Eine Milliarde Menschen leben weltweit in informellen Siedlungen, bis zum Jahr 2030 werden es vermutlich doppelt so viele sein. Gleichzeitig prognostizieren die Vereinten Nationen bis dahin auch doppelt so viele Einwohner für die weltgrößten Städte – rund 730 Millionen. Vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern verlassen Menschen ihre ländliche Heimat, um in der Stadt ein besseres, würdigeres Leben zu suchen. Ihr Zustrom führt aber nur allzu oft dazu, dass Slums und Favelas entstehen: Es fehlt an Unterkünften, an sauberem Wasser und Sanitäreinrichtungen, Elektrizität, Nahrung, medizinischer Versorgung und Bildungsangeboten. Reguläre Jobs sind die Ausnahme, Entscheidungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten sind meist sehr begrenzt.
Mehr als 300 Millionen Kinder auf der Erde leben nach aktuellen Schätzungen genau so: in einem städtischen Slum ohne jeglichen staatlichen Schutz. Neugeborene werden aufgrund des Status’ ihrer Eltern oft gar nicht erst registriert. Das soziale Gefälle zwischen den verschiedenen städtischen Bevölkerungsgruppen ist groß: Moderne Wohnhäuser und bewachte Villenviertel sind nicht weit von Armensiedlungen und Slums entfernt. Das wiederum geht häufig mit massiver Kriminalität und Gewalt einher. Bewaffnete Banden und Drogenbosse haben das Sagen. Ihrer Willkürherrschaft sind insbesondere Kinder schutzlos ausgeliefert. Vor allem diejenigen, die in ihren Familien kaum versorgt oder gar misshandelt werden, sagen sich vom Elternhaus los und beginnen ein Leben auf der Straße, wo neue Gefahren drohen. Dabei sind Mädchen und Jungen nicht nur körperlich, sondern auch psychisch besonders verwundbar. Gerade sie leiden extrem unter den negativen Folgen prekärer Lebensverhältnisse. Nahrungsdefizite, mangelnde Hygiene und fehlende Bildungsangebote verbauen dieser Generation die Zukunftsperspektiven.
Den Teufelskreis der Gewalt durchbrechen
Die Kindernothilfe mahnt in ihrer aktuellen Kampagne: „Das Leben in der Stadt ist kein Kinderspiel“! Als Kinderrechtswerk fordert sie, Mädchen und Jungen weltweit zu schützen und ihnen die Entwicklungs- und Spielräume zu bieten, die sie brauchen. Gleichzeitig setzt der Kampagnentitel „Himmel und Hölle“ einen doppelten Kontrapunkt. Zum einen bezeichnet „Himmel und Hölle“ ein weltweit bei allen Kindern beliebtes Kinderspiel, das auch unter Namen wie „Rayuela“ (spanisch), „Kuntae Billae“ (in Indien) oder „Hopscotch“ (englisch) bekannt ist. Zum anderen aber ist ihr Leben in der Stadt für viele Mädchen und Jungen tatsächlich genau dies: Himmel oder Hölle. Der Himmel lacht ihnen, wenn sich ihre Hoffnungen erfüllen und sie tatsächlich zur Schule gehen, medizinisch versorgt werden und mit ihren Bedürfnissen und Rechten wahrgenommen und geschätzt werden. Als Hölle auf Erden aber erfahren sie ihr Leben in der Stadt, wenn sie vernachlässigt, verfolgt, misshandelt, sexuell missbraucht, ausgebeutet, bedroht, in ihrer Entwicklung beschnitten oder von ihren Mitmenschen einfach vergessen werden.
Es braucht mehr Gewaltprävention wie eine psychosoziale Betreuung in Kinder- und Jugendclubs, damit Kinder lernen, den Teufelskreis von Gewalt und Brutalität zu durchbrechen. Es braucht gewaltfreie Orte wie Kinderschutzzentren in den von Misshandlung und Missbrauch betroffenen städtischen, oft rechtsfreien Räumen. Und es braucht Unterstützungsangebote für Kinder, die Gewalt erlebt haben, damit sie ihre schlimmen Erlebnisse verarbeiten können – beispielsweise therapeutische Angebote oder Hotlines. Schließlich müssen derlei Kinderschutzsysteme auch politisch verankert werden, vor allem durch kinderrechtsorientierte Gesetzgebung. Bei deren Umsetzung hat die lokale und nationale Politik eine enorme Verantwortung, der sie viel zu oft nicht nachkommt.
In den städtischen Räumen brauchen die Belange der Kinder deutlich mehr Aufmerksamkeit. Denn Kinder gehen dort viel zu leicht unter, erhalten nicht die lebensnotwendigen Chancen und Entfaltungsmöglichkeiten. Eben solchen Mädchen und Jungen zur Seite zu stehen, hat sich die Kindernothilfe auf die Fahnen geschrieben. Damit „Himmel und Hölle“ nicht das Wechselbad kindlicher Gefühle widerspiegelt, sondern lediglich ein beliebtes Kinderspiel ist.
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