Geht doch: Die Zahl der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, ist in diesem Jahr deutlich gesunken. Im Juli suchten nur noch 16.000 Menschen hierzulande Schutz, im Januar waren es noch gut vier Mal so viele. Die Bundesregierung und die Europäische Union (EU) haben den Deutschen in der Flüchtlingskrise eine Atempause verschafft. Doch der Preis für die vermeintliche Entspannung ist hoch – zu hoch. Bezahlen müssen ihn vor allem die Syrerinnen und Syrer, die vor der Gewalt und dem Terror in ihrer Heimat fliehen und sich nichts sehnlicher wünschen als einen Ort, an dem sie Ruhe und Sicherheit finden können.
Einen großen Teil der Verantwortung wälzen die Europäer noch immer auf Griechenland ab, dessen Sozialsysteme schon mit dem Bedarf der eigenen Bevölkerung überfordert sind. Zwar sind auch hier die Flüchtlingszahlen dank des umstrittenen Deals mit der Türkei zurückgegangen. Die Griechen zögern jedoch, Flüchtlinge in die Türkei zurückzuführen. Nach dem gescheiterten Militärputsch sehen sie in ihrem Nachbarland – anders als die EU – keinen sicheren Staat mehr. Die Registrierungszentren auf den Inseln in der Ostägäis, die nach dem Willen der EU ein geordnetes Asylverfahren gewährleisten sollten, sind überfüllt. Knapp 10.000 Menschen warten darauf, dass ihre Anträge bearbeitet werden.
Solidarität und Menschlichkeit? Fehlanzeige
Auch Italien ist nach wie vor unter Druck – alleine in diesem Jahr sind dort bereits 100.000 Migranten angekommen. An die Vereinbarung, 160.000 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland innerhalb von zwei Jahren auf andere EU-Mitglieder zu verteilen, fühlen sich andere Staaten kaum gebunden: Mitte Juli waren gerade einmal 3000 Menschen umgesiedelt worden. Und in Horgos an der serbisch-ungarischen Grenze haben sich neue illegale Lager gebildet, in denen Flüchtlinge seit Wochen darauf warten, in die EU zu gelangen. Die Zustände dort sind laut Helfern katastrophal. Schlimmer noch: In Ungarn und in Bulgarien haben sich Bürgerwehren gebildet, die regelrecht Jagd auf Migranten machen.
Solidarität und Menschlichkeit? Fehlanzeige. Die EU ist mit ihrer bisherigen Flüchtlingspolitik gescheitert. Sie setzt auf Abschottung, Abschreckung und die falschen Partner – das gilt nicht nur für den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, der sein Land in die Autokratie steuert und Menschenrechte mit Füßen tritt. Im Rahmen ihres Khartum-Prozesses bezahlt sie autoritäre Regime im Sudan, in Äthiopien und in Eritrea dafür, dass sie Flüchtlinge erfassen, internieren und in ihre Heimatländer zurückführen. Sudan setzt dafür etwa die RSF-Miliz ein, der schwere Verbrechen an der Zivilbevölkerung in den Krisenregionen des Landes vorgeworfen werden.
All das mag zwar dazu führen, dass weniger Menschen in Europa ankommen. Aber es machen sich nicht weniger auf den Weg. Die Gründe, warum sie ihre Heimat verlassen, sind vielschichtig und nicht so schnell aus der Welt zu schaffen. Ein Ende des Syrien-Krieges ist nach dem Aussetzen der Genfer Friedensgespräche in weite Ferne gerückt. Es ist richtig und wichtig, Fluchtursachen wie Armut und Hunger zu bekämpfen, wie es von Politikern aller Parteien wiederholt und mit Nachdruck beschworen wird. Bundesentwicklungsminister Gerd Müller war im August erneut in dieser Mission in Zentralafrika unterwegs und hat mehr Investitionen in Bildung, Ausbildung und Arbeitsplätze versprochen. Aber auch die werden erst langfristig Früchte tragen.
Die Forderung nach legalen Wegen bleibt
Die Menschen, die ihre Heimat jetzt verlassen müssen, brauchen unmittelbare Hilfe. Das kann Europa nur gemeinsam stemmen. Nötig sind legale Wege für Flüchtlinge, etwa ein Resettlement-Programm, einheitliche Regeln für den Umgang mit ihnen und ein faires Verteilungssystem mit einer Quotenregelung, an das sich alle Mitgliedsstaaten halten müssen. Damit würde Europa auch unabhängiger von der Türkei, die mit einem Platzen des Flüchtlingsdeals pokert.
Doch stattdessen werden abenteuerliche Forderungen diskutiert: Österreichs Außenminister Sebastian Kurz schlägt vor, Europa solle sich an Australien orientieren – ausgerechnet. Die Australier haben das Abschreckungsprinzip auf Spitze getrieben: Ihre Marine hindert Flüchtlingsboote am Anlegen, und wer es trotzdem an Land schafft, wird in Lagern auf den Inseln Manus und Nauru interniert. Die menschenunwürdigen Zustände dort haben Aktivisten gerade dokumentiert. Mitte August hat Australiens Regierung zwar entschieden, das Camp auf Manus zu schließen, doch was mit den Flüchtlingen von dort geschehen soll, ist unklar. Denn ein Konzept für eine menschenwürdige Asylpolitik hat sie nicht. Das darf kein Vorbild für Europa sein.
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