Vor der Klimakonferenz im November in Marokko gab sich die Atomwirtschaft ungemein optimistisch: Mindestens 450 neue Atomkraftwerke (AKW) müssten bis 2050 gebaut werden, um das Klimaschutzziel aus dem Paris-Abkommen zu erreichen, verkündete die Sprecherin der Planungsabteilung in der Internationalen Atomenergie-Agentur (IAEA) in Wien. Der Weltverband der Nuklearunternehmen WNA (World Nuclear Association) frohlockte, ein Viertel der weltweit produzierten Elektrizität werde dann aus Atomkraftwerken kommen. Derzeit sind es drei Prozent. Zusammen mit dem Ersatz der jetzt noch laufenden Kraftwerke würde das den Neubau von rund 500 Atomkraftwerken erfordern. Ohne Kernkraft im Energie-Mix sei das Klima-Ziel nicht zu erreichen, so das Mantra.
Doch viele dieser Neubauten wären dann kleine Kraftwerke vor allem in Entwicklungsländern, die auf Schiffen oder Pontons, auf Inseln oder in entlegenen Gebieten errichtet würden. Damit jedenfalls rechnet der Weltverband der Atomindustrie, der Ende Oktober in London eine Konferenz für kleine modulare Atomkraftwerke veranstaltete. Diese „Small Modular Reactors“ (SMR) sind inzwischen die Hoffnungsträger der Branche, deren Zukunft seit den Katastrophen von Tschernobyl (1986) und Fukushima (2011) düster aussieht.
Denn große Reaktoren werden zur Zeit in den westlichen Industrieländern kaum gebaut, und die wenigen laufenden Vorhaben wurden vor Jahrzehnten geplant – wie die Kraftwerke im französischen Flamanville und im finnischen Olkiluoto, deren Baukosten bereits explodiert sind. Nur mit Bauchschmerzen hat die britische Regierung im September einen großen Neubau in Hinkley Point beschlossen, wo zwei alte Reaktoren ersetzt werden. Der Vertrag kam nur mit einer praktisch unbegrenzten Staatsgarantie und der Beteiligung von französischen und chinesischen Reaktorbauern zustande. In den USA, mit einem Bestand von 99 Reaktoren aus den 1960er und 1970er Jahren, sind zurzeit zwei Neubauten genehmigt, deren Finanzierung allerdings noch unsicher ist.
Eine Marketingstrategie für modulare Reaktoren
Atomreaktoren werden als „klein“ eingestuft, wenn sie weniger als 200 bis 300 Megawatt Leistung haben. Für Elektrizitätswerke waren derart kleine Reaktoren wirtschaftlich uninteressant – nur einige wenige wurden als Vorstufe zur Erprobung von größeren in den 1950er und 1960er Jahren gebaut. Zudem brauchten kleine Reaktoren mit vergleichsweise großer Leistung stark oder hoch angereichertes Uran, den Stoff also, aus dem auch Bomben gemacht werden. Infolgedessen wurden kleine Reaktoren bislang vor allem für militärische Projekte genutzt: zum Antrieb von U-Booten und Flugzeugträgern der Atombombenmächte USA, Großbritannien, Sowjetunion und Frankreich. Von den bis heute gebauten etwa 140 Schiffen mit nuklearem Antrieb waren nur die wenigsten zivil: zwei Forschungsschiffe und zehn russische Eisbrecher.
Erst ab dem Jahr 2003, also 17 Jahre nach Tschernobyl, legte die Industrie neue Konzepte für kleine Atomkraftwerke vor. 2007 richtete die IAEA eine Sektion für kleine modulare Reaktoren ein, die Standards für Genehmigungen und Kontrollverfahren erörtern sollte. In der Folgezeit entwickelten die Industrie und die IAEA Marketingstrategien, um kleine und aus fertigen Modulen hergestellte Kraftwerke als wirtschaftlich und politisch attraktiv darzustellen. Kleine modulare Reaktoren seien gut geeignet für Inseln oder entlegene und schwer zugängliche Gegenden, die nur zu großen Kosten an bestehende Elektrizitätsnetze anzubinden sind. Sie seien vergleichsweise billig und könnten jederzeit problemlos erweitert oder aber auch wieder demontiert werden. SMR seien deshalb ideal für Länder, deren Stromnetze und administrative Regelwerke noch nicht auf große Atomkraftwerke eingestellt seien – sprich: für Entwicklungs- und Schwellenländer.
Keineswegs klimaneutral
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Aufgrund der praktischen Erfahrung mit dem noch zu Sowjetzeiten begonnenen Bau von atomgetriebenen Eisbrechern hatte die russische Atomwirtschaft die Nase vorn. 2007 begann sie den Bau an einem ersten schwimmenden Atomkraftwerk, das allerdings aufgrund von Korruption und technischen Pannen erst im vergangenen September fertiggestellt wurde. Es wird im Hafen von Pevek am Eismeer verankert und soll die kleine Stadt sowie die großen Bergbau- und Erdgasbetriebe in der Region versorgen. Ein zweites AKW-Schiff ist für einen Hafen weiter östlich an der sibirischen Eismeerküste im Bau.
Auch China baut an zwei schwimmenden Kraftwerken, bestückt mit russischen Reaktoren. Sechs weitere mit in China selbst entworfenen kleinen Reaktoren sind in Planung. Sie sollen chinesische Inseln mit Strom versorgen, sind aber auch als Exportmodelle vorgesehen. In den USA tüfteln vier Konsortien an Plänen für kleine modulare AKW, die Regierung in Washington subventioniert das derzeit mit einer halben Milliarde US-Dollar.
Russland beliefert Ägypten und Bangladesch
Inzwischen werben 19 Firmen und Konsortien der Atomwirtschaft aus aller Welt mit Konzepten für kleine Atomkraftwerke. Der Weltverband WNA sieht Chancen für mindestens 42, im besten Fall sogar 96 Bestellungen bis 2030. Doch als Minimum für eine wirtschaftlich rentable Serienproduktion von Modulen werden vier Reaktoren veranschlagt, für 19 Anbieter ist der Markt zu klein. Allerdings wird die Industrie zusätzlich mit Forschungsförderung aus öffentlichen Mitteln versorgt; die EU hat dafür bis 2020 rund zwei Milliarden Euro bereitgestellt.
Die Industrie bearbeitet den Markt bereits seit Jahren, für kleine und für große Atomkraftwerke. Mit Verträgen über Kooperation in Forschung und Ausbildung und dazu spendierten Atomreaktoren wollen Atommächte wie die USA, Russland, China sowie Frankreich und Großbritannien Länder der übrigen Welt als Kunden für ihre Atomkraftfirmen gewinnen. Sind die einmal am Haken solcher Kooperationsverträge, sind die Aussichten gut, dass die Regierungen dieser Länder sich auf Geschäfte einlassen.
Beispiel Ägypten: Das Land hat ein russisches Atomkraftwerk bestellt, nachdem über Jahre erst die Sowjetunion, dann Russland die Ausbildung und die Forschung von Atomtechnikern am Nil unterstützt hatten. Im September hat die russische Atomfirma Rosatom mit dem Bau eines ersten Kraftwerks in El Dabaa begonnen, begleitet von Protesten der Beduinen in der Gegend, die um ihre Land- und Wasserrechte fürchten. Zugleich arbeitet Ägypten in der Atomkraft bereits seit den 1980er Jahren auch mit Frankreich sowie mit den USA (seit 2008) und China (2015) zusammen.
Das Muster derartiger Kooperationsverträge gleicht einem Kreuzworträtsel: Die Namen von AKW-Exporteuren und Kundenländern sind vielfach miteinander verwoben. Russlands Atomfirma Ros-atom ist besonders umtriebig, dicht gefolgt von Chinas zwei großen Atomfirmen China General Nuclear Power Corporation und China National Nuclear Corporation. Der französische Konzern Areva ist in Argentinien, Südafrika und in Indien im Geschäft, und der größte US-amerikanische Kraftwerksbauer Westinghouse (inzwischen Teil des japanischen Toshiba-Konzerns) mischt fast überall mit, sogar in Vietnam.
Autor
Heimo Claasen
ist freier Journalist in Brüssel und ständiger Mitarbeiter von "welt-sichten".Indiens Nachbar Bangladesch ist mit Russland handelseinig geworden und zugleich mit China im Gespräch. Thailand, Malaysia und Vietnam planen und haben Projekte begonnen, Indonesien und die Philippinen sind aufgrund ihrer vielen Inseln besonders umworben von Verkäufern kleiner und schwimmender Reaktoren. Derzeit tatsächlich gebaut werden große Atomkraftwerke in den arabischen Golfstaaten Katar, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten.
Opposition gegen die Atompläne gibt es in den meisten dieser Länder kaum, am stärksten noch in Indien. In Südafrika jedoch, wo sich die AKW-Händler aus Frankreich, China, Russland und den USA die Klinke in die Hand geben, hat breiter öffentlicher Protest die Pläne der Regierung vorerst aufgehalten. Probleme mit der Finanzierung für ein vorgesehenes Nuklearprogramm taten ein Übriges.
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