Es kommt aus den Anden und kursiert seit einiger Zeit auch in Europa: Das Konzept vom „guten Leben“. Es basiert auf der Weltanschauung der indigenen Andenkulturen und hat Eingang gefunden in die neuen Verfassungen Ecuadors und Boliviens. In Ecuador gibt es sogar ein Ministerium dafür, dem der Journalist Freddy Ehlers vorsteht. Er definiert das Konzept so: „Gut zu leben heißt, bewusst zu leben, und das erlaubt uns, glücklicher zu leben“, sagt der 70-Jährige in seinem Büro in Quito. „Das ist zunächst ein sehr persönliches Thema. Doch das persönliche Glück braucht ein Umfeld, um zu erblühen.“ Und da beginnt die Politik.
Die Gemeinde Nabón am Südhang der ecuadorianischen Anden war die erste, die dem Konzept vor 15 Jahren Leben eingehaucht hat. In der ländlichen Gegend wohnen verstreut auf 668 Quadratkilometern rund 18.000 Menschen – Mestizen, Indigenas und Weiße. Zur Jahrtausendwende war Nabón laut Volkszählung eine der rückständigsten Gegenden Ecuadors: 93 Prozent der Bevölkerung waren arm, Kinder gingen im Durchschnitt nur drei Jahre zur Schule, und zwei Drittel von ihnen waren unterernährt. 2015 jedoch hat die Gemeinde alle Millenniumsentwicklungsziele der Vereinten Nationen erreicht.
Der Wandel begann mit der Wahl der ersten Frau an die Spitze der Gemeinde im Jahr 2000. Amelia Erraez Ordóñez stellte die patriarchalischen und klientelistischen Strukturen auf den Kopf. „Wir haben allen Bürgern ihren Platz in der Politik gegeben, auch den Frauen, ohne die Männer zu verdrängen“, sagt sie. Nach den zwei gesetzlich erlaubten Amtsperioden wurde sie von ihrer Vizebürgermeisterin Magali Quezada abgelöst, die seit 2009 mit derselben Haltung weiter regiert.
Drei Elemente sind für das „gute Leben“ essenziell: „Erstens, uns als Gemeinschaft zu verstehen, ohne dabei die Rechte des Einzelnen abzustreiten. Zweitens, Respekt vor der Natur, und drittens die Spiritualität, also verstehen, dass alles mit allem zusammenhängt“, sagt der Ökonom Alberto Acosta, einer der Vordenker des Konzepts. Doch wie funktioniert das praktisch? „Wir versuchen, die Bürger zu beteiligen, die heimische Produktion zu fördern und Entscheidungen, die uns betreffen, auf der kommunalen Ebene zu fällen“, erläutert Quezada von der Indigena-Partei Pachakutik. Es ist nicht einfach, das durchzusetzen. Ecuador ist extrem hierarchisch und zentralistisch organisiert. Die Bürokratie errichtet zwischen Nabón und Quito nicht nur fast unüberwindliche Hürden, sondern ist auch ein Quell der Korruption und ein Entwicklungshemmnis.
Jeder entscheidet selbst, wo das Geld hingehen soll
„Anfangs war der Wassermangel das größte Problem für die Bauern“, erzählt Quezada. „Es gab kein fließendes Wasser, und ich musste schon als Kind täglich fast zwei Kilometer zur nächsten Wasserstelle laufen.“ Doch es erwies sich als schwierig, Geld für die Verlegung von Wasserleitungen aus Quito zu bekommen. Schließlich sprang vor 15 Jahren die Schweizer Entwicklungshilfe ein. Im Gegenzug verlangten die Schweizer schon damals, dass die Bevölkerung mitarbeitet und sich an den Entscheidungen beteiligt. Für die meisten der Bauern, die kaum lesen und schreiben konnten, war das eine hohe Hürde – aber zugleich ein Ansporn. „Als wir das Projekt erfolgreich abgeschlossen hatten, hatten wir uns verändert“, erinnert sich Quezada. „Wir waren selbstbewusster geworden und hatten gelernt, unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, ohne auf Entscheidungen aus Quito zu warten.“
Institutionell gefestigt wurde das gewachsene Selbstbewusstsein der Einwohner von Nabón im Bürgerhaushalt. Jeder Weiler darf selbst entscheiden, was er mit den für Investitionen vorgesehenen Mitteln im Haushalt machen will. „Das stellt die klientelistische Logik der Politik auf den Kopf“, sagt Quezada, also die auf beiden Seiten verankerte Einstellung, dass Politiker den Wählerinnen und Wählern Geschenke machen und damit auf deren Stimmen zählen können. Einfach war es nicht. Zunächst dominierten auf den Versammlungen die Machos, die etwa den Bau von Festsälen forderten – Investitionen, die nicht unbedingt im Interesse der Allgemeinheit waren. „Wir haben dann einen technischen Koordinator ernannt, der die Gemeinden im ganzen Prozess unterstützt, und jetzt werden nachhaltigere und solidarischere Entscheidungen getroffen“, sagt die Bürgermeisterin.
Rechte bringen Pflichten mit sich. Die Bürger dürfen entscheiden, müssen aber auch mit anpacken. Auch für die Reinigung und Wartung der neuen Bewässerungskanäle und Versammlungsräume sind sie zuständig. Die Politiker müssen sich ebenfalls umgewöhnen. „Jeder Cent, den ich ausgebe, wird hinterfragt“, sagt Quezada. „Einmal“, erinnert sie sich, „hat der Gemeinderat Vorgaben aus dem Bürgerhaushalt eigenmächtig verändert. Am nächsten Tag standen 200 Leute vor dem Rathaus und haben die Gemeinderäte so zur Schnecke gemacht, dass sie seither nicht mehr gewagt haben, auch nur ein Komma zu verändern.“
So viel Mitsprache gefällt den wenigsten Politikern. Präsident Rafael Correa, der auf der internationalen Bühne gerne mit dem „guten Leben“ wirbt, tut sich schwer mit selbstbewussten Untertanen. Bürgermeisterin Quezada streitet gerade mit dem Transportministerium in Quito, weil es ihr die Zuständigkeit für die asphaltierte Überlandstraße entreißen will. Dabei wird die von der Gemeinde bestens in Schuss gehalten – gegen eine kleine Mautgebühr von umgerechnet 50 Eurocent pro Fahrt für alle Nutzer. Sie wurde gemeinschaftlich beschlossen, damit sie die Taschen der Anwohner nicht zu sehr belastet.
Die Bürger von Nabón sträuben sich auch gegen den Bau einer modernen „Schule des Jahrtausends“ mit Computern, Internet und zweisprachigen Klassen auf Spanisch und Englisch. Das ist ein Lieblingsprojekt von Correa, der selbst in den USA studiert hat und das dortige Bildungssystem bewundert. „Die Indigenas halten an ihren interkulturellen Schulen fest, die ihrer Lebensphilosophie und Kultur mehr entsprechen“, sagt Quezada. Das sei nicht fortschrittsfeindlich, sondern der Versuch, den Fortschritt zu kontrollieren und sich nicht von ihm überrollen zu lassen.
Frischkäse verkaufen wird zum bürokratischen Hürdenlauf
Auch die regionale Wirtschaft hatte Anlaufschwierigkeiten. Als die Bauern begannen, aus ihrer Milch einen Frischkäse zu machen und in der Region zu vermarkten, verlangte das Gesundheitsministerium dafür Hygiene-Gütesiegel. Ein bürokratischer Hürdenlauf, den die Einzelnen nur mit Hilfe der Gemeinde absolvieren konnten, die bei den zuständigen Ministerien und Behörden vorstellig wurde und politisch Druck ausübte.
Dass der Markt gnadenlos ist und in der Regel die großen Oligopole dort die Regeln diktieren, musste auch Remigio Capelo erfahren. Der Bauer stellt aus Agavensaft einen süffigen Digestiv her, den er „Chagñarmisqui“ genannt hat. Monatelang war er auf der Suche nach einer Flasche, die nicht schon von den großen Alkoholherstellern patentiert war. Um das Sanitätslabel zu bekommen, forderte das Ministerium zunächst die ständige Präsenz eines Lebensmittelchemikers in seinem Produktionsschuppen. Diese Auflage konnte nur durch gute Beziehungen zu einem Funktionär abgewendet werden.
Wie man die Effekte des „guten Lebens“ messen kann, ist bislang offen. Die ecuadorianische Regierung versucht derzeit, zusammen mit den Vereinten Nationen und anderen Ländern wie Bhutan einen Indikatorenkatalog zu erstellen. Neben klassischen Daten wie Einkommen, Infrastruktur und Wohlstandsverteilung sollen dabei auch Dinge gewertet werden wie die Mobilität und der öffentliche Nahverkehr, die Grünflächen pro Kopf, die Biodiversität oder die Zahl von Pflege- und Freizeiteinrichtungen für Kinder und Alte.
In Nabón hat die Universität von Cuenca 2012 den Fortschritt mit einem „multidimensionalen Armuts-Index“ gemessen. Auch wenn die Einkommen weiter unter dem Landesdurchschnitt liegen – zwei Drittel der Anwohner gelten danach als arm –, hat es Fortschritte bei der staatlichen Infrastruktur gegeben. Nahezu alle Bewohner verfügen über einen Stromanschluss und fließendes Wasser, zwei Drittel haben einen Abwasseranschluss. Alle Einwohner in Nabón können lesen und schreiben, es ist führend bei der Produktion organischer Lebensmittel, und die Müttersterblichkeit wurde fast auf null reduziert, weil die traditionellen Hebammen ihre Arbeit wieder aufgenommen haben.
„Es gibt Dinge, die schwer messbar sind, aber von unschätzbarem Wert“, sagt der Sozialdezernent Gustavo Morocho aus der indigenen Gemeinde von Shiña. „Wir schlafen mit offenen Türen, haben sauberes Wasser, saubere Luft und gesunde Lebensmittel.“ 15 Polizisten reichen aus, um in der Kerngemeinde, in der 7000 Menschen leben, für Ordnung zu sorgen. Bei Umfragen geben fast 90 Prozent der Bürgerinnen und Bürger an, dass sie gerne in Nabón wohnen und zuversichtlich in die Zukunft blicken.
Autorin
Sandra Weiss
ist Politologin und freie Journalistin in Mexiko-Stadt. Sie berichtet für deutschsprachige Zeitungen und Rundfunksender aus Lateinamerika.Lebensqualität gibt es in Nabón auch für diejenigen, die nicht wirtschaftlich produktiv sind: Kinder und ältere Menschen. Zum Beispiel Francisco Naula. Der 67-Jährige ist nach einer Hüftoperation nicht mehr so gut zu Fuß. Trotzdem verlässt er jeden Morgen mit seinen Krücken das Pflegeheim der Gemeinde, um seinen Gemüsegarten zu bewässern und seine Meerschweinchen zu füttern, die in den Anden traditionell verspeist werden und wichtige Proteinlieferanten sind. „Ich komme hier auf andere Gedanken. Es ist nicht gut für den Kopf, wenn man nur untätig herumsitzt“, sagt der Witwer mit einem strahlenden Lächeln, während er in aller Ruhe seinen Kartoffelacker jätet.
Wie die meisten Bauern beackert er sein Feld ökologisch. Fast alles Gemüse sowie Obst, Milch und Eier werden vor Ort verkauft; die Bauern beliefern auch das Pflegeheim und die Schulen.
Die Überschüsse werden in der nahen Stadt Cuenca vermarktet; einige Genossenschaften produzieren Milch für die Großmolkerei Parmalat oder Bio-Erdbeeren für Supermärkte in Cuenca. Inzwischen ist es auch gelungen, die Zwischenhändler auszuschalten, die den Erzeugern viel zu wenig zahlen, um die eigene Gewinnspanne zu erhöhen. „Die Selbstversorgung mit ökologisch angebauten Lebensmitteln aus der Region ist ein wichtiges Element des guten Lebens, weil dadurch ein positiver Entwicklungskreislauf in Gang gesetzt wird“, sagt Quezada. Die Bauern haben einen Absatzmarkt, und die Bevölkerung ernährt sich gesund. Das Geld bleibt in Nabón.
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