Ungläubige werden in den meisten arabischen Ländern mit Argwohn betrachtet. In fünf von ihnen – Katar, Saudi-Arabien, dem Sudan, den Vereinigten Arabischen Emiraten und dem Jemen – wird der Abfall vom Glauben mit dem Tod bestraft. In Ägypten wurden in diesem Jahr drei christliche Teenager wegen Blasphemie zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Sie hatten ein geschmackloses Video gedreht, das eine Enthauptung im Stil der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) zeigen sollte. Indessen verbüßt der ägyptische Fernsehmoderator Islam Behery eine einjährige Haftstrafe, da er mit der Forderung nach religiösen Reformen den Islam „beleidigt“ habe.
Die meisten derer, die in arabischen Ländern wegen Blasphemie verurteilt werden, sind keine Atheisten, sondern Menschen, die unorthodoxe religiöse Ansichten geäußert oder zufällig Anstoß erregt haben. Dass man Zeit und Mühe investiert, um sie zu bestrafen, könnte auf sonderbare Prioritäten schließen lassen – schließlich gibt es auch solche, die im Namen der Religion Menschen töten und zu Krüppeln machen. Arabische Gesellschaften und ihre Regierungen haben jedoch eine große Abneigung gegen jede Form von Nonkonformität. Und Dschihadismus und Atheismus gelten beide als Formen sozialer oder politischer Abweichung. Das erklärt, warum in Saudi-Arabien der „Ruf nach atheistischem Gedankengut“ laut Gesetz ein terroristischer Akt ist. Die Ablehnung Gottes und der Religion wird als ebenso große Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung betrachtet wie der Terror im Namen des Islam.
In jüngster Zeit werden Atheisten im Nahen Osten sichtbarer, insbesondere durch die sozialen Medien. Aber auch ihre Zahl nimmt zu. 2012 untersuchte WIN/Gallup International Religion und Atheismus in 57 Ländern. Das sorgte für besondere Aufregung in Saudi-Arabien, das als Geburtsstätte des Islam für sich in Anspruch nimmt, das frömmste der arabischen Länder zu sein: Von den im Königreich Befragten sagten 19 Prozent, sie seien nicht religiös, und fünf Prozent bezeichneten sich als überzeugte Atheisten.
In Ägypten passt das Aufkommen einer „atheistischen Bedrohung“ in das politische Narrativ der Regierung. Es wird als das verhängnisvolle Ergebnis der zwölfmonatigen Regierung der Muslimbrüder dargestellt. Analog dazu hat Thomas Friedman, Kolumnist der „New York Times“, die Ansicht geäußert, dass der IS zwar Muslime gewinne, für ihn zu kämpfen, aber zugleich andere vom Islam wegtreibe.
Es gibt allerdings nur sehr wenige Anhaltspunkte, die solche Theorien stützen. Schließlich wenden sich Atheisten gegen Religion im Allgemeinen, nicht nur gegen ihre ausgefalleneren Formen. Während der Recherche für mein Buch „Araber ohne Gott“ habe ich viel Zeit mit dem Versuch verbracht, herauszufinden, warum sich manche Araber dem Atheismus zuwenden. Keiner meiner Gesprächspartner führte den Terrorismus oder den Dschihadismus als wesentlichen Grund an. Vielmehr lehnten sie grundlegende Glaubenssätze dieser Religion ab.
Gott ist ungerecht
Der Punkt, den sie am häufigsten als ersten Schritt auf dem Weg zum Unglauben nannten, war die offensichtliche Ungerechtigkeit Gottes. Ihnen war das Bild eines jähzornigen und zuweilen irrationalen Gottes vermittelt worden, der sich fast genauso wie ein arabischer Diktator oder ein altmodischer Patriarch verhält – eine Figur in Menschengestalt, die willkürliche Entscheidungen trifft und anscheinend darauf aus ist, Menschen aus geringstem Anlass zu bestrafen.
Einen Saudi, auf Twitter als „arabischer Atheist“ bekannt, quälte die Frage, warum anständige Menschen, die keine Muslime sind, von Gott bestraft werden sollten. Als er zum Studium in die USA kam, wurde ihm allmählich klar, wie „ähnlich sich alle Religionen“ in ihren grundlegenden Lehren sind. „Im Islam“, sagt er, „lehrt man uns, dass alle, die keine Muslime sind, in die Hölle kommen. Ich hatte jüdische Nachbarn, ein sehr freundliches und liebenswürdiges Ehepaar, und ich fragte mich, warum sie in die Hölle kommen sollten. Und plötzlich begann mein Glaube zu zerbröckeln.“
Der Jemenit Ahmad Saeed fragte in der Schule seine Lehrer, warum Gott Menschen bestraft, nur weil sie nicht an ihn glauben – und fand die Antworten alles anderes als befriedigend: „Sie antworteten mir nur, Gott sage das so und daher dürften wir nicht daran zweifeln.“ Diese Art der Antwort – dass man solche Fragen nicht stellen dürfe – ist in autoritären Gesellschaften üblich. Sie wird auch von anderen Arabern geschildert, die inzwischen die Religion aufgegeben haben. Und sie hat wahrscheinlich mehr als alles andere zu diesem Entschluss beigetragen.
Angesichts der Tatsache, dass mit dem Islam oft die ungleiche Behandlung der Geschlechter gerechtfertigt wird – das diskriminierende Erbrecht und die Unterordnung der Frau unter dem Deckmantel tugendhafter weiblicher „Sittsamkeit“ –, könnte man zu dem Schluss kommen, dass Frauen im Nahen Osten mehr Gründe als Männer haben, die Religion aufzugeben. Einige rebellieren, aber die vom patriarchalen System geschaffenen sozialen Bedingungen machen es schwer, an Auflehnung auch nur zu denken. Die meisten arabischen Frauen sehen für sich keine Wahl zwischen Glauben und Unglauben. Nabila aus Bahrain erklärt: „Frauen stehen enorm unter dem Druck, sich anzupassen. Etwa, wenn es darum geht, wie einen Partner zu finden oder eine Beziehung zu beginnen: Alles wird berechnet, alles wird beobachtet.“
Dass Atheismus im Allgemeinen mit Sittenlosigkeit in Verbindung gebracht wird, schreckt besonders Frauen ab, die religiöse Zweifel haben. Denn in der arabischen Gesellschaft wird von ihnen erwartet, dass sie „tugendhaft“ sind, um „heiratsfähig“ zu sein. „Es ist schwierig, sich als Atheist zu zeigen, weil die Gesellschaft dich sofort für eine Person hält, die keine moralischen Werte oder ethischen Grundsätze hat. Das betrifft vor allem Mädchen“, stellt der Administrator der Facebook-Seite „Arabische Atheisten“ fest. Allerdings sind gesellschaftliche Zwänge dieser Art nicht der einzige Grund, warum viele Frauen immer noch an der Religion festhalten. Für diejenigen, die sich unterdrückt fühlen, kann sie auch ein Trostfaktor sein. Das führt zu einer paradoxen Situation, in der Frauen durch ihren Glauben gleichzeitig unterworfen und gestärkt werden.
Wissenschaftliche Theorien über die Evolution und die Entstehung des Universums sind ein vertrauter Bestandteil des atheistischen Diskurses im Westen. Sie tragen jedoch kaum dazu bei, dass Araber sich von der Religion entfernen. Sie zweifeln zumindest am Anfang nicht daran, dass Gott überhaupt existiert, sondern daran, dass er so sein kann wie von den organisierten Religionen beschrieben. Einige lehnen zwar den Gott des Islam ab, halten jedoch an einem unbestimmten Glauben an irgendeine Art von Gott fest oder bringen eine Sehnsucht nach Spiritualität zum Ausdruck.
Manche Skeptiker treffen die taktische Entscheidung, nicht völlig mit dem Islam zu brechen. Sie bezeichnen sich als Säkularisten, als „progressive“ Muslime oder muslimische „Reformer“. Sie glauben, dass sie mehr erreichen können, wenn sie repressive religiöse Praktiken infrage stellen und nicht die Existenz Gottes, da man ihnen wohl nicht zuhören würde, wenn sie als Atheisten bekannt wären.
Der Koran gilt als heilige Schrift mit höchster Autorität
Die Stellung des Koran ist eine besonders wichtige Frage, sowohl für die Anhänger als auch für die Gegner des Islam. Während Christen in der Regel glauben, dass die Bibel von Gott inspiriert, aber von Menschen verfasst wurde, ist der Koran angeblich tatsächlich das Wort Gottes, wie es dem Propheten Mohammed vom Engel Gabriel offenbart wurde. Fortschrittliche Spielarten des Islam verstehen den Koran im Allgemeinen in seinem historischen Kontext. Sie argumentieren, dass Regeln, die zur Zeit des Propheten galten, heute angesichts veränderter Gegebenheiten neu interpretiert werden können (und sollten). Aber das setzt natürlich immer noch voraus, dass der Koran als heilige Schrift mit höchster Autorität akzeptiert wird.
Für Atheisten mit einem muslimischen Hintergrund scheint es häufig von größerer Bedeutung zu sein, die Authenzität des Koran und des Propheten in Zweifel zu ziehen, als Gott infrage zu stellen – und das hat eine lange Tradition. Zwei bedeutende Persönlichkeiten des neunten und zehnten Jahrhunderts, Ibn ar-Rawandi und Abu Bakr ar-Razi (beide Perser), wurden oft als Atheisten eingeordnet, obwohl es zutreffender wäre, sie als antiprophetische Rationalisten zu bezeichnen. Sie befassten sich weniger damit, ob Gott existiert. Sie standen Propheten, einschließlich Mohammed, sehr skeptisch gegenüber.
Da verschiedene Personen behaupteten, Propheten zu sein, legte die Logik nahe, dass sie nicht alle einen heißen Draht zu Gott gehabt haben konnten. Daher war die Frage, welche von ihnen – wenn überhaupt – echt waren. Damals wie heute stützen sich die Argumente von Ungläubigen eher auf Logik und wahrgenommene Irrationalität der religiösen Lehre als darauf, die Beweise für Gottes Existenz anzuzweifeln.
In diesem Punkt scheinen sich die Traditionen des Atheismus als Reaktion auf den Islam und des Atheismus als Reaktion auf das Christentum in verschiedene Richtungen entwickelt zu haben. Während es eine lange Geschichte von Konflikten zwischen Wissenschaft und Christentum gibt, haben Muslime wissenschaftliche Entdeckungen nicht generell als Bedrohung ihres Glaubenssystems betrachtet. Es gibt kein islamisches Äquivalent zu dem berühmten Vorfall von 1633, als der italienische Wissenschaftler Galileo Galilei von der römisch-katholischen Kirche gezwungen wurde, seine „ketzerische“ Überzeugung zu widerrufen, dass die Erde sich um die Sonne dreht. Der Eifer, mit dem sich Muslime im Lauf der Geschichte mit Wissenschaft beschäftigten, hing zumindest teilweise mit ihrem Glauben zusammen. Von besonderem Interesse war die Astronomie, denn sie benutzten einen Mondkalender und mussten bestimmen, in welcher Richtung Mekka liegt, wenn sie beteten.
Die Veröffentlichung von Charles Darwins Buch „Über die Entstehung der Arten“ im Jahr 1859 rief bei Muslimen eine gemischte, aber nicht ausgesprochen feindselige Reaktion hervor. Einige, unter ihnen der Großmufti von Ägypten, sahen mit Freude die Probleme, die Darwins Theorie für das Christentum mit sich brachte. Sie behaupteten, im Islam gebe es kaum Konflikte über Wissenschaft und daher könne er mit solchen Dingen besser fertig werden.
Muslimische Kritik an der Evolution
Heute nimmt der muslimische Widerstand gegen den Darwinismus zu. Die Ursachen dürften in den Trends zu religiösem Konservatismus und wörtlicher Auslegung der heiligen Schrift liegen, vor allem seit den 1970er Jahren. Die heutige muslimische Kritik an der Evolution ist zudem stark von Ideen amerikanischer Kreationisten beeinflusst. Als Folge davon hat sich die Evolution zu einem Gebiet entwickelt, auf dem sich arabische Schulen, Universitäten und Medien nur vorsichtig und oftmals zaghaft bewegen, aus Angst vor Beschwerden.
In der Schule im Jemen, erinnert sich Ahmad Saeed, wurde seiner Klasse gesagt, sie solle im Biologiebuch das Kapitel über die natürliche Auslese ignorieren – auf Anweisung des Bildungsministeriums. Ramast, ein ehemaliger Christ, erzählt, dass ihm in der Schule in Ägypten die Evolution als „eine Theorie“ vorgestellt wurde, „die richtig oder falsch sein könne“. Die daraus resultierenden mangelhaften Kenntnisse über die Evolutionstheorie in der arabischen Öffentlichkeit liefern die Erklärung dafür, warum so wenig über diese Theorie diskutiert wird, selbst unter Atheisten.
Doch im Nahen Osten ist die Gottesfrage weit mehr als ein Gegenstand intellektueller Debatten. Weil Politik und Religion so eng miteinander verflochten sind, kann ein kritisches Hinterfragen der Religion auch eine Infragestellung der Politik bedeuten. Die meisten arabischen Regime berufen sich auf die Religion als Ausgleich für ihren Mangel an Legitimation durch Wahlen. Sie übernehmen und fördern die Variante des Islam, die ihnen hilft, sich selbst zu erhalten.
Autor
Brian Whitaker
ist Journalist und Autor mehrerer Bücher über den Nahen Osten, zuletzt „Arabs without God“ (2014). Er bloggt unter www.al-bab.com. Eine längere Version des Beitrags ist bei „The Humanist“ erschienen.Im Extremfall Saudi-Arabiens ist es unmöglich, ein überzeugter Atheist zu sein, ohne zugleich auch gegen das politische System zu opponieren. Im Grundgesetz des Königreiches heißt es, dass „die Regierung in Saudi-Arabien ihre Macht vom Heiligen Koran und der Tradition des Propheten bezieht“ und dass die saudische Gesellschaft „auf dem Grundsatz der Befolgung von Gottes Gebot gründet“. Gegenwärtig sind die Araber, die ihre Religion ablehnen, natürlich zu wenige, um eine tatsächliche Gefahr für diese Regimes darzustellen. Und die wollen, dass das so bleibt.
Aus dem Englischen von Elisabeth Steinweg-Fleckner.
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