organisationen wie Shams weiter auf dünnem Eis. Shams wurde Anfang Januar gerichtlich aufgefordert, ihre Arbeit 30 Tage ruhen zu lassen – wegen formaljuristischer Zweifel an ihrer Rechtmäßigkeit. Die Aktivisten wehrten sich vor Gericht. Trotz vieler Unkenrufe, die Suspendierung sei nur eine Etappe auf dem Weg zum Verbot der Organisation, wies dieses die Aussetzung zurück. Shams kann also vorerst weitermachen. Yadh Krendel hat das nicht überrascht. Der Optimist war von Anfang an davon überzeugt, dass die Suspendierung lediglich die Konservativen beruhigen sollte. „Wir haben in Tunesien die große Chance, wirklich etwas zu verändern. Ich möchte sie unbedingt nutzen.“
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