Vor einem halben Jahr sah in Venezuela alles nach einem Politikwechsel aus. Erstmals musste der Chavismus eine Niederlage hinnehmen – und das auf den Tag genau siebzehn Jahre nach der Wahl von Hugo Chávez zum Präsidenten, die eine linksgerichtete Revolution mit breiter Unterstützung der Bevölkerung in Gang brachte. Bei den Parlamentswahlen Anfang Dezember 2015 erreichte die Koalition der Oppositionsparteien eine Zweidrittelmehrheit in der Nationalversammlung; das gab ihr weitreichende Befugnisse, Veränderungen voranzutreiben. Der Schwung scheint allerdings schnell verloren gegangen zu sein. Denn Präsident Nicolás Maduro und seine Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas (PSUV) haben seitdem Stärke gezeigt – und insbesondere ihre Kontrolle über den Obersten Gerichtshof bewiesen.
Bereits im Dezember begann die Regierung, an der Mehrheit der Opposition zu kratzen. Der Gerichshof folgte einer Klage, dass im Bundesstaat Amazonas Stimmen gekauft worden seien, und setzte die Ernennung dreier oppositioneller Abgeordneter aus. Im Februar befanden die Richter die Erklärung des wirtschaftlichen Notstands für gültig, welche die Nationalversammlung abgelehnt hatte. Einen Monat später bestimmte das Gericht, das Parlament dürfe nur die Regierung zu Befragungen vorladen, und setzte damit seine Kontrollbefugnisse für die Justiz, die Streitkräfte und die Wahlbehörden außer Kraft. Im April erklärte der Gerichtshof den Versuch der Nationalversammlung für verfassungswidrig, mit einem Amnestiegesetz politische Gefangene aus der Haft zu entlassen.
Die Oppositionsparteien konnten sich nicht einigen
Doch die Opposition ist nicht nur ein Opfer der Übermacht des Chavismus in den Institutionen. Zwar hat sie sich für die Wahlen erfolgreich zusammengerauft und in den ersten drei Monaten dieses Jahres auf eine Reihe von Gesetzesvorhaben geeinigt. In der wichtigsten Frage aber – wie man der Regierung Maduro ein Ende setzt – konnte sie sich nicht auf eine Strategie verständigen. Bis Februar hatte man sich auf das Ziel geeinigt, Maduro aus dem Amt zu drängen. Darin sah man sich von der Bevölkerung bestätigt: Laut den jüngsten Umfragen wollen zwei Drittel der Venezolaner ihren Präsidenten lieber 2016 als 2019 abtreten sehen. Für eine solche Situation sieht die Verfassung ein Abberufungs-Referendum vor: Wenn die absolute Mehrheit der Wähler ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten unterstützt und die Zahl der Befürworter die Stimmenzahl übersteigt, die der Präsident ursprünglich bei seiner Wahl erhalten hat, dann müssen innerhalb von dreißig Tagen vorgezogene Neuwahlen abgehalten werden.
Doch die Oppositionsparteien konnten sich nicht einigen, diesen Weg zu gehen. Stattdessen setzen radikale Kräfte weiter auf Straßenproteste, die Maduros Rücktritt fordern. Andere arbeiten auf eine Verfassungsänderung hin, um die Amtszeit des Präsidenten von sechs auf vier Jahre zu verkürzen. Dann müsste am Jahresende neu gewählt werden. Die Vertreter dieser Strategie argumentieren, der neue Präsident würde dann für eine volle Amtsperiode gewählt; nach einem Abberufungs-Referendum hingegen könnte er nur Maduros Amtszeit zu Ende führen.
Die Verfassung könnte die Nationalversammlung weitgehend eigenständig ändern. Ein Amtsenthebungsverfahren würde eine viel breitere Mobilisierung erfordern, was bisher nie eine Stärke der Opposition war. Und wenn das Referendum zustande käme – ein Fünftel der Wählerschaft müsste das in drei Tagen per Unterschrift fordern –, wäre der Erfolg ungewiss. Manche in der Opposition meinen zudem, der Chavismus sollte die Folgen seiner Misswirtschaft selbst ausbaden; man solle nicht mitten in einer Wirtschaftskrise das Ruder übernehmen.
Die Opposition hat durch ihre mehrgleisige Strategie Kritik auf sich gezogen und es versäumt, die Bevölkerung mitzunehmen. Ihr zerrissener, sich oft selbst schädigende Charakter erklärt sich aus ihrer Zusammensetzung: Sie ist keine Partei, sondern eine Koalition von Sozialdemokraten über Christsoziale bis hin zu stramm rechten Bewegungen, die kaum an Demokratie interessiert sind.
Bei den Wahlen abgestraft
In den Wahlen im Dezember wurde die Regierung Maduro für ihre verheerende Politik abgestraft. Nach Angaben der venezolanischen Zentralbank betrug die Inflation im vergangenen Jahr 180,9 Prozent und die Wirtschaft schrumpfte um 5,7 Prozent. Die Verbraucher litten unter dramatischen Versorgungsengpässen bei grundlegenden Gütern wie Speiseöl, Maismehl und Milch.
Natürlich ist die Wirtschaft vom Ölpreisverfall gebeutelt. Doch selbst als der Ölpreis noch bei mehr als 100 US-Dollar pro Barrel lag, waren in Venezuela elementare Güter knapp und die Inflation hoch. Hauptursache dafür ist die Überbewertung der venezolanischen Währung Bolivar. 2003 begann Hugo Chávez, den Kurs offiziell festzulegen. In den folgenden zehn Jahren war er oft um 200 bis 300 Prozent höher bewertet, als der Markt es gerechtfertigt hätte. So wurden Importe von Konsumgütern künstlich verbilligt. Das ließ den Konsum kräftig ansteigen, doch gleichzeitig verkümmerte die inländische Produktion und das Land wurde immer abhängiger von Ölexporten als Deviseneinnahmequelle.
Seit Maduro vor drei Jahren ins Amt kam, hat die Überbewertung des Wechselkurses ein absurdes Ausmaß angenommen. Heute liegt der offizielle Wechselkurs zum Dollar zehnmal höher als der auf dem Schwarzmarkt. Das schafft enorme Anreize für Korruption. Strohfirmen werden gegründet, die für Warenimporte Dollars zum offiziellen Kurs erhalten, sie dann aber ins Ausland bringen oder sie mit riesigen Gewinnen auf dem Schwarzmarkt zurücktauschen. Und viele Güter, die mit offiziell eingetauschten, also billigen Dollars gekauft und eingeführt werden – darunter Benzin, Milch, Reis, Maismehl und Speiseöl –, verschwinden danach über die Grenze nach Kolumbien, Brasilien und Guyana. Dort bringen sie zehn- bis zwanzigmal so viel ein wie zu venezolanischen Preisen.
Die Lage hat sich im vergangenen Jahr durch den jähen Verfall des Ölpreises verschärft. Die Regierung konnte immer weniger Devisen offiziell bereitstellen; somit wird weniger importiert. 2015 erhielten Importeure zwei Drittel weniger Dollars als 2014 und drei Viertel weniger als 2013. Gleichzeitig deckte die Regierung ihr Defizit, indem sie Geld in der Landeswährung druckte, das nicht durch Devisenreserven gedeckt ist. In den vergangenen drei Jahren war jedes Jahr 60 Prozent mehr Geld im Umlauf als im Vorjahr. Im Ergebnis übersteigt die Knappheit elementarer Güter 80 Prozent.
Schlangen von "Riesenameisen"
Das bedeutet, dass ein Gut des täglichen Bedarfs – etwa Milchpulver – in acht von zehn Geschäften nicht zu haben ist. Und vor den beiden Läden, in denen es Milchpulver gibt, warten lange Schlangen von Menschen, die es kaufen wollen. Mehr als die Hälfte von ihnen will es weiterverkaufen – eine Praxis, die in Venezuela „bachaqueo“ heißt nach den Riesenameisen, die ein Mehrfaches ihres Eigengewichtes auf dem Rücken tragen können. Üblicherweise wird an Wiederverkäufer verkauft, die etwa zehn- bis zwanzigmal so viel verlangen, wie die Ware ursprünglich gekostet hat. Der Durchschnittsbürger kann also entweder auf dem Schwarzmarkt überhöhte Preise zahlen oder sich stundenlang in eine Schlange stellen, um zu kaufen, was es gerade gibt.
Die Regierung schiebt diese Schwierigkeiten auf den „Wirtschaftskrieg“, den die nationale Bourgeoisie angeblich in enger Absprache mit imperialistischen Kräften in den USA und in Europa führt. Sie wirft Unternehmern vor, die Produktion zu drosseln oder Produkte zu horten, um die sozialistische Revolution in Venezuela zu ersticken. Sogar die „bachaqueos“ werden als Teil dieser Verschwörung gesehen und von Maduro und anderen als Verräter bezichtigt.
Doch die bloßen Zahlen erklären das Problem. Eine Volkswirtschaft, in der es immer weniger Waren und immer mehr Bargeld gibt, der Wechselkurs stark überhöht ist und Preiskontrollen gelten – eine solche Volkswirtschaft kann gar nicht zu etwas anderem führen als zu Knappheit und Inflation. Mehr als drei Viertel der Venezolaner glauben deshalb dem Gerede vom Wirtschaftskrieg nicht.
Schuldendienst oder Ernährung der Bevölkerung?
Da die Opposition sich nicht einigen kann und in der Öffentlichkeit wenig Begeisterung auslöst, scheint sie nun auf eine Regierungskrise zu warten, um Maduro zu stürzen. In der Tat wird die Regierung kaum in der Lage sein, sowohl die Schulden zu bezahlen als auch die Bevölkerung zu ernähren. Analysten schätzen, dass Venezuela bei einem Ölpreis von 30 US-Dollar je Barrel Erlöse von etwa 22 Milliarden US-Dollar im Jahr erzielt. Für den Schuldendienst und die Importe benötigt das Land aber 49 Milliarden US-Dollar – selbst wenn die Importe um mehr als ein Drittel im Vergleich zum Vorjahr verringert werden. Das Defizit würde somit 27 Milliarden US-Dollar betragen.
Hinzu kommt: Venezuela kann den Schuldendienst nicht einfach einstellen und versuchen, ohne internationale Kreditgeber weiterzumachen. Denn die Ölexporte ins Ausland müssen von dort bezahlt werden und das Land hat umfangreiches Vermögen im Ausland, das eingezogen werden könnte. Auch Öltanker mit Rohöl im Wert von mehreren Millionen US-Dollar an Bord könnten beschlagnahmt werden. Die Regierung gibt deshalb dem Schuldendienst Vorrang mit der Folge, dass die Bevölkerung weiter unter Knappheit leidet.
Und bevor die Wirtschaftskrise die Talsohle erreicht, ist eine Stromkrise zu befürchten. Die vom Klimaphänomen El Niño bedingte Trockenheit hat Venezuela 2016 stärker getroffen als je zuvor in diesem Jahrhundert. Wasserkraftwerke liefern fast zwei Drittel des Stroms, und das größte am Guri-Stausee hat in der ersten Aprilwoche den tiefsten jemals gemessenen Wasserstand erreicht – und das zwei Monate, bevor sich mit Beginn der Regenzeit die Lage wieder entspannt. Um Energie zu sparen, hat die Regierung bis Ende Mai die Vier-Tage-Woche ausgerufen. Schon jetzt fällt immer wieder der Strom aus.
Autor
David Smilde
ist „Charles A. and Leo M. Favrot Professor of Human Relations“ an der Tulane University in den USA und Senior Fellow am Washington Office on Latin America.Die Verlierer sind die Venezolaner. Laut der zitierten Umfrage erwarten 90 Prozent, dass das Verhältnis zwischen Opposition und Regierung konfliktbeladen sein wird. Auf die Frage, welche Art Verhältnis zwischen beiden sie bevorzugten, antworten im polarisierten Venezuela erstaunliche 85 Prozent – quer durch alle Lager von Regierung, Opposition und Parteiunabhängigen –, dass sie Zusammenarbeit wünschen, um die Probleme des Landes zu lösen. Venezuela steckt offenbar vor allem in einer Repräsentationskrise: Zwei Seiten kämpfen um die Macht, statt gemeinsam für ein besseres Leben ihre Bürgerinnen und Bürgern zu sorgen.
Aus dem Englischen von Barbara Kochhan.
Neuen Kommentar hinzufügen