Was ist gesundheitsschädlich an der Arbeit in einem Callcenter?
Die meisten Beschäftigten arbeiten für US-amerikanische Firmen. Wegen der Zeitdifferenz von bis zu zwölf Stunden bedeutet das für sie permanente Nachtarbeit. Insider nennen diese Nachtschichten „graveyard shifts“, also „Friedhofsschichten“. Wer so arbeitet, beendet damit sein vertrautes Leben. Die Angestellten sprechen kaum noch mit ihren Familien oder ihren Freunden, dazu sind sie tagsüber viel zu müde. Schlafen können sie aber auch nicht richtig. Um die Anspannungen abzubauen, beginnen viele von ihnen zu rauchen. Studien aus Indien, wo die Callcenter-Industrie ihren Anfang genommen hat, belegen darüber hinaus, dass der unregelmäßige Lebenswandel zu mehr unverbindlichen sexuellen Beziehungen und damit auch zu einer Zunahme von HIV-Erkrankungen führt.
Gibt es dazu auch Studien aus den Philippinen?
Noch nicht, Wissenschaftler beginnen gerade, das Feld auch bei uns auszuloten. Fest steht aber schon jetzt, dass der Anteil von Menschen mit Bluthochdruck, Übergewicht oder Stoffwechselkrankheiten wie Diabetes unter Nachtarbeitern besonders hoch ist und dass viele von ihnen unter Schlafstörungen leiden. Schlafmangel schadet immer dem Immunsystem. Dazu kommen die besonderen psychologischen Probleme der Callcenter-Beschäftigten: Sie werden von den Kundinnen und Kunden häufig sehr abfällig behandelt oder gar beschimpft. Viele fühlen sich als Menschen degradiert.
Aber die Branche hat doch auch dazu beigetragen, dass es dem Land wirtschaftlich besser geht, oder?
Ja, schon. Die Gehälter, die US-amerikanische Firmen ihren ausgelagerten Contact-Center-Agenten bezahlen, liegen vier bis fünf Mal höher als das, was eine Gesundheitskraft im ländlichen Raum bekommt. Viele Contact-Center-Beschäftigte sind deshalb ausgebildete Gesundheitskräfte, die keine angemessen bezahlte Stelle gefunden haben. Das ist fatal, denn sie werden vor allem in den staatlichen Gesundheitsstützpunkten dringend gebraucht.
Gibt es im Gesundheitsbereich zu wenige angemessen bezahlte Stellen oder zu viele Bewerber?
Wir haben auf den Philippinen mehr als 400 Schulen, die Pflegekräfte ausbilden; da sind andere medizinische Fachberufe wie Physiotherapeuten noch gar nicht dabei. Natürlich können nicht alle Absolventen bei uns arbeiten. Wir sind der weltgrößte Exporteur von medizinischen Fachkräften. Die Regierung äußert sich darüber zwar offiziell besorgt, aber im Grunde fördert sie es, dass so viele Pflegekräfte und Ärzte ins Ausland gehen und ihre Familien von dort aus finanziell unterstützen. Die Behörden lassen jedenfalls all diese Schulen ohne weiteres zu, die ausdrücklich damit werben, das Fachwissen für einen Job im Ausland zu vermitteln.
Und was tun sie gegen den heimischen Personalmangel im Gesundheitssystem?
Kürzlich war unsere Gesundheitsministerin Pauline Jean Ubial auf Kuba. Der Gedanke unseres neuen Präsidenten Rodrigo Duterte dabei war, dass sie sich von der kubanischen Idee der Grundversorgung inspirieren lassen sollte. Denn das philippinische Gesundheitssystem beruht wie das System in den USA vor allem auf privater Vorsorge, ist weniger präventiv als kurativ ausgerichtet und konzentriert sich vor allem auf städtische Regionen. Einen Großteil der Gesundheitsausgaben tragen bei uns die Patientinnen und Patienten selbst. Unsere Gesundheitsministerin aber brachte eine ganz andere Idee mit nach Hause: Sie erwägt nun, kubanische Ärzte auf die Philippinen zu holen, um unsere Versorgungslücke zu schließen – gesponsert von der Regierung Castro. Und das, obwohl wir genügend Personal hätten, wenn wir die Menschen nur angemessen bezahlen würden.
Wie schätzen Sie die Gesundheitspolitik von Rodrigo Duterte generell ein?
Seine Ankündigungen für diesen Bereich klingen gut und weniger abenteuerlich als die für die Verbrechensbekämpfung. So hat er angekündigt, die Gesundheitsversorgung der armen Landbevölkerung zur Priorität zu machen und den Etat entsprechend umzuschichten. Würde das wirklich passieren, wäre das ein großer Fortschritt für unser Land. Dutertes Ministerin allerdings tut eher das Gegenteil. Sie privatisiert staatliche Krankenhäuser und lässt zu, dass die öffentliche Versorgung immer schlechter wird, während private Kliniken mit ihrer guten Ausstattung nur für wenige Reiche erschwinglich sind. Korruption und Selbstbedienung grassieren auch im Gesundheitssystem. Volksvertreter leiten große Geldsummen, die unter anderem der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung zugutekommen sollen, in eigene Taschen um. 2014 wurden drei Senatoren wegen Korruption angeklagt.
Insgesamt zeigen aktuelle Statistiken aber, dass sich die Gesundheitssituation auf den Philippinen in den vergangenen Jahren verbessert hat, oder?
Ja und nein. Die Lebenserwartung ist laut der Weltgesundheitsorganisation WHO zwischen 1970 und 2012 um 14 Jahre gestiegen – von 58 auf 72 Jahre. Gleichzeitig ist die Kindersterblichkeit deutlich gesunken. Das ist gut. Aber: In vergleichbaren Ländern wie Vietnam, Thailand oder Malaysia hat sich die Situation im gleichen Zeitraum viel schneller verbessert. Ansteckende, aber heilbare Krankheiten wie Lungenentzündung und Tuberkulose gehören bei uns weiter zu den häufigsten Todesursachen. Laut WHO sind die Philippinen eines der 36 Länder in der Welt mit hoher Unterernährungsrate.
Und wie ist es mit der medizinischen Versorgung?
Der Zugang zu Gesundheit ist hauptsächlich vom Einkommen bestimmt. Die meisten Krankenhäuser befinden sich in den städtischen Zentren. Zwei Drittel von ihnen sind in Privatbesitz und für die Mehrheit der Philippiner kaum erschwinglich. Zwar gibt es auch öffentliche Gesundheitsstationen mit kostenlosen Diensten. Aber sie sind mangelhaft ausgestattet und gerade auf dem Land auch dünn gesät. Wer nicht viel Geld hat, muss Verwandte oder Freunde um Unterstützung bitten, Arbeitgeber oder den Großgrundbesitzer fragen, eine nichtstaatliche Organisation auftreiben – oder sich verschulden oder sein Eigentum verkaufen, um sich eine nötige Behandlung leisten zu können.
Das Gespräch führte Barbara Erbe.
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