Vor nicht allzu langer Zeit war Polen selbst noch ein Entwicklungsland, das von wohlhabenden Ländern im Westen und Osten unterstützt wurde. Doch seit den ersten freien Wahlen mit dem Sieg der Solidarność-Opposition 1989 und Polens Beitritt zur Europäischen Union 2004 hat das Land einen rasanten Aufschwung hingelegt. Heute zählt Polen zu den vierzig reichsten Ländern der Welt. Eigentlich wäre es nun selbst an der Reihe, Entwicklungshilfe an benachteiligte Regionen zu geben. Aber tut es das? Die kurze Antwort ist: kaum. Die polnische Solidarität scheint mehr national als international orientiert zu sein.
Ein Jahr nach dem EU-Beitritt Polens beschlossen die EU-Mitgliedsstaaten, bis 2015 ihre Entwicklungshilfe (ODA) auf 0,7 Prozent ihres Bruttonationaleinkommens (BNE) zu erhöhen. Polen setzte sich als neues Mitglied ein niedrigeres Ziel von 0,33 Prozent. Zehn Jahre später liegt die polnische ODA bei gerade einmal 1,66 Milliarden polnischen Zloty (umgerechnet etwa 375 Millionen Euro), was ungefähr 0,1 Prozent des BNE entspricht.
Drei Viertel der Hilfe fließt an multilaterale Institutionen – vor allem in den EU-Haushalt und in den Europäischen Entwicklungsfonds. Mit dem Rest werden bilaterale Projekte finanziert, die repräsentativer sind für die Stoßrichtung der polnischen Entwicklungshilfe. Die Dachorganisation zivilgesellschaftlicher Entwicklungsorganisationen in Polen „Grupa Zagranica“ dokumentiert in einem jährlichen Bericht, wohin die Hilfe fließt. Ein Großteil – im Jahr 2015 knapp ein Drittel – wird für Stipendien für Studenten aus weniger entwickelten Ländern ausgegeben, die in Polen studieren. Die Regierung finanziert die Stipendien, reguliert sie jedoch nicht. Laut dem Ministerium für Wissenschaft und Hochschulbildung gibt es keine Vorgaben; die Universitäten und Hochschulen vergeben die Stipendien nach eigenen Kriterien. Deshalb gibt es auch keine Untersuchungen dazu, wie sie sich auf die Entwicklung der Heimatländer der Studenten auswirken.
Ein weiteres Fünftel der bilateralen Hilfe floss 2015 in Projekte, die eine gute Regierungsführung und die Zivilgesellschaft unterstützen. In zwei großen Projekten fördert Polen unabhängigen Journalismus in Weißrussland: den Fernsehkanal TV Belsat und das Radio Racyja. Der polnische Außenminister hat jedoch nach dem letzten Besuch polnischer Behörden in Weißrussland angekündigt, die Hilfsgelder für TV Belsat 2017 zu kürzen.
Weiche, zinsgünstige Kredite sind mit einem Anteil von 17 Prozent ein weiteres wichtiges Mittel der polnischen Entwicklungshilfe, 2015 vor allem in Äthiopien und Angola. Diese Kredite sind gebunden, was bedeutet, dass die Empfänger das Geld für polnische Produkte und Leistungen ausgeben müssen. Angola hat einen Kredit für den Bau und die Inbetriebnahme der Akademie für Fischerei und Meereswissenschaften in der Provinz Namibe erhalten, die von polnischen Firmen entworfen wurde. Äthiopien hat mit dem Geld polnische Traktoren gekauft. Dieses Vorgehen ist umstritten, da es weitgehend anerkannt ist, dass gebundene Hilfe weniger effektiv ist als ungebundene. Die Begünstigten können sich nicht die besten Angebote auf dem Weltmarkt holen, sondern müssen das Darlehen im Geberland ausgeben.
Zwei weitere Aspekte der bilateralen Hilfe Polens: 2015 haben nichtstaatliche Entwicklungsorganisationen nur 15 Prozent davon für Projekte erhalten. Außerdem zählt Polen wie die meisten anderen Geberländer die Unterstützung von in Polen lebenden Flüchtlingen als ODA, obwohl sie nicht zur Entwicklung im globalen Süden beiträgt.
Nur knapp jeder Fünfte gegen Entwicklungshilfe
Bei polnischen Bürgern stößt die Entwicklungshilfe auf große Resonanz. Ende 2014 hat das polnische Außenministerium sie gefragt, was sie davon halten. Die große Mehrheit (71 Prozent) sagte, dass Polen Entwicklungsländer unterstützen sollte, und nur knapp jeder fünfte Befragte (17 Prozent) sprach sich dagegen aus.
Die Gründe der Befürworter lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen. Fast jeder zweite (45 Prozent) meint, dass die Polen eine moralische Verantwortung tragen, weniger entwickelten Ländern zu helfen. Dieses Motiv sticht auch in allen vorausgegangenen Studien seit 2006 hervor, hat aber in den vergangenen zehn Jahren an Bedeutung verloren und ist von 63 auf 45 Prozent gefallen. Der zweite wichtige Grund (42 Prozent) ist, dass wohlhabendere Länder einst Polen unterstützt haben und deshalb Polen nun den Ärmeren helfen sollte.
Die Gegner von Entwicklungshilfe sagen, Polen solle sich zuerst auf seine eigenen Probleme konzentrieren (52 Prozent) und dass das Land zu arm sei, um anderen zu helfen (44 Prozent). Ein Grund für diese Ansicht könnte sein, dass die Polen sich ärmer einschätzen als sie sind. Laut derselben Umfrage glauben sie, nur 82 von 200 Nationen wären ärmer und weniger entwickelt als ihr Land. Doch gemessen am Pro-Kopf-Einkommen und am Index der menschlichen Entwicklung der Vereinten Nationen sind 160 Länder ärmer als Polen, also fast doppelt so viele, wie die Bürger denken. Die Leute fühlen sich ärmer, da sie ihre Situation mit westeuropäischen Ländern vergleichen.
Autor
Paweł Cywiński
promoviert an der Fakultät für Geografie und Regionalstudien an der Universität Warschau. Er arbeitet außerdem als Radio- und Zeitungsjournalist.Da die Befragung Ende 2014 stattfand, mag der Ukraine-Krieg zu dieser Zeit das Ergebnis beeinflusst haben. Über die UN-Millenniumsziele wussten die Befragten praktisch nichts, nur einer von zehn hatte von ihnen gehört. 86 Prozent der Polen informieren sich über das Fernsehen über Entwicklungsthemen, fast keiner hingegen über die katholische Kirche. Dabei hat diese eine starke Position im Land und ist an verschiedenen Hilfsprojekten in aller Welt beteiligt.
Zwischen November 2011 und August 2015 fiel der Begriff „Entwicklungszusammenarbeit“ in 32 Reden im polnischen Parlament, die Formulierung „Entwicklungshilfe“ 46 Mal. Nur ein einziges Mal war sie ein eigenes Thema im Parlament: anlässlich der Novelle des Gesetzes über die Entwicklungszusammenarbeit im Sommer 2013. Das Thema findet also nicht viel Anklang im Parlament und ist so unbedeutend wie die polnische Entwicklungshilfe niedrig. Obwohl die Polen bereit wären, mehr zu tun.
Aus dem Englischen von Johanna Greuter.
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